Tanith Lee Cyrion Cyrion - Poet, Sänger, Söldner und Schwertkämpfer - der ungewöhnlichste Held der Fantasy. ISBN: 3404200608 Lübbe, Berg.-Gladb Originaltitel: Cyrion übersetzt von Eva Eppers Erscheinungsdatum: 1984 Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!! Vorwort – Der Honiggarten Der dickliche junge Mann mit dem leuchtend rötlichgelben Haar verursachte einen gehörigen Aufruhr, als er das Gasthaus betrat. Und ganz ohne Absicht. Geblendet von dem hellen Sonnenlicht in den Straßen, übersah er eine der drei Eingangsstufen. Als er sich mit einem unfreiwilligen Satz vor den Folgen seines Irrtums zu bewahren suchte, prallte er gegen den ahnungslosen Mann, der gerade mit zwei Flaschen Wein in der Hand vorüberging. Mit einem zweistimmigen Überraschungs- und Schmerzensschrei stolperten beide in die Arme der bronzenen Quirri, die den Eingang bewachte. Und betätigten natürlich den Gong, der an ihrer Hand hing. Ein lautes Dröhnen hallte durch das Gebäude, gefolgt von dem Klirren erst einer Weinflasche, dann der zweiten Weinflasche. Ein seidener Vorhang, der beiseite geschoben wurde, gab den Blick auf den Hauptraum der Schänke und auf zwei kampfbereite Gäste männlichen Geschlechts frei. Der eine war ein untersetzter Bursche mit schwarzen Augenbrauen, der andere ein blonder Westländer, dessen Rüstung einen Soldaten vermuten ließ, wozu auch der Dolch paßte, den er rein gewohnheitsmäßig schon gezogen hatte. Aus einem Gang kam auch der Wirt he rbeigestürzt. Zu ihren Füßen zappelten die beiden Gestalten und schlugen matt um sich. »Bringen sie sich gegenseitig um?« »Der Halunke hat meinen armen Sklaven angegriffen!« Der dunkelhaarige Mann mit dem Abzeichen eines Baumeisters griff ein und zerrte den rothaarigen jungen Mann nach einer Seite, während der halbbetäubte Sklave nach der anderen Seite rollte. Der Wirt beugte sich über ihn und flötete: »Sag doch was, Esur. Stirbst du? Wo sich der Preis für Sklaven eben erst ve rdoppelt hat.« -2- Der Soldat hatte seinen Dolch wieder weggesteckt. Mit einem belustigten Ausdruck auf seinem hübschen, bärtigen Gesicht meinte er: »Ein Versehen, glaube ich.« Er drehte sich um und kehrte in den Gastraum zurück. Mit schamroten Wangen begann der dickliche Jüngling sein Mißgeschick zu erklären und zog Geld heraus, um für den vergossenen Wein und den umgestoßenen Sklaven zu bezahlen. Der Baumeister sah zu und spielte mit der Goldmünze in seinem Ohr. Nachdem er sich von der Unversehrtheit des Sklaven überzeugt hatte, nahm der Wirt jetzt die bronzene Quirri in Augenschein. Diese Nachbildung einer heidnischen Statue der Bienengöttin – von den Remusanem eingeführt, als sie vor Jahrhunderten die Stadt eroberten – war das Wahrzeichen seines Gasthauses, das unter dem Namen›Der Honiggarten‹bekannt war. Der Wirt tastete die Statue mißtrauisch ab, war’s zufrieden, versetzte dem Sklaven einen Tritt, nahm das angebotene Geld und beschloß die ganze Sache zu vergeben und zu verge ssen. »Ihr seid willkommen, Herr. Der Honiggarten, die beste Schänke in ganz Heruzala, steht zu Eurer Verfügung. Womit können wir Euch dienen?« Rotschopf wischte sich den Schweiß von der Stirn und bestellte frischen Wein. »Und mariniertes, gebratenes Zicklein, mit Honig glasiert – unsere Spezialität…« »Später«, wehrte der dickliche junge Mann ab. »Inzwischen…« »Ja?« »Ich suche einen Mann. Einen bestimmten Mann. Mir wurde gesagt, ich könnte ihn hier antreffen.« »Sein Name, werter Herr?« »Cyrion.« Der Wirt legte sein Gesicht in Falten. -3- »Den Namen habe ich schon gehört. Ein Schwertkämpfer, nicht wahr? Wir legen keinen Wert auf Raufbolde.« »Ein Schwertkämpfer, aber reich«, bemerkte der Baumeister leise. »Ihr kennt ihn?« forschte Rotschopf. »Ich habe von ihm gehört.« »Er ist in Heruzala bekannt?« »Vielleicht. Außerdem noch an einigen anderen Orten, nehme ich an.« »Man sagt«, meldete sich eine weibliche Stimme zu Wort, ein rauchiger Alt, »daß er aussieht wie ein Engel.« Der Baumeister, der Wirt und Rotschopf starrten hinter einer hochgewachsenen, anmutigen Frau her, die nach dieser flüchtig hingeworfenen Bemerkungen an ihnen vorbei und die Treppe zur Straße hinaufging. Ihr mitternachtsdunkles Haar war reich mit Perlen durchflochten, und der Duft ihres schweren Parfüms, der in der Luft hängenblieb, fesselte die Männer noch geraume Zeit. (Anders als der letzte Ankömmling verfehlte sie keine der Stufen.) Eilfertig folgte ihr eine Dienerin. »Wie Ihr seht«, bemerkte der Wirt, »verkehrt bei uns nur die allerbeste Kundschaft. Aber wenn er – wie Ihr behauptet – reich und wohlerzogen ist, dieser Schirrien, dann könnte er schon hier eingekehrt sein…« »Cyrion«, berichtigte der dickliche junge Mann. Er musterte den Baumeister aus entschlossenen, wenn auch unzweifelhaft kurzsichtigen Augen. »Wenn Ihr mir sagt, was Ihr wißt, werde ich Euch mit Gold belohnen.« »Tatsächlich? Ich weiß aber nur sehr wenig.« Aber Rotschopf drängte ihn zurück in den Gastraum, und mit einem resignierten Kopfnicken führte der Baumeister ihn an den Tisch, an dem er vor dem Zwischenfall gesessen hatte. Auf dem Tisch befanden sich Blätter mit architektonischen -4- Zeichnungen, ein Federhalter, Tinte und ein kleines Reche nbrett. Es war ein gemütliches Plätzchen zum Arbeiten. Ein hohes Fenster sorgte für ausreichendes Licht, und in einem nahen Käfig sang ein Vogel. Der große, geschmackvoll eingerichtete Raum mit den blaugetünchten Wänden beherbergt e an diesem Morgen nur wenige Gäste. In einer Ecke hatte der Soldat es sich wieder bequem gemacht und widmete sich seinem Wein. Weiter hinten debattierten in einer Nische zwei dunkelgewandete Männer mehr als lebhaft über die Schriften des Propheten Hesuf. Sie achteten nicht auf den Neua nkömmling und auch nicht auf den Wein, der ihnen gebracht wurde. Rotschopf setzte sich. »Mein Name ist Roilant.« Juwelen funkelten an Kragen und Fingern, und in dem hellen Licht unter dem Fenster war die feine Qualität seiner Kleider zu erkennen, die unter dem kleinen Unglücksfall kaum gelitten hatten. »Der Name meiner Familie ist, soweit es mein Anliegen betrifft, ohne Bedeutung. Allerdings könnt Ihr sicher sein, daß ich durchaus in der Lage bin, Euch zu bezahlen, wenn Ihr mir helft. Ich hoffe, Ihr seid deswegen nicht beleidigt.« »Nein.« Der Baumeister räumte seine Zeichnungen und das Rechenbrett beiseite, als der mürrische Sklave, Esur, einen Weinkrug und zwei Becher auf den Tisch knallte. »Ich ziehe es jedoch vor, meinen Lohn zu verdienen, und bin in diesem Fall nicht sicher, daß ich es kann. Diese Schänke ist recht gut, wie Gasthäuser eben so sind. Aber es ist nicht die beste in Heruzala. In der›Rose‹oder im›Adler‹hättet Ihr größere Aussichten auf Erfolg.« Der Sklave tat knurrend seine Zustimmung kund und bemerkte noch etwas in der Richtung, daß ein gewisser Herr ja versuchen könne, die dort beschäftigten Sklaven herumzuschubsen, die wesentlich unangenehmer werden könnten. Dann hinkte er theatralisch davon. -5- Roilant hörte es nicht. »Aber man sagte mir, er wäre im›Honiggarten‹anzutreffen.« »Nun. Jetzt ist er nicht hier. Ihn zu übersehen dürfte einigermaßen unmöglich sein. Jung, gutaussehend, eisblond und so prächtig gekleidet wie König Malbarf höchstpersönlich, wenn auch mit weit besserem Geschmack.« Der Soldat am Nachbartisch, der die Bemerkung des Baumeisters gehört hatte, grinste. »Armer Malban. Unter der Fuchtel der Königinmutter.« Rotschopf Roilant fuhr auf. »Ich bin dem König vorgestellt worden. Meine Familie ist dem Herrscherhaus von Heruzala in Treue verbunden, und ich möchte Euch bitten…« Seine Bitte wurde von einem plötzlich aufflammenden Streit übertönt. Der ältere der beiden Debattierer in der Nische war aufgestanden und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Diese Zeile, wie jeder gebildete Mensch weiß, wurde falsch aus dem Remusischen übersetzt. Habt Ihr keinen Verstand, junger Mann?« Sein Gegenüber, ein Herr Ende Fünfzig, überhörte den›jungen Mann‹und rief: »Da seid Ihr im Irrtum!« »Ich sage Euch, der Ausdruck›demütig‹ist falsch. Das ist seit Jahren bekannt -« Sie sprachen wieder leiser. Der Soldat hatte seinen Wein ausgetrunken, hielt aber seinen Becher in der Hand, als er zum Tisch des Baumeisters hinüberschlenderte und sich kameradschaftlich neben Roilant niederließ. »Der alte heilige Mann da drüben«, meinte der Soldat, »besitzt ziemlich viele Ringe. Zwar nicht ungewöhnlich bei solchen Leuten wie den Nomaden, die ihren Reichtum bei sich tragen müssen. Aber verwunderlich bei einem Weisen, wofür ich den Mann halte -« -6- »Um auf Cyrion zurückzukommen«, bemerkte Roilant. »Seht Ihr«, sagte der Baumeister, »dieser Euer Cyrion ist schwer zu packen. Und nicht nur ein einfacher Schwertkämpfer, scheint es. Jetzt sagt man, er sei mit einer Karawane unterwegs. Dann studiert er in einer der großen Bibliotheken. Dann wieder überlistet er einen Dämonen auf einem Berggipfel.« Der Soldat setzte die Aufzählung fort. »Jetzt ist er in Heruzala. Dann ist er in Andriok. Dann wieder in der Wüste. Wo jetzt? In Luft aufgelöst.« »Seit zwei Wochen bin ich auf der Suche nach ihm«, bemerkte Roilant. Er, der Baumeister und der Soldat tranken einen tiefen Schluck von Roilants Wein. »Aus einem bestimmten Grund muß ich über seine Fähigkeiten Bescheid wissen. Nicht etwa aus reiner Neugier. Aber alles, was mir zu Ohren kommt, sind Gerüchte.« »Was ich Euch bieten kann, ist nur wenig besser«, erwiderte der Baumeister ernst. »Ich hörte die Geschichte an der Küste. Im Hafen von Jebba.« »Jebba!« rief Roilant. »Wollt Ihr etwa sagen, daß er sich dort befindet?« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber es scheint, daß er hin und wieder dort gewesen ist.« Roilant seufzte. Sein schwaches Kinn sank herab, und der besorgte Ausdruck in seinen Augen vertiefte sich. »Wenn Ihr mir erzählen wollt, was Euch zu Ohren gekommen ist, werde ich zuhören.« »Nun«, meinte der Baumeister, »ich kann nicht garantieren, daß die Geschichte wahr ist. Unter anderem hat sie mit Zauberei zu tun. Vielleicht glaubt Ihr nicht an so etwas.« »Oh.« Roilant erschauerte, und es kostete ihn offensichtlich Mühe, Haltung zu bewahren. »Ich glaube daran.« Der Baumeister und der Soldat schauten sich unwillkürlich -7- an. •Der Baumeister zupfte an der Münze in seinem Ohr. »Ich verlange keine Bezahlung für eine Geschichte. Aber ich werde sie Euch erzählen, weil Ihr daraus einiges über Euren Cyrion erfahren könnt. Sie beginnt in einer Schänke in Jebba, weit besser als diese hier…« Cyrion in Wachs »Cyrion, hüte dich vor diesem Mann.« Cyrions Blick war arglos. »Warum und vor wem?« Mareme, die schöne Kurtisane, senkte rasch die türkis geschminkten Lider. Sie war jung, reizvoll, wohlhabend und dementsprechend schwierig zu gewinnen. Da sie nur für wenige zu haben war, hatte sie einiges über die Gewohnheiten dieser wenigen gelernt, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Schlafzimmers. Diesen hier glaubte sie gut genug zu kennen, um zu wissen, daß gerade Dingen, die er scheinbar nicht beachtete, seine ungeteilte Aufmerksamkeit gehörte. Außerdem hatte sie bemerkt, daß das Spiel Lotus und-Wespe auf dem bemalten Elfenbeinbrett sich zu rasch zu ihren Gunsten entwickelte. Ganz abgesehen davon war es bei Auftreten und Erscheinung des betreffenden Mannes kaum möglich, ihn zu übersehen. Er hatte dunkles Haar und den seidigolivefarbenen Teint, der in dieser Gegend vorherrschte; sein Stirnband war golden und sein scharlachrotes Gewand, so lang wie das eines Gelehrten oder Arztes, mit bizarren goldenen Zeichen bestickt. Drei blaßpurpurne Amethyste tropften von seinem linken Ohr. Ein strahlender Luzifer, so war er in den kühlen Garten der teuren Schänke getreten, gefolgt von zwei menschlichen Schakalen, die offensichtlich seine Leibwache bildeten, ein Paar tückisch -8- dreinblickender Sadisten, zernarbt und gezeichnet von alten Kämpfen und eindeutig begierig nach mehr, als sie sich einen Weg durch Blumenkübel und unglückliche Gäste bahnten. Ihre Hände lagen an den Schwertgriffen, und an den Fingern trugen sie eiserne Dornen. Und niemand setzte sich zur Wehr. Neben ihrem Herrn gingen sie die Treppe hinauf und standen hinter ihm, als er sich setzte. Sein Platz befand sich auf der oberen Terrasse, gleich neben dem Küchenflügel, zwischen Mosaiksäulen und im duftenden Schatten der Orangen- und Zimtbäume. Nur zehn Schritte weiter beugten sich Cyrions silbern schimmerndes und Maremes kohlschwarzes Haupt über ihr kompliziertes Spiel. In dem tiefer gelegenen Hof mit seinen Blumen und dem Palmbaum, der vor der mittäglichen Hitze schützte, waren die Gespräche der Männer und Frauen verstummt und lebten nur flüsternd wieder auf. Die Gäste, die zu Boden gestoßen worden waren, erhoben sich und nahmen schweigend wieder ihre Plätze ein. Und, ungewöhnlich in dieser großen Küstenstadt, wo neugieriges Anstarren zum Leben gehörte wie das Atmen, kaum ein flüchtiger Blick streifte die ungewöhnliche Gestalt. Schließlich eilte der Besitzer der Schänke herbei. Schon aus einer Entfernung von zehn Schritt war die glänzende Schweißschicht auf seinem plötzlich grünen Gesicht zu erkennen. Er verbeugte sich vor dem dunklen Mann. »Womit kann ich Euch dienen, Lord Hasmun?« Der dunkle Mann lächelte. »In Butter gebratene Aale, etwas Quittenbrot. Ein Krug von dem Schwarzen, sehr kalt.« Mit zitternden, kraftlosen Beinen wich der Wirt einen halben Schritt zurück. »Wir haben keine – Aale, Lord Hasmun.« Einer der Schakale zuckte voller Vorfreude, aber mit einem trägen Fingerzeig befahl Hasmun ihm Ruhe. -9- »Dann«, bemerkte Hasmun weich, »besorgt Euch welche, Herr Wirt.« Der Wirt flüchtete so schnell er nur konnte in die Küche. Eine Minute später huschten einige Jungen in den Garten, mit Quittenbrot, eisgekühltem schwarzem Wein aus Jebba und der Nachricht, daß andere den Fischmarkt absuchten. Hasmun probierte den Wein. Die Schakale traten von einem Fuß auf den anderen. Hasmun lachte seidig. »Das vornehme Leben ist nichts für euch, wie? Nun, geht hinaus und spielt ein bißchen auf der Straße, meine Süßen.« Die Leibwache verschwand, aber die Unterhaltung im Garten wurde nicht lebhafter und niemand hob den Kopf. Bis Cyrion aufblickte, um über das Brett mit den Lotus- und Wespe-Steinen hinweg zu fragen: »Warum und vor wem?« »Ich hätte den Mund halten sollen, glaube ich«, erwiderte Mareme sehr leise, »aber ich nahm an, du hättest ihn bemerkt.« »Den Wirt? Oh, wir sind alte Freunde«, murmelte Cyrion. Er schien sich an das Spiel erinnert zu haben und brachte zwei von Maremes Steinen in seinen Besitz, bevor sie den Zug noch durchschaut hatte. Als es ihr gelungen war, meinte sie: »Schön wie die Engel magst du sein, mein Herz, aber leicht durchscha ubar für eine erfahrene Künstlerin der Nacht. Vergiß es, Geliebter.« Cyrion, der das Lotus und-Wespe-Spiel gewonnen hatte, beschloß, Mareme das andere Spiel gewinnen zu lassen, das sie spielten. »Ich habe schon einiges über Hasmun gehört. Aber nicht, warum ich mich vor ihm in acht nehmen sollte.« »Nicht nur du, mein Liebling. Wir alle. Sie nennen ihn den Puppenmacher. Wußtest du das?« »Er macht also Puppen. Zweifellos ein besonders hübsches -10- Geschäft, der Spielzeughandel.« »Nicht solche Puppen, mit denen Kinder spielen«, Maremes Stimme sank zu einem kehligen Flüstern. »Solche Puppen, wie sie ein Magier von jemandem anfertigt, den er töten möchte und deren Leber er dann mit einer Nadel durchbohrt.« »Hasmun ist Apotheker, wenn die Gerüchte ihn auch als Magier bezeichnen. Funktioniert der Trick?« »Trick!« Mareme quiekte, als hätte ihre Stimme sich in die ihrer eigenen za hmen Flugratte verwandelt. »Drei sind schon gestorben, andere, die ihn gereizt hatten, wurden blind oder können nicht mehr gehen. Ah, Gott bewahre mich. Er schaut zu uns her.« Cyrion lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wandte langsam den Kopf. Die Strahlen der Mittagssonne drangen durch die Zweige der Orangenbäume, glänzten auf seinen eleganten, seidenen Kleidern und verwandelten sein Haar in pures Licht. Es war eine passende Gloriole für ein Gesicht, das Mareme mit dem eines Engels verglichen hatte – doch ob von der Art der himmelsbewohnenden oder der gefallenen war ein bißchen schwer zu bestimmen. Hasmun blickte tatsächlich in ihre Richtung, unverhohlen und amüsiert. Als er sich jetzt Cyrions blendendem Lachern ausgesetzt sah, schloß er halb die Augen und genoß die Situation, wie auch Cyrion es zu tun schien. »Ich hörte, wie mein Name erwähnt wurde«, sagte Hasmun. Seine Worte waren in dem gesamten Garten zu hören, wie er es beabsichtigt hatte. Die Gesic hter zwischen den Blumenkübeln wurden noch etwas grauer. »Könnte es sein, daß meine bescheidene Person Euch bekannt ist?« »Jeder kennt Hasmun, den Puppenmacher«, erwiderte Cyrion höflich. Und fügte liebenswürdig hinzu: »Aber grämt Euch nicht, kein Mensch kann etwas für seinen Geruch.« Das sinnliche Vergnügen fiel Hasmun aus dem Gesicht. Es -11- wurde völlig ausdruckslos. Vielleicht war auch das Genuß; eine andere Art von Genuß. »Ich glaube, Ihr seid betrunken«, meinte Hasmun. »Ich glaube, ich bin vollkommen nüchtern«, berichtigte Cyrion, sich erhebend, »denn was ich jetzt zu tun beabsichtige, erfordert eine ruhige Hand.« Cyrion legte die nicht ganz zehn Schritte mit einer Schnelligkeit zurück, die das Auge verwirrte, und noch aus derselben flüssigen Bewegung heraus schien ihm, als er Hasmuns Tisch erreichte, der Krug mit Schwarzem Jebba wie von selbst in die Hände zu springen und seinen Inhalt über den Kopf des Magiers zu entleeren. Getränkt mit der schwarzroten, stark duftenden Flüssigkeit heulte Hasmun wie ein getretener Hund. Dann fuhr er wild in die Höhe, so daß der Tisch samt Geschirr umstürzte. Cyrion war entsetzt, untröstlich. »Wie konnte ich nur so ungeschickt sein -« Lärm brandete auf. Hasmuns Leibwache kehrte zurück. Anscheinend hatten sie sich damit belustigt, ein junges Mädchen vor der Tür der Schänke in Angst und Schrecken zu versetzen, und stürmten jetzt heran, wahrscheinlich mit einem Dankgebet an den Teufel im Herzen. Cyrion wartete gelassen, bis die beiden sich auf der Treppe befanden, und rollte ihnen dann den Weinkrug zwischen die Füße. Einer brüllte auf, verlor den Halt und polterte rücklings zwischen die duftenden Büsche. Der zweite fiel auf ein Knie, richtete sich auf und sprang mit gezogenem Schwert auf die Terrasse. Cyrion griff nicht nach seinem eigenen Schwert, das er an der Hüfte trug. Es schien, als habe er es vergessen. Er duckte sich unter dem ersten wuchtigen Schlag hinweg, vollführte eine lässige Drehung und trat dem Burschen in den Rücken. Der -12- Mann brüllte, stolperte nach vorn und landete in der Weinpfütze, die sich auf dem Steinboden ausbreitete. Der andere Schläger hatte sich inzwischen aus den Büschen herausgearbeitet. Als er erneut die Treppe in Angriff nahm, wobei er sein blankes Schwert und seine stahlbewehrte Faust eindrucksvoll zur Schau stellte, kam der Wirt aus der Küche zum Vorschein, auf beiden Händen eine Platte mit brutzelnden Aalen. Cyrion machte auf dem Absatz kehrt, als ginge ihn die ganze Sache nichts an, griff sich die Platte mit den heißen Meerestieren und der siedenden Butter und schleuderte sie zielsicher über die Schulter in das Gesicht des Leibwächters. Fetttriefend und geblendet verließ der Bursche zum zweitenmal die Terrasse im Rückwärtsgang. Diesmal hatte sein Kopf einen lautstarken Zusammenstoß mit dem steinernen Rand eines Blumentopfes. Darauf trat allgemeine Stille ein. Cyrion glättete seine kostbaren Kleider mit der beringten Linken und der ungeschmückten rechten Hand. Für einen Mann, der mit Wein und Meeresfrüchten um sich geworfen hatte, wirkte er bemerkenswert sauber. Als könnte er sich mit seiner Niederlage nicht abfinden, versuchte der Schläger in der Weinpfütze einen mehr symbolischen Griff nach Cyrions Fußknöchel. Cyrion trat noch einmal zu, mitten in die geöffnete Hand hinein. Irgendwo knackte ein Knochen, ge folgt von einem dünnen Wimmern. Cyrion schenkte Hasmun einen Blick. »Viel Lärm, Meister Apotheker, um ein wenig vergossenen Wein.« Hasmun, naß und nach Wein duftend, hatte ausreichend Zeit gehabt, um Gefühl und Verstand wieder in Einklang zu bringen. Er richtete sich auf, und es zeigte sich, daß er in Größe und Statur Cyrion aufs Haar glich. Aber ihr Äußeres war so gegensätzlich wie Licht und Schatten. »Wähle«, sagte Hasmun zu dem Leibwächter mit dem -13- gebrochenen Handgelenk. »Schweig oder stirb.« Das Wimmern verstummte. »Du allerdings«, fuhr Hasmun fort, »wirst in jedem Fall sterben.« »Wie die Priester sagen, ist das Leben nicht mehr als das süße kurze Flackern einer Kerze, ausgelöscht vor dem Dunkel der Ewigkeit«, erwiderte Cyrion philosophisch. »Du irrst dich«, sagte Hasmun. Obwohl ihm der Wein in die Augen tropfte, brachte er ein Lächeln zustande. »Dein Auslöschen wird lange dauern, und von Süße wirst du nichts merken. Heute nacht wird es beginnen. Wenn du mit eigenen Augen sehen möchtest, wie ich dich zerbrechen kann, dann komm in meine Apotheke. Deine Hure wird dir den Weg beschreiben können.« Und er nickte Mareme zu, die sich die gepuderten Händen vor das bemalte Gesicht hielt. Das grelle Tageslicht färbte sich rot. Die Sonne versank im Meer. Jebba wurde zu einer Stadt aus Bernstein am Ufer eines goldenen Ozeans. Dann wanderte die Dämmerung aus der Wüste über den Himmel und verdunkelte die Fenster von Maremes kostbar ausgestatteter Wohnung. Cyrion lag ausgestreckt auf dem seidenen Bett, als makelloses Modell für einen jungen Gott, nackt, wunderschön und leicht berauscht. Mareme saß neben ihm und zupfte unruhig an den seidenen Decken. »Hast du keine Angst?« platzte sie plötzlich heraus. »Oh, ich dachte, ich hätte dich Hasmun vergessen lassen.« Tatsächlich konnte er sie für eine Zeitlang alles vergessen lassen. Schon die Berührung seiner Hand auf ihrem Gesicht hatte die Macht dazu. Seit dem Augenblick, als sie ihn vor einem Jahr gesehen hatte, einem zufälligen Zusammentreffen, beherrschte er nicht nur ihr Herz, sondern auch ihren Verstand. -14- Bei anderen war sie schlau und kaltblütig genug, hatte es immer sein müssen. Aber nicht bei Cyrion. Sein Geld hatte sie immer zurückgewiesen. Dafür sandte er ihr regelmäßig Geschenke. Seine Gewissenhaftigkeit ärgerte sie. Sie wollte von ihm geliebt, nicht bezahlt werden. Einmal, dummerweise, hatte sie versucht, sich einen Liebestrank zu verschaffen, aber der erhoffte Erfolg war ausgeblieben. »Wie könnte ich Hasmun vergessen?« fragte sie jetzt. »Hör zu, mein Gebieter, ich habe dir nicht alles gesagt. Seine Apotheke liegt in der Straße der Drei Mauern. Geht man daran vorbei, kann es vorkommen, daß eine Puppe mit menschenähnlichen Formen in seinem Fenster liegt, wie um seine handwerklichen Fertigkeiten zur Schau zu stellen. Und in der Puppe stecken juwelenverzierte Nadeln. Plötzlich steckt dann eine Nadel in ihrem Herzen, jemand wird begraben, und die Puppe verschwindet aus dem Fenster.« »Davon habe ich schon gehört«, meinte Cyrion. »Hat niemals jemand versucht, dort einzudringen, die Puppe zu stehlen und die Nadeln zu entfernen?« »Wie könnte das gelingen, während der Magier wacht? Und selbst wenn er sich zurückzieht, um zu schlafen, bewachen zehn seiner menschlichen Bestien das Haus.« Cyrion griff nach dem Becher aus blauem Kristall, der an seiner Seite stand, während die Sterne, so unzugänglich wie er, vor dem Fenster ihre Pracht entfalteten. »Sag mir«, fuhr Cyrion fort, »weißt du, wie er seine Puppen herstellt?« »Wer in Jebba weiß das nicht? Hasmun prahlt mit seiner Kunst. Er benötigt nichts von seinem Opfer, muß es nur einmal gesehen haben. Er formt die Puppe nach der Erscheinung dessen, dem er schaden will, und belegt sie dann mit einem grausamen Zauber, der Mann und Puppe verbindet. Während der Zauber wirksam ist, foltert er die Puppe mit seinen Nadeln. -15- Dann löst er den Zauber wieder. Ohne den Zauber ist die Puppe leblos, nur eine Puppe. Der Mann spürt keine Schmerzen mehr, faßt neuen Mut, glaubt, Hasmun hätte ihm vergeben. Dann erneuert Hasmun den Zauber und quält ihn weiter, bis er ein Krüppel ist oder schreiend stirbt. Und mit diesem Mann, mein weiser Gebieter, hast du einen Streit angefangen. Warum?« »Ich bin«, erklärte Cyrion bescheiden, »ein Masochist.« In den Fenstern spiegelte sich das Licht der Sterne. Die Flugratte in ihrem goldenen Käfig verlangte zwitschernd, herausgelassen zu werden. Von der zarten, grauweißen Färbung einer Taube, mit runden Ohren, feingezeichnetem Gesichtchen und großen, goldenen Augen, war die Flugratte die zweite Liebe Maremes. Obwohl es so winzig war, führte sie das Tierchen manchmal an einer langen Leine auf den oberen Straßen Jebbas spazieren. Seine Angewohnheit, funkelnde Dinge zu stibitzen, hätte unangenehme Folgen haben können, hätte nicht Mareme, die mit allen Wassern gewaschen war, es verstanden, daraus Nutzen zu ziehen. Oft, in zurückliegenden, weniger üppigen Tagen hatte sie die Flugratte die achtlos fallengelassenen Kleider ihrer Kunden plündern lassen, um den Betreffenden dann nachzueilen und die entwendeten Gegenstände mit einer liebreizenden Entschuldigung für ihr Haustier zurückzugeben. Daher rührte ihr nicht so ganz berechtigter Ruf der Ehrlichkeit. Mareme erhob sich vom Bett und ließ die Flugratte aus dem Käfig. Sie hüpfte sofort zu ihrem Kosmetiktisch, wo sie zwischen den hohen Onyxk rügen mit Puder, verschiedenfarbigen Cremes und schwarzem Kohl sitzenblieb und sich hin und wieder in dem Spiegel aus kostbarem, silbergerahmten Glas betrachtete – Cyrions letztes Geschenk. Die Kristallkaraffen und die kleine, glitzernde Nagelfeile hatte Mareme vor ihren gierigen Blicken in Sicherheit gebracht. Einmal hatte Cyrion das winzige Geschöpf dabei beobachtet, wie es einen Smaragdreif, der doppelt so groß war wie es selbst, zu seinem Nest in den Käfig schleppte und dann zurückkam, um -16- sich auch noch die Perlen aus der Schmuckschatulle zu holen. Mareme kniete neben Cyrion nieder. »Was wirst du tun, Cyrion?« Es wurde rasch dunkel und die Lampen waren noch nicht entzündet. Zuerst bemerkte sie die Blässe seiner Lippen nicht, den starren Blick seiner Auge n. Dann sagte er leichthin: »Vor einer halben Minute hätte ich noch gesagt, ich wolle abwarten, ob Hasmun seine Drohung wahrmachen kann. Aber ich brauche nicht mehr zu warten. Er kann.« Mareme erschauderte. »Was ist es?« wisperte sie. »Hast du Schmerzen?« »Ein wenig. Ich nehme an, eine seiner verdammten Nadeln steckt in meinem wächsernen Fußgelenk.« Er schloß die Augen und öffnete sie wieder. Sein Gesicht war bleich unter der leichten Bräune, aber gefaßt. Plötzlich holte er tief Atem und meinte gleichmütig: »Eine Demonstration. Er verzichtet auf die Nadel und gönnt mir einen Augenblick der Erholung, bevor er das Spiel wiederaufnimmt. Aber nicht für lange, vermute ich. Er will, daß ich ihn morgen in seinem – Spielzeugladen besuche. Und um Vergebung und – und Gnade flehe.« Diesmal war die leichte Unsicherheit in seiner Stimme das einzige Anzeichen für den Schmerz, den er empfand. »Wie kann ich dir helfen?« weinte Mareme. »Auf die übliche Art wohl nicht«, murmelte er. »Nimm die Leier und spiele mir etwas vor. Sagt man doch, daß Musik jeden Schmerz lindern kann. Laß uns versuchen, ob es stimmt.« Längs der drei weißen Mauern, nach denen die Straße benannt war, verbreiteten Feigen-, Palm- und Blütenbäume Duft und friedvollen Schatten. In der Mittagshitze lag die Straße menschenleer und unschuldig, und auf halbem Wege, zwischen -17- den Höfen der Goldarbeiter und der Seidenhändler, gähnte der Eingang zu Hasmuns Apotheke. Die Tür stand offen. Ketten aus blauen Keramikperlen hingen über dem Eingang. Im Inneren wallten Weinrauchschwaden aus einer Dunkelheit, die selbst am hellen Tag nicht weichen wollte. Als der Perlenvorhang klapperte und eine Gestalt von der sonnenüberfluteten Straße hereintrat, stürmten zwei von Hasmuns Schlägern aus dem Hintergrund, um nach dem Rechten zu sehen. »Sachte, meine Engelchen«, sagte eine freundliche, wohlklingende Stimme. »Ich bin gekommen, um eures Meisters Eitelkeit zu befriedigen. Pfuscht ihm nicht ins Handwerk, oder er wird für euch auch Püppchen machen.« Knurrend zogen sich die Leibwächter zurück, und Cyrion schritt tiefer in den Laden hinein. In der Dunkelheit waren die schwarzen Krüge auf den Regalen, die schwarzen Kästen und die bleigrauen Flaschen kaum auszumachen. Eine staubige Kobra, so ausgestopft und hergerichtet, als wolle sie gleich zustoßen, versperrte den Weg durch einen Vorhang aus Löwenfell. Dahinter befand sich eine Zelle, die ähnlich eingerichtet, aber von dem rötlichen Schein einer Hängelampe erhellt war. Im Lichtkreis der Lampe saß Hasmun auf einem Ebenholzstuhl. Auf dem Lacktischchen an seiner Seite lag Cyrion en miniature, nackt, blond, mit einer rubinrot funkelnde Nadel in seinem rechten Fußgelenk und einer im linken Ohrläppchen. »Nicht vorne im Laden zur Schau gestellt, wie man mir erzählt hatte«, bemerkte Cyrion sanft. »Ich hatte gehofft, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen.« »Das kommt später«, erwiderte Hasmun, ebenso sanft. »Hattest du eine gute Nacht?« -18- »Ich hatte einige Male mit den Wüstennomaden zu tun. Sie lehren eine M ethode, mit der man Schmerz in vollkommenen Genuß verwandeln kann.« Hasmun, unbeeindruckt, ging auf das Spiel ein. »Es freut mich, daß du es genossen hast. Diese Nacht dürfte noch genußvoller werden. Der Unterkiefer – dafür nehme ich eine Topasnadel. Handgelenke und Schienbein – Saphir. Die Diamanten habe ich für die Augen vorgesehen, mein schöner Freund. Aber das kann noch warten. Wie auch der Tod. Dies ist ein langes Spiel. Genieße es, mein Lieber.« Cyrion hatte sich vorgeneigt, um die Puppe zu betrachten. Er schien die Ähnlichkeit bewunderungswürdig zu finden, obwohl auf den ersten Blick zu erkennen war, daß es sich nicht um ein exaktes Ebenbild Cyrions handelte. Ohne den Zauber verursachten die Nadeln keinen Schmerz, selbst dann nicht, als er sie in dem leicht getönten wächsernen Fleisch drehte. »Natürlich«, meinte Cyrion, »könnte ich die Puppe stehlen. Oder dich töten.« »Versuche es«, bat Hasmun, der Magier. »Es wäre mir ein Vergnügen. Bitte.« Cyrion hatte die vier Kerle, die im Verkaufsraum vor dem Löwenfell herumlungerten und es dabei in leichte Bewegung versetzten, längst bemerkt. Auch das einzige Fenster zwischen den Wandregalen hatte er gesehen, das gerade breit genug war für eine Männerhand, aber nicht mehr. Was Hasmun betraf, so tanzten magische Funken an seinen Fingerspitzen. »Versuche es«, sagte Hasmun nochmals gewinnend. »Es wird dir eine Menge Unannehmlichkeiten eintragen, wenn auch nicht so viele wie diese hübschen Nadeln, deren Schmerz du in Lust verwandeln kannst.« Cyrion ließ die Puppe los. Sein Gesicht war ausdruckslos. »Und wenn ich um Gnade flehte?« -19- »Auch das wäre einen Versuch wert.« Cyrion drehte sich um und schlug das Löwenfell beiseite. Die Schlager, die auf ein bißchen Unterhaltung aus waren, als sie ihn überhöflich zur Tür begleiteten, mußten feststellen, daß er irgendwie zu flink für sie war. Einer von ihnen, der von seinem Spießgesellen einen Tritt ins Schienbein hinnehmen mußte, der eigentlich Cyrion gegolten hatte, tröstete sich mit dem Gedanken, daß Cyrion für den Magier ganz bestimmt nicht flink genug sein würde. Wieder kam die Dunkelheit, die beständige und verläßliche Nacht. Manch einer in Jebba, der bei Hasmun in Ungnade gefallen war, hatte Grund, diese beständige Wiederkehr zu fürchten, Dunkelheit erfüllt von glitzernden Sternen, glitzernden Nadeln und Qualen, glitzernd vor Tränen und Schweiß. In den Stunden dieser Nacht wanderte Mareme totenblaß durch ihre prachtvo lle Wohnung. Sie fand keine Ruhe und manchmal, im unwillkürlichen Gedanken an ihre primitiven Anfänge am Hafen, raufte sie sich die Haare. Zwei Stunden vor der Morgendämmerung elektrisierte sie ein samtpfötiges Klopfen an der Tür. Sie flog zur Türe und ließ Cyrion ein, der, bleich und hager wie ein Mann nach woche nlangem Fieber, ihr ein freundschaftliches Lächeln schenkte. Er hatte sich fest in einen Umhang gewickelt und hielt in einer Hand zwei der schlanken Weinkrüge, die während der ganzen Nacht am Hafen ve rkauft wurden. »Ich kann es nicht ertragen -« rief Mareme. »Leise«, sagte er und schloß die Tür. »Ich verbrachte einige unterhaltsame Stunden in einem Bootsschuppen und erschreckte die Ratten mit meinen Zuckungen. Der Apotheker ist für diese Nacht fertig mit mir.« »Ich werde mich umbringen«, behauptete Mareme. »Du hast dich in einen Bootsschuppen verkrochen, damit ich deine -20- Qualen nicht sehen konnte. Aber dein Schmerz ist auch der meine -« »Nicht ganz«, meinte Cyrion. »Sei froh.« »Weißt du keinen Ausweg?« weihte sie. »Ich weiß nur, daß ich jetzt etwas Hafenwein trinken möchte.« Immer noch in den Umhang gehüllt, entkorkte er einen Krug, schenkte die beiden blauen Kristallkelche voll und reichte ihr den einen. Das Mädchen, trank unwillkürlich, ohne es zu wollen, ließ den Becher auf den Teppich fallen und sank daneben auf den Boden. Ein schwacher Duft stieg von dem vergossenen Wein auf, der Duft der Droge, die Cyrion hineingegeben hatte. Er hob Mareme auf und legte sie auf ihr Bett. Trat dann lautlos an das Kosmetiktischchen, über dem in ihrem goldenen Käfig die Flugratte zwitscherte. Hasmuns zehn Leibwächter saßen bei einem Würfelspiel in dem düsteren Laden zwischen den Regalen mit Tränken und Giften, beobachtet von der ausgestopften Kobra. Drei oder vier Lampen brannten angestrengt und verbreiteten gerade genug Licht, daß die Spieler die Würfel erkennen konnten. Noch eine Stunde, bis die Sonne über der Wüste im Rücken Jebbas aufging und die Ta gwache sie ablöste. Neben ihrem Würfelspiel hatte es diese Nacht noch anderen Spaß gegeben. Das Murmeln des Zauberers, das Summen unsichtbarer Flöten, den heißen Luftzug, der das Erwachen unheiliger Mächte ankündigte. Dann das aufmerksame Schweigen des Magiers hinter dem Löwenfell, als er die Nadeln drehte. Keiner von Hasmuns Schlägern hatte ihn je bei seinem Zauber beobachtet. Sie waren klug genug, um nicht zu spionieren, und verspürten auch nicht den leisesten Drang in dieser Richtung. Sie rissen Witze über Cyrions Schicksal, aber ihre Augen wurden starr dabei, und die Würfel klapperten lauter. -21- Es war ein kompliziertes, boshaftes Würfelspiel, mit dem sie sich die Zeit vertrieben, bei dem es um Geld oder auch eine Tracht Prügel ging. Im Moment herrschte Stille, als einer die Würfel schüttelte und einen garstigen, persönlichen Dämon um Beistand anflehte. Und in diese Stille platzte ein gewaltiger Lärm. Eigenartigerweise schien es aus dem Innern des Ladens zu dringen oder aus dem Hinterhof. Ein Klirren von Geschirr und ein Brüllen und Schreien, aus dem manchmal Hasmuns Name in Verbindung mit unflätigen Ausdrücken herauszuhören war. Die Wächter rannten zu dem Löwenfell und in die dahinter befindliche Zelle, in der es unter den Füßen knirschte, wo aber kein Anzeichen für einen Eindringling zu bemerken war. Bald war die Hängelampe entzündet, bei deren Licht die Scherben eines Tonkrugs zu erkennen waren, den offensichtlich je mand durch das Fenster in die Kammer geworfen hatte. Das Geschrei hatte inzwischen aufgehört. Bevor einer der Wächter sich an den Regalen zu dem schmalen Fenster hinaufhangeln konnte, gab es eine laute Explosion vor der Apotheke. Wie auf Befehl stürmten die Männer aus der rötlich beleuchteten Kammer durch den Laden und den Perlenvorhang an der Tür. Dort entdeckten sie ein zweites Gefäß, diesmal mit brennendem Teer gefüllt, das gerade eben in tausend funkensprühende Scherben zerplatzt war. Als einer der Wächter die züngelnden Brocken fluchend zur Seite stieß, tauchte eine Erscheinung auf, die wild über die Straße hüpfte. Es war die dünne und ausgemergelte Gestalt eines Matrosen der armseligsten Sorte. Um den Kopf trug er das gestreifte Stirnband der Seefahrer – das gena uso schmutzig war wie der ganze Kerl -, und ansonsten war er in abstoßende Lumpen gekleidet, mit riesigen, flatternden Taschen, wovon alles nach Teer und Kornschnaps stank, und mit einem dunkelbraunen, stoppelbärtigen Gesicht, das so verzerrt war wie das eines Verrückten, verfluchte der Matrose Hasmun mit den -22- bildhaftesten Ausdrücken. Drei der Wächter versuchten, der Gestalt habhaft zu werden, aber sie tanzte beiseite. »Möge Hasmun, diese stinkende Mistschwein, unter dem Auswurf der Hölle ersticken!« heulte der Matrose, »Und ihr, seine sabbernden Speichellecker, geboren aus Schweinescheiße und gezeugt von Hundepisse, mögt ihr in eurem eigenen Dreck gepökelt liegen, bis das Meer sein Salz zurückfordert!« Fünf Wächter verfolgten den Matrosen, der sofort die Flucht ergriff, wobei er sie weiter anfeuerte, indem er ihre Ahnen und Urahnen mit den schmeichelhaftesten Kosenamen belegte. Auf halbem Wege aber blieben die Männer stehen, weil sie sich an ihre Pflichten gegenüber dem Magier erinnerten, bis auf zwei, die im Kielwasser des Matrosen um eine Ecke bogen und in eine unbeleuchtete Seitenstraße rannten. Im nächsten Augenblick stürzten sie röchelnd und halb erwürgt zu Boden, da ihre Kehlen äußerst heftig mit einer dünnen Schnurr in Berührung gekommen waren, die der Matrose kurz zuvor über die Straße gespannt und unter der er sich auf seiner Flucht hinweggeduckt hatte. Als die glücklosen Verfolger immer noch würgend und fluchend zur Apotheke zurückkehrten, gab es sofort einen lautstarken Wortwechsel über die Person des Matrosen. Schließlich dachten sie daran, die Hängelampe in der Kammer des Magiers zu löschen. Benebelt wie sie waren und dazu noch wütend bis zum Platzen, wäre es durchaus möglich gewesen, daß sie es nicht einmal bemerkt hätten. Aber einer, der gegen das Lacktischchen stieß, blickte darauf herab. Und sah einen leeren Fleck, wo zuvor Cyrions wächsernes Abbild gelegen hatte. Cyrion hatte den Matrosen in einem der Bootsschuppen gefunden, die es hier und da am Hafen gab, wo er seinen Schnaps- und Drogenrausch ausschlief, um dann bei -23- Sonnenaufgang wieder zu seinem Schiff zurückzuwanken. Jetzt allerdings war die furchterregende, nach Schnaps stinkende Gestalt nicht – weder schwankend noch sonst wie – auf dem Weg zum Hafen, sondern bewegte sich entlang einer der besseren Straßen Jebbas. Schließlich gelangte er an eine Treppe, schwang sich gewandt hinauf, öffnete eine Tür mit einem Schlüssel, der gewöhnlich an einem zarten Mädchenhals hing, und trat in die Wohnung Maremes, der schönen Kurtisane. Nachdem er, mit einer Geschwindigkeit, die einige Vertrautheit mit dieser Umgebung vermuten ließ, eine Lampe entzündet hatte, entfernte der Seemann sein gestreiftes Kopftuch und säuberte sich das Gesicht, wobei das blonde Haar, die Bartstoppeln und die Haut Cyrions zum Vorschein kamen. Der betrunkene Matrose in dem Bootsschuppen, der in den kostbaren Kleidern erwachen würde, die Cyrion ihm für seine muffigen Lumpen dagelassen hatte, dürfte wohl kaum Grund haben, sich zu beschweren. Allenfalls könnte er seine halbleeren Weinkrüge vermissen, die in und vor dem Laden des Magiers ein explosives Ende gefunden hatten. Mareme, die immer noch schlief, hatte nichts von den Veränderungen bemerkt, die Cyrion unter Zuhilfenahme ihrer eigenen Kosmetika an sich vorgenommen hatte. Und sie sah auch nicht, wie Cyrion aus einer der geräumigen Taschen der Seemannskleidung einen zappelnden Beutel holte und aus dem Beutel den Grund für das Zappeln – die zornige Flugratte. Nachdem er das Tierchen durch Streicheln etwas besänftigt hatte, nahm Cyrion ihm die goldene Leine ab und setzte es wieder in den Käfig. Dann zog er aus einer anderen Tasche die Wachspuppe. Er hatte die Ratte zu der Hofmauer des Goldschmieds getragen, der Hasmuns unmittelbarer Nachbar war. Dort band er die lange Leine an einen passenden, überhängenden Ast. Sein Geschrei und das Klirren des Tonkrugs hatten die Wächter in -24- die Kammer gelockt und sie veranlaßt, die Lampe anzuzünden. Dann zerplatzte der zweite Krug, den er schon vorher mit einem Stück rotglühender Kohle versehen hatte, vor dem Laden. Die Flugratte fühlte sich zum Fenster der Kammer hinaufgehoben und auf ein Regal gesetzt. Dann war Cyr ion nach vorn gestürmt, um die Wächter an der Tür abzulenken. Nachdem er seine Verfolger abgeschüttelt und halb erwürgt hatte, kehrte Cyrion in einem Bogen in die Straße der Drei Mauern zurück. Lautloser als ein fallendes Blatt zog er sich am Fenstersims empor. Die Flugratte, auf deren Schwäche für alles Glitzernde man sich unbedingt verlassen konnte, hatte ihre Arbeit bereits beendet. Die im Licht der Hängelampe funkelnden Nadeln im Leib der Puppe hatte die Ratte sogleich angezogen. Sie war zu dem Lacktischchen hinabgeklettert, wozu ihre Leine eben lang genug war. Nachdem es ihr nicht gelang, die Nadeln aus dem Wachs herauszuziehen, hatte sie die ganze Puppe mit ihren scharfen Raubtierzähnen gepackt und war wieder auf den Fenstersims geklettert. Da die Leine an dem Baumast festgebunden war, konnte sie nicht weglaufen. Dann, wie üblich, kam jemand, diesmal Cyrion, und nahm ihr die hart erarbeitete Beute wieder weg. Es war eine lange Nacht gewesen, und sie war noch nicht vorüber. Cyrion stellte die Lampe auf Maremes Schminktisch und drehte die Wachsfigur, die so viel Ähnlichkeit mit ihm selbst hatte, in seiner beringten rechten und seiner ungeschmückten linken Hand. Mareme erwachte. Ihr Körper war ausgeruht und erholt, ihr Kopf klar, doch ihr Herz war schwer wie Blei. Sie wußte, was in dem Wein gewesen war. Manchmal hatte sie das Mittel bei anderen angewendet oder, in den kleinen Mengen, die Euphorie bewirkten, bei sich selbst. Wäre sie nicht -25- so aufgeregt gewesen, hätte der Duft sie vom Trinken abgeha lten – dennoch, Cyrion war gut zu ihr gewesen, hatte ihr Schlaf und Vergessen geschenkt. Wieder brach sie in Tränen aus, und durch die Tränen hindurch sah sie ihn am Fenster stehen und zu ihr herschauen. Er war so makellos, wie nur er sein konnte, wie frisch geprägtes Silber. Rasiert, gebadet, gekämmt, einzigartig und magisch – und in das schwarze Gewand der Wüstennomaden gekleidet, das er auf Reisen zu tragen pflegte. »Ja«, sagte sie, »das ist klug. Diesmal bin ich froh, daß du fortgehst. In der Wüste bist du vielleicht in Sicherheit. Wann brichst du auf?« »Bald«, erwiderte er ruhig, »aber vorher gibt es noch etwas zu erledigen. Du stehst besser auf, mein Herz. Hasmun wird in Kürze hier sein.« Ihre Augen weiteten sich und huschten dann über den Schminktisch. Die Salbentöpfe standen anders, als sie es in Erinnerung hatte. Der hohe Krug mit Kohl war umgefallen. Und als er sich bewegte, bemerkte sie, daß Cyrion das eigentlich mehr der Dekoration dienende Kohlenbecken entzündet hatte. Der Geruch nach Teer hing durchdringend in dem luxuriösen Raum. »Was hast du getan?« »Rate mal«, sagte Cyrion. Sie schlang sich das Gewand aus perlenbestickter Seide um den Leib, als Faustschläge gegen die Tür hämmerten. Eine Erlaubnis, einzutreten, wurde nicht abgewartet. Die Tür hielt nur wenige Minuten. Dann polterte sie mit zerbrochenen Scharnieren in den Raum. Fünf von Hasmuns Schlägern drückten sich grinsend beiseite, und Hasmun, der Puppenmacher, trat ein. Für Mareme hatte er ein höfliches Nicken. Cyrion bedachte er mit einem liebevollen Lächeln. -26- »In der Regel«, sagte Hasmun, »habe ich es mit Feiglingen und Dummköpfen zu tun. Einem Schaf zu begegnen, das in das Schlachtmesser beißt, ist eine angenehme Ab wechslung. Die ich zu schätzen weiß. Beinahe könnte ich mich geneigt fühlen, dich zu verschonen. Aber alles in allem glaube ich doch, daß ich es vorziehe, dich tot zu sehen. Eine Kerze auszublasen ist amüsant. Aber dich zu töten, bedeutet, eine Sonne auszulöschen. Wie könnte ich da widerstehen?« Cyrions Haltung beinahe erhabener Gelassenheit veränderte sich nicht. »Und jetzt, Meister Wunderschön«, meinte Hasmun, »wo ist die Wachspuppe?« »Vielleicht«, erwiderte Cyrion sanft, »steckt sie in deinem Arsch.« Hasmun zuckte die Schultern. Er winkte seine Wachen heran und brachte sie dann mit der präzisen Geste zum Stehen, mit der er die Überlegenheit von G ehirn über Muskeln zum Ausdruck brachte. »Mareme«, sagte Hasmun, »möglicherweise könntest du dich bereit finden, mir zu sagen, wo dein Kunde die Puppe versteckt hat. Es würde dir eine grobe Behandlung deiner Möbel und deiner Person durch diese Raufbolde ersparen. Es fällt mir schwer, mußt du wissen, sie unter Kontrolle zu halten.« Mareme zuckte zurück. »Bitte -«, sagte sie, aber sonst nichts, und das einzelne, kraftlose Wort fiel zwischen ihnen zu Boden wie eine sterbende Taube. »Nun zier dich nicht, Mareme.« Er wandte sich an Cyrion. »Diese verführerische Schönheit der Nacht ist nicht immer so zimperlich. Aber natürlich, sie liebt dich. Das hätte ich bedenken sollen, immerhin hat sie mir dieses Geheimnis anvertraut. Einst kam sie wegen eines Liebestrankes zu mir, als mein Ruf in Jebba noch ohne Makel war. Sie bekam ihren Trank nicht. Mit solch albernem Kleinkram gebe ich mich nicht ab. Dafür bekam sie etwas anderes. Um genau zu sein, sogar mehr, -27- als sie eigentlich wollte. Oder vielleicht nicht, mein Liebling? Soll ich sprechen«, erkundigte sich Hasmun, »oder hast du mir etwas zu sagen?« Mareme schlug die Hände vors Gesicht. »Von Anfang an schien es mir doch ein recht glücklicher Zufall zu sein«, bemerkte Cyrion, »daß Hasmun der Apotheker die Schänke besuchte, als auch ich mich dort aufhielt.« »Glücklich und geplant. Sie gab mir Nachricht, daß du dort sein würdest. Und sie sorgte dafür, daß du nicht anders konntest, als dich mit mir anzulegen. Du konntest dem Köder nicht widerstehen, meinem Ruf. Deine Eitelkeit fühlte sich herausgefordert, Cyrion. So wie ich mich durch deinen Ruf herausgefordert fühlte. Schierer Neid. Du wolltest den bösen Hasmun und seine Puppen vernichten und allein in den Städten an der Küste herrschen. Nicht wahr, mein Schönster? Wie ich Cyrion vernichten will und werde.« Mareme wimmerte hinter ihren Händen hervor: »Er drohte mir, auch für mich eine Puppe anzufertigen und mich zu peinigen – ich hatte Angst. Ich konnte meiner Angst nicht Herr werden. Oh, Cyrion – ich liebe dich wie mein eigenes Leben, aber für dich sterben konnte ich nicht. Und ich schwöre, daß ich darauf vertraute, du würdest ihn überlisten. In Gottes Namen, ich schwöre, ich habe es geglaubt!« »Aber du vertrautest mir nicht genug, um mir die Wahrheit zu sagen«, sagte Cyrion, so zärtlich wie fein gesiebtes Gift. Mareme nahm wieder Zuflucht zu ihren Tränen. Hasmun ermahnte sie: »Weine Tränen aus Smaragd, wenn dir danach ist, Herzliebste. Aber sag mir, wo er die Puppe versteckt hat. Bedenke, ich kann dein Ebenbild immer noch anfertigen. So wie Cyrion habe ich auch dich gesehen. Ein Blick genügt. Mehr brauche ich nicht. Den Blick, das Wachs, den Zauber, die Nadel.« »Der Tiegel mit Kohl!« schrie Mareme, dann warf sie sich vor -28- beiden Männern auf den Boden, vor dem dunklen und dem hellen und vergrub ihr Gesicht im Teppich. Hasmun trat, jeden Schritt genießend, an den Kosmetiktisch. Er griff nach dem Krug. »Solch außerordentlich schwarzer Kohl«, meinte Hasmun. »Oder doch nicht so schwarz, denn hier sehe ich ein Fleckchen Weiß.« Er kratzte an dem Inhalt des Kruges. »Und so hart für Kohl, so zäh, so schmierig für die Taubenaugen einer schönen Frau. Und es riecht auch nicht wie Kohl. Sollte es gar etwas anderes sein? Könnte es Teer sein, aus den Bootshäusern, frage ich mich. Den Kohl ausgeschüttet, den Teer erhitzt und hineingegossen. Dann die Wachsfigur in der abkühlenden Masse verborgen – nur der weiße Fleck einer wächsernen Fußsohle bleibt sichtbar. Und dieser Krug hier hat genau die richtige Größe für solch eine Puppe…« Plötzlich schmetterte Hasmun den Krug auf das kleine Stück nackten Steinboden neben dem Kohlenbecken. Der durch die Hitze schon geschwächte Onyx zersprang. Hasmun löste den Klumpen Teer aus den beiden Hälften des Gefäßes und betrachtete ihn zärtlich. »Oh, mein Cyrion. Wie ungemein weise wärst du gewesen, hätte ich es nicht herausgefunden. Aber da ich es herausgefunden habe, bist du auch nicht weise. Kannst du dir vorstellen, was geschieht, wenn ich den Zauber spreche – alles, was der flüssige Teer deinem Wachsbild angetan hat, wirst auch du fühlen. Verbrannt, erstickt, geblendet. Tod in deiner Nase und deinem Mund. Ein schlimmeres Ende, als ich selbst dir zugedacht hatte. Möchtest du beten?« Immer noch ohne Anzeichen von Erregung fragte Cyrion: »Wie viel Zeit habe ich für meine Gebete?« »Ich habe mich entschlossen, gnädig zu sein«, erwiderte Hasmun. »Statt dich einen ganzen Tag lang Todesangst durchleben zu lassen, werde ich den Zauber sogleich sprechen. -29- In wenigen Augenblicken beginnst du zu sterben.« Cyrion blickte zur Seite. Er schaute in den blauen Himmel hinter dem Fenster. Er sagte nichts. Mareme, die immer noch auf dem Boden lag, hob nicht den Kopf. Die fünf Leibwächter an der Tür hatten ihr Grinsen aufgegeben und leiteten voll offensichtlichen Unbehagens den Rückzug ein. Hasmun hob die Arme. Er begann zu singen, mit einer dunklen und schwingenden Stimme, die völlig anders klang, als wenn er sprach. Schweflig und bitter tropften die Worte des Zaubers in den Raum. Das Schimmern von Seide und Sonne verblaßte; das Fenster verdunkelte sich, als sei am hellen Tag die Nacht angebrochen. Die Flugratte rollte sich in ihrem Käfig zu einer zitternden Pelzkugel zusammen. Die Luft in der Kammer veränderte sich, wurde warm und bedrohlich. Der Klang einer Flöte ertönte, zerschrillte das Trommelfell. Die Luft bäumte sich auf, wurde zu einem Wind aus einer Wüste, die niemals Schatten gesehen hatte. Ein Sturm tobte durch das Zimmer. Das Chaos berührte den Raum und der heiße Atem der Hölle. Dann war alles still. Der Zauber war vollendet. Hasmun stieß einen triumphierenden Laut aus, den er nicht unterdrücken konnte. Einen Laut, der zerbrach, mit einem Schrei furchtbarer Qual verschmolz, bis auch dieser erstickte. Hasmun fiel auf die Knie. Er krallte nach seinen Augen, der Nase, dem Mund. Sein Gesicht verzerrte sich; seine Hände schienen an seinen Wangen festzufrieren. Auf den Knien rutschte er weiter, und während er hin und her schwankte, kam ein verzweifeltes Wimmern über seine Lippen. Es mochte die Fortsetzung seines ersten Schreis sein. Nur Cyrion erkannte es als die Umkehrung des Zaubers, herausgepreßt zwischen starren Kiefern aus Stein, durch reine Willenskraft. Und Cyrion -30- bewegte sich wie ein Blitz. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er dem Griff des Magiers den Teerklumpen entwunden, in dem sich die Wachspuppe befand. Im nächsten Augenblick warf er den schwarzen Brocken in das Kohlenbecken. Eine Stichflamme schoß empor. Der Teer begann zu schmelzen. Das darinnen befindliche Wachs ebenfalls. Hasmun konnte seinen Zauber jetzt nicht mehr vollenden. Zappelnd wälzte er sich über den Teppich, in dem furchtbaren Bemühen, seine Qual hinauszubrüllen, aber nur ein dünnes Quieken kam aus seiner Kehle. Bis endlich jeder Laut und jede Bewegung erlosch und er rücklings gegen den Kosmetiktisch stürzte, dessen exotische Last in Bewegung geriet. Ein Regen von Puder und Rouge fiel auf ihn nieder, doch Hasmun rührte sich nicht. Die Salben ergossen sich über sein schwarz verfärbtes, stilles Gesicht. Der silberne Spiegel neigte sich lautlos auf dem Ständer und zerbrach an seiner Schulter. Er war tot, und als die letzten Reste von Teer und Wachs in dem Becken verschmolzen, erhob sich eine dünne Rauchfahne von seinen makellosen Kleidern, seinem unverletzten Leib. Die Wächter in der Tür erschauerten, sahen, daß Cyrion sie nicht beachtete, drehten sich um und flohen. Sie hatten keinen Herrn mehr. Sie hatten eine Geschichte, über Cyrion den Magier. Cyrion blickte auf das Mädchen. Zwischen den Fingern und den Teppichfransen hindurch hatte sie zugesehen. Ein wenig von dem niedersinkenden rosa Puder haftete an ihrer Haut. Mit einer rosafarbenen und einer kreidebleichen Wange erwiderte sie Cyrions Blick. »Du bist auch ein Zauberer«, murmelte sie. »Wirst du mich ebenfalls töten?« »Kein Zauberer«, sagte Cyrion. Eine kaum wahrnehmbare Spur Müdigkeit lag in seinen Augen. »Aber -«, fragte Mareme und erhob sich noch ein bißchen -31- mehr aus ihrer gebeugten Haltung, »aber wie -« »Ich hatte die Puppe«, erklärte Cyrion. »Er hatte das Wachs so geformt, daß es mir ähnelte. Ich veränderte die Gestalt mit Hitze und der Nagelfeile einer Frau und färbte Haut und Haar mit Pudern und Salben aus ihren Krüge n. Als ich fertig war, ähnelte die Puppe Hasmun ebenso sehr, wie sie zuvor mir ähnlich gewesen war. So wie sein Zauber beschaffen war, genügte das. Er sollte das Ding finden. Du hast mir mein Vorhaben noch erleichtert. So sprach er seinen Zauber und starb nach Atem ringend, mit verkohlter Haut und verglühenden Augen im Inneren eines Klumpens Teer.« Sie setzte sich auf. »Ich vertraute darauf«, sagte sie, »daß du ihn überwinden würdest.« »Meine vertrauensvolle Mareme«, sagte Cyrion. Sie zitterte plötzlich bei dem zärtlichen Ton in seiner Stimme. »Aber du wirst mir verzeihen – ich hatte so viel Angst -« »Ich verzeihe dir«, sagte Cyrion. Er betrachtete die Spiegelscherben neben dem toten Magier. Aus einer Tasche seines schwarzen Kleides nahm er ein paar Münzen und warf sie über Hasmuns Leiche hinweg leichthin und mitleidlos in ihren Schoß. »Kauf dir einen neuen Spiegel«, sagte er. Ihre Tränen flossen lautlos in der Stille, die folgte. Sie wußte, er war gega ngen. Für immer. Erstes Zwischenspiel Als der Baumeister mit seiner Geschichte zu Ende war, stellte der blonde Soldat fest, daß es sich mit dem Wein ebenso verhielt. Nach einigen Minuten, in denen er seinen Becher umstülpte und müßig gegen den Krug trommelte, sagte er: »Trockene Arbeit, das Geschichtenerzählen. Nicht wahr, -32- Meister des Zirkels?« Der Baumeister rollte seine Papiere zusammen und griff nach dem Rechenbrett. »Vielleicht. Ich überlasse es Euch, das herauszufinden.« »Wartet -« Roilant erwachte aus seinem Brüten und faßte den Mann am Ärmel. »Ich habe einige Fragen an Euch.« »Warum?« »Warum?« Roilant wußte nicht, wie er das Offensichtliche erklären sollte. »Er«, meinte der Soldat augenzwinkernd, »glaubt Eure Geschichte nicht.« »Das ist nicht der Grund«, protestierte Roilant. »Herr«, sagte der Baumeister und stand auf, »ich habe Euch gleich zu Anfang gesagt, daß ich für die Wahrheit der Geschichte keine Garantie übernehmen kann. Es muß genügen, daß der Vorfall in Jebba Tagesgespräch war. Und ich weiß ganz sicher, das es in der Stadt einen Apotheker von sehr schlechtem Ruf gab, der auf geheimnisvolle Weise aus der Gegend verschwand. Sein Laden wurde geplündert, und eine große, ausgestopfte Schlange tauchte auf dem Marktplatz auf. Niemand wollte sie kaufen. Man behauptete, sie trüge den Fluch des Magiers.« Roilant, der einigermaßen beunruhigt wirkte, setzte zum Sprechen an. Der Soldat ließ ihn nicht zu Worte kommen. »Vielleicht durch eine Einladung zu noch einem Becher…« Sofort rief Roilant nach dem grämlichen Sklaven Esur, der unter dem Vorwand, nach etwas zu suchen, in der Nähe herumlungerte. »Eßt mit mir zu Abend«, sagte Roilant zu dem Baumeister. »Ich habe bereits eine Einladung in das Haus eines bekannten -33- Architekten angenommen. Und es ist zu spät, um noch abzusagen.« »Allerdings. Aber dann kommt um Gottes willen heute Abend noch einmal hierher.« »Dafür gibt es nicht den geringsten Grund, Herr. Ich habe Euch alles gesagt, was ich weiß.« Roilant gab es auf und nickte traurig, als der Baumeister sich verbeugte und den Raum verließ. Der junge Mann mit dem rötlichgelben Haar, obwohl offensichtlich von Adel, schien nichts von der Selbstherrlichkeit eines Adligen zu besitzen. Anscheinend hatte er sich daran gewöhnt, von aller Welt ausgenutzt zu werden, nahm diese Tatsache mit einer Art gutmütiger Verzweiflung hin und erwartete auch gar nichts anderes. Als der Wein gebracht wurde und der Soldat sich darüber hermachte, blickte Roilant ohne viel Hoffnung zu den zwei immer noch debattierenden Philosophen in der Nische hinüber. Der eine schien zu der Gruppe von reisenden Gelehrten zu gehören, die hin und wieder in die Stadt kamen, um die Königliche Bibliothek zu besuchen, bevor sie zu der weitaus berühmteren von Askandris in Kyros weiterreisten. Der zweite Mann, älter und ungepflegt, mochte ein Weiser sein, von der Art, die umherzögen und oft nicht ganz bei Sinnen waren. Daß eine solche Gestalt die Schänke überhaupt betreten durfte, war kaum zu glauben, aber der struppige, schmuddelige Bart und das noch struppigere, ungekämmte Haar ließen kaum einen anderen Schluß zu. So viel zu der Qualität der Gäste des Honiggartens. Wenn es sich bei dem Weisen nicht um eine allseits bekannte und beliebte Persönlichkeit handelte, war seine Anwesenheit dem guten Ruf des Hauses bestimmt nicht förderlich. Roilant wurde abrupt aus seinen Überlegungen herausgerissen. Der Sklave Esur übte seine feuchte Aussprache dicht an -34- seinem Ohr. »Ich sagte eben«, wiederholte Esur, »wenn Ihr mit Gold für eine Geschichte von Cyrion bezahlt, weiß ich eine Geschichte von Cyrion.« Der Soldat lachte. »Dessen könnt Ihr sicher sein.« Esur funkelte ihn an. »Ich bin nur ein Sklave und zu nichts anderem gut, als ohne Grund geschlagen, getreten und herumgestoßen zu werden. Aber trotzdem höre ich so manches.« Roilant meinte: »Ich glaube, ich schulde dir ohnehin etwas dafür, daß ich dich umgeworfen habe. Dein Leben muß auch ohne solche Zwischenfälle schlimm genug sein.« »Ist es – ist es – wenn Ihr wüßtet! Eine Waise im Alter von zwei Jahren, die Eltern verloren, mit drei Jahren auf dem Markt von Heshbel verkauft, wo ein Kind weniger bringt als ein Schaf -« Der Soldat prustete in seinen kostenlosen Wein. Esur ließ sich äußerst würdevoll nieder und eignete sich Roilants Becher an. »Wenn er« – womit wohl der Wirt gemeint war – »kommt, müßt Ihr ihm sagen, daß ich Euch helfe, oder er wird mich schlagen. Wieder einmal.« Esur nickte heftig mit dem wohlfrisierten Kopf, goß den Wein auf einen Zug hinunter und begann zu erzählen… Ein Held vor den Toren Die Stadt lag mitten in der Wüste. Aus der Ferne konnte man sie für eine Fata Morgana halten; im nächsten Moment für eines der riesigen Hochplateaus, die man die Zähne der Wüste nannte, eingehüllt in einen blauen Dunstschleier aus Entfernung und Hitze. Aber Cyrion hatte die -35- Straße entdeckt, die zu der Stadt führte, und während er ihr folgte, wurden die Umrisse des Ortes deutlicher. Hohe Mauern mit noch höheren Türmen und hohen Toren aus gehämmerter Bronze. Und darüber der hohe und nackte Wüstenhimmel wie eine gewaltige Resonanzschale, in der aber nichts widerhallte, kein Laut aus der Stadt, kein Rauch. Cyrion blieb stehen und betrachtete die Stadt. Er war geneigt, sie auch für eine Art Wüste zu halten, für eines jener Werke von Menschenhand, das schon vor Jahrhunderten verlassen wurde, als der Sand über die Türschwelle kroch. Ganz sicher war die Stadt alt. Dennoch wirkte sie nicht verfallen oder strahlte diese unbeschreibliche Melancholie eines unbewohnten Hauses aus. Ein Gefühl sagte Cyrion, daß, so wie er die Stadt von draußen betrachtete, drinnen eine schweigende Menge stand und Cyrion beobachtete. Was sie sahen? Dies: Einen jungen Mann, hochgewachsen, von täuschend schlanker Gestalt, täuschender Eleganz, welche an sich schon erstaunlich war; denn er wanderte seit Monaten durch die Wüste, auf Karawanenwegen und den seltenen sandbedeckten Straßen. Er trug die weite, dunkle Kleidung der Nomaden, besaß aber, wie die zurückgeworfene Kapuze erkennen ließ, nicht deren dunkle Hautfarbe. An seiner Seite hing ein Schwert in einer Scheide aus rotem Leder. Im Sonnenlicht glänzte der Knauf der Waffe silbriggolden, wie auch sein Haar. Seine linke Hand war mit Ringen gepanzert, die zu rauben anscheinend keinem Strauchdieb gelungen War. Falls die Bewohner der Stadt feststellten, daß Cyrion so schön war wie der Erzfeind selbst, waren sie keineswegs die ersten. Dann ertönte das grollende, schabende Dröhnen zweier Bronzetore, die entriegelt und auf Gleitrollen nach innen gezogen wurden. Der Weg in die Stadt war offen – aber jetzt versperrt von einer Menschenmenge. Sie waren alle still, und -36- schwarz gekleidet, die Männer und die Frauen, ja sogar die Kinder. Und ihre Gesichter sahen alle gleich aus, und alle betrachtete sie Cyrion auf dieselbe Art. Sie sahen ihn an, als wäre er der letzte sonnige Tag ihres Lebens, die letzte Münze in einer leeren Truhe. Das Gefühl seiner unermeßlichen Wichtigkeit für sie war so stark, daß Cyrion der Menge eine tiefe, halb spöttische Verbeugung machte. Während er sich verbeugte, erkannte Cyrion aus den Augenwinkeln, wie ein Mann durch die Menge schritt und vor das Tor trat. Der Mann war so groß wie Cyrion. Er hatte ein hartes Gesicht, das gebräunt und doch bleich war, eine Woge schwarzen Haares um einen geschorenen Hinterkopf und einen edelsteinbesetzten Kragen aus dunklem Gold. Aber auch sein Blick hing an Cyrion. Es war der Blick eines Liebenden. Oder der eines Löwen, der seine Beute vor sich sieht. »Herr«, sagte der schwarzhaarige Mann, »was führt Euch zu unserer Stadt?« Cyrion vollführte eine lässige Bewegung mit der beringten linken Hand. »Die Nomaden haben ein Sprichwort: Nach einem Monat in der Wüste ist selbst ein toter Baum ein erfreulicher Anblick.« »Nur Neugier also«, bemerkte der Mann. »Neugier; Hunger; Durst; Einsamkeit; Erschöpfung«, führte Cyrion aus. Er sah aber nicht so aus, als mache auch nur eines dieser Übel ihm zu schaffen. »Speise könnt Ihr bei uns finden, Trank und Ruhe auch. Unsere Geschichte werden wir Euch nicht erzählen. Neugier zu befriedigen, ist nicht unser Schicksal. Unser Schicksal ist düsterer und furchtbarer. Wir erwarten einen Erlöser. Wir erwarten ihn mit gebundenen Händen.« »Wann soll er eintreffen?« erkundigte sich Cyrion. -37- »Vielleicht seid Ihr es.« »Ich? Ihr schmeichelt mir. Man hat mich vieles genannt, aber nie einen Erlöser.« »Herr«, sagte der schwarzhaarige Mann, »spottet nicht über das Elend dieser Stadt, noch über ihre einzige Hoffnung.« »Ich spotte nicht«, wehrte Cyrion ab, »aber ich befürchte, daß Ihr etwas von mir wollt. Von Erlösern erwartet man, daß sie etwas tun. Zum Besten ihres Volkes, wie es heißt. Was wollt Ihr? Das sollten wir erst klären.« »Herr«, sagte der Mann, »ich bin Memled, Prinz dieser Stadt.« »Prinz, aber nicht Erlöser?« unterbrach ihn Cyrion mit einem äußerst beleid igenden Ausdruck des Erstaunens. Memled senkte den Blick. »Wenn Ihr mich damit zu beschämen sucht, so ist dies Euer Recht. Aber Ihr solltet wissen, die Umstände machen mich hilflos.« »Oh, gewiß. Natürlich.« »Ich ertrage Euren Hohn, ohne zu klagen. Noch einmal frage ich Euch, ob Ihr unserer Stadt helfen wollt.« »Und ich frage noch einmal, was Ihr von mir wollt.« Memled hob die Lider und sah Cyrion wieder ins Gesicht. »Wir sind in der Gewalt eines Ungeheuers, eines dämonischen Geschöpfes. Es lebt in den Höhlen unter der Stadt, aber des Nachts kommt es hervor. Es nährt sich von dem Fleisch der Männer, trinkt das Blut unserer Frauen und Kinder. Ein uralter Zauber schützt es, aufgrund eines Paktes, den vor hundert Jahren die Prinzen dieser Stadt (sie seien verflucht!) mit den Heerscharen des Teufels schlossen. Niemand, der in dieser Stadt geboren wurde, hat die Macht, das Ungeheuer zu töten. Aber es gibt eine Prophezeiung. Ein Fremder, ein Held, den sein Weg vor die Mauern unserer Stadt führt, wird die Macht haben.« -38- »Und wie viele Helden«, sagte Cyrion milde, »haben bei diesem Eurem Unterfangen ein vorzeitiges Ende gefunden?« »Ich will Euch nicht belügen. Mehr als ein Dutzend. Wenn Ihr weiterzieht, wird niemand hier schlecht von Euch denken. Eure Aussichten auf Erfolg wären sehr gering, solltet Ihr Verstand und Fechtkunst mit der Kraft des Ungehe uers messen. Und unser Elend kann Euch nichts bedeuten.« Cyrion ließ den Blick über die schwarzgekleidete Menge wandern. Die leeren Gesichter waren ihm zugewandt. Die Kinder waren kleine Erwachsene, ebenso still, reglos, starr. Entsprach die Geschichte der Wahrheit, so hatten sie die Lektion von Angst und Not früh gelernt, ohne die Aussicht, alt genug zu werden, um Nutzen daraus zu ziehen. »Abgesehen von seinen Eßgewohnheiten«, sagte Cyrion, »was könnt Ihr mir von dem Ungeheuer erzählen?« Memled erschauerte. Seine Blässe vertiefte sich. »Mehr kann ich nicht preisgeben. Auch das gehört zu dem Fluch, der auf uns lastet. Wir dürfen Euch nicht helfen, weder mit Worten noch mit Taten. Nur beten können wir, solltet Ihr Euch entschließen, gegen den Teufel zu kämpfen.« Cyrion lächelte. »Eure Unverfrorenheit, mein Freund, ist beeindruckend. Also sagt mir wenigstens dies: Wenn ich Euer Ungeheuer besiege, welche Belohnung erwartet mich, außer natürlich den Segenswünschen Eures Volkes.« »Wir haben unser Gold, unser Silber, unsere Juwelen. Ihr könnt sie alle haben oder was immer Ihr begehrt. Wir sehnen uns nach Sicherheit, nicht Reichtum. Unser Reichtum hat uns nicht vor Entsetzen und Tod bewahrt.« »Ich glaube, wir sind uns soeben handelseinig geworden«, bemerkte Cyrion. Er schaute wieder zu den Kindern. »Vorausgesetzt, der Inhalt Eurer Schatzkammer hält mit Euren -39- Versprechungen Schritt.« Es war Mittag, und das erbarmungslose Licht der Sonne ergoß sich über die Stadt. Cyrion betrat die Stadt in Begleitung von Prinz Memled und zwei Wächtern – ebenfalls schwarzgekleideten Männern, aber mit schweren Dolchen und Schwertern im Gürtel, die bestimmt niemals das Blut des Ungeheuers gekostet hatten. Dahinter folgte abwartend die Menschenmenge. Bis auf das Geräusch der durch den Sand schleifenden Füße war alles totenstill. Hier und da stand ein Vogelkäfig im Schatten eines Erkerfensters. Die Vögel in den Käfigen sangen nicht. Sie erreichten den Marktplatz, der sonnengebleicht, menschenleer und ohne eine Spur kaufmännischen Lebens war. Ein Brunnen in der Mitte des Platzes verriet das Vorhandensein von Wasser, wohl der Hauptgrund für die Gründung dieser Stadt. Weitere Anzeichen für Wasservorkommen gab es in einiger Entfernung, wo eine breite, von steinernen Säulen flankierte Treppe zu einer wuc htigen, zinnenbewehrten Mauer und Türen aus vergoldeter Bronze hinaufführte. Über die Mauerkrone ragten die Kuppeln und Türmchen des Palastes und Wipfel von Palmen hinaus. Ein grüner Duft lag in der Luft, berauschend wie Weihrauch in der Wüste. Die Menge blieb auf dem Marktplatz zurück. Memled und seine Wachen geleiteten Cyrion die Treppe hinauf. Die goldbeschlagenen Türen wurden geöffnet. Das Innere des Palastes war von dem kühlen Blau einer Unterwasserhöhle, erfüllt von dem Rauschen zarter Wasserspiele und dem süßen Duft sonnenverwöhnter Blumen. Schwarzgekleidete Diener brachten gekühlten Wein. Die Speisen waren ärmlich und viel schlechter als der Wein. War auch das die Schuld des Ungeheuers? Cyrion hatte kein Schaf, keine Ziege in der Stadt gesehen. Auch keinen Hund, nicht -40- einmal die schlanken, gelben Katzen oder gestreiften Äffchen, wie reiche Frauen sie gerne verwöhnten – anstelle von Kindern. Nach dem Essen führte Memled, schweigsam, aber höflich, Cyrion in die Schatzkammer, wo Reichtümer sich häuften wie der Sand vor den Toren. »Ich könnte mir denken«, meinte Cyrion, während er Perle nschnüre und Rubinketten mäkelig durch die Finger gleiten ließ, »hiermit hättet Ihr Euch einen Helden kaufen können, hättet Ihr nur eine Botschaft ausgesandt.« »Auch das gehört zu dem Fluch. Wir dürfen nicht rufen. Der Zufall muß ihn zu uns führen.« »Wie die Nomaden sagen«, entgegnete Cyrion charmant und sehr unschuldig, »niemand kennt die Mauer besser als der, der sie erbaut hat.« In diesem Augenblick ertönte ein Donnern aus den Eingeweiden der Welt. Es war ein furchterregendes, mißtönendes Brüllen, voll heißer Grausamkeit und Lust am Töten. Es mochte ein Stier sein oder eine Herde von Stieren, mit Kehlen aus Messing und Sehnen aus geschmolzenem Eisen. Der Boden zitterte ein wenig. Ein Stein löste sich aus einem Berg Saphire und rollte auf einen darunterliegenden Hügel. Cyrion schien mehr interessiert als beunruhigt. Jedenfalls lag nichts als Interesse in seiner Stimme, als er Prinz Memled fragte: »Ist das Euer Ungeheuer, das sich auf sein nächtliches Festmahl freut?« Auf Memleds Gesicht trat der Ausdruck allergrößter Angst und Verzweiflung. Sein Mund zuckte. Er stieß einen plötzlichen Schrei aus, als hätte ein gefürchteter, wohlbekannter Schmerz ihn wieder befallen. Er schloß die Augen. Fasziniert bemerkte Cyrion: »Es stimmt also, daß Ihr nicht von ihm sprechen könnt? Beruhigt Euch, mein Freund. Es -41- spricht sehr deutlich für sich selbst.« Memled schlug die Hände vors Gesicht und wandte sich ab. Cyrion verließ den Raum. Bleich, aber einigermaßen ge faßt, folgte Memled seinem Helden. Schwarzgekleidete Wächter verriegelten die Schatzkammer. »Jetzt«, sagte Cyrion, »da ich Eurem Ungeheuer nicht entgegentreten kann, bevor es des Nachts die Höhlen verläßt, möchte ich schlafen. Meine Reise durch die Wüste war anstrengend, und, Ihr werdet mir sicher zustimmen, man sollte ausgeruht in einen Kampf gehen.« »Herr«, antwortete Memled, »mein Palast steht zu Eurer Verfügung. Aber während Ihr schlaft, werden ich und noch einige Männer an Eurer Seite wachen.« Lächelnd beschied ihm Cyrion: »Sie und Ihr, mein Freund, werdet das nicht tun.« »Herr, es ist besser, wenn Ihr nicht alleine bleibt. Vergebt meine Beharrlichkeit.« »Welche Gefahr sollte mir drohen? Das Ungeheuer ist keine Gefahr, bis die Sonne untergeht. Und das dauert noch einige Stunden.« Memled schien beunruhigt. Er streckte die Hand aus und deutete auf die Stadt hinter den Palastmauern. »Ihr seid ein Held, Herr. Einige der Leute könnten die Wachen bestechen. Sie könnten in den Palast eindringen und Euch mit Fragen und Lärm belästigen.« »Mir kam es vor«, erwiderte Cyrion, »als ob Euer Volk ungewöhnlich schweigsam wäre. Aber auch wenn nicht, sollen sie nur kommen. Ich schlafe tief. Ich glaube nicht, daß irgend etwas mich vor Sonnenuntergang wecken kann.« Memleds Gesicht, dieser Spiegel von Empfindungen, verriet Erleichterung. »So tief ist Euer Schlaf? Dann bin ich bereit, Euch allein zu lassen. Oder soll man Euch ein Mädchen -42- bringen?« »Ihr seid zu liebenswürdig. Trotzdem verzichte ich auf das Mädchen. Ich ziehe es vor, meine Frauen selbst auszusuchen – und erst nach einem Kampf, nicht vorher.« Memled lächelte das ihm eigene, steife, etwas rostige Lächeln. Seine Augen überzogen sich mit einem Schleier aus Selbsthaß, Schuldgefühlen und Scham. Die Türen des luxuriösen Zimmers, in das man Cyrion geführt hatte, schlossen sich. Räucherwerk brannte in silbernen Schalen. Fensterläden aus bemaltem Holz und bestickte Vorhänge schützten vor der brennenden Nachmittagssonne. Vor der geschlossenen Tür spielten Musiker eine leise, sinnliche Melodie auf Flöten, Trommeln und Ghkzas. Alles lud zum Schlafen ein. Nur nahm Cyrion die Einladung nicht an. Ganz im Gegensatz zu seiner Behauptung war er ein leichter Schläfer. In der Stadt des Ungeheuers hatte er nicht vor, überhaupt zu schlafen. Ungestörtheit war etwas anderes. Nachdem er die Zimmertüre von innen verriegelt hatte, durchmaß er lautlos den Raum und prüfte ihn auf seine Möglichkeiten. Er drückte einen der Läden auf und spähte über die glühenden Dächer in den trockenen, grünen Palmenschatten der Gärten. Und dahinter lauerte schweigend die Stadt. Nachdenklich nahm Cyrion die Stimmung in sich auf. Sie glich einem einzigen, großen Herzen in der Atemlosigkeit zwischen einem Schlag und dem nächsten. Ein Herz oder zwei Kiefer, kurz vor dem Zuschnappen. »Cyrion«, sagte eine drängende Stimme. Ihn herumwirbeln zu sehen, verriet etwas von Cyrions wahrer Natur. In dieser Sekunde noch ein träger Müßiggänger am Fenster, in der nächsten eine aufschnellende Sprungfeder, das Schwert in der rechten Hand. Er hatte es schneller gezogen, als -43- das Auge zu erfassen vermochte. Und atmete nicht einmal heftiger. Obwohl ein rascher Blick ihm zeigte, daß das Zimmer so leer war wie zuvor, ließ seine Wachsamkeit nicht um ein Jota nach. »Cyrion«, rief die Stimme wieder, scheinbar aus dem Nichts und Nirgendwo. »Ich flehe zum Himmel, daß du klug genug warst, sie anzulügen.« Cyrions Haltung schien sich zu entspannen. Schien. »Zweifellos freut sich der Himmel über dein Flehen«, meinte er. »Und werde ich mich über deinen Anblick freuen können?« Die Stimme war weiblich, ausdrucksvoll und sehr schön. »Ich bin in einem Gefängnis«, antwortete die Stimme mit einem kaum wahrnehmbaren Stocken. »Ich will dich warnen. Glaube ihnen nicht, Cyrion.« Cyrion bewegte sich durch das Zimmer. Beiläufig und vorsichtig schob er die Wandbehänge mit dem Schwert beiseite. »Sie haben mir ein Mädchen angeboten«, sagte er nachdenklich. »Aber von deinem sicheren Tod haben sie nichts gesagt.« Cyrion hatte seinen Rundgang beendet. Er fühlte sich aufs angenehmste unterhalten und amüsiert. Schließlich kniete er nieder und legte sich dann flach auf den Bauch. In dem Mosaikmuster des Fußbodens fehlte ein rundes Steinchen. Er legte ein Auge an die Öffnung und blickte in einen düsteren Raum, der nur von einer schwachen Lichtquelle außerhalb seines Gesichtskreises erleuchtet wurde. Genau unter ihm lag ausgestreckt ein Mädchen auf etwas Dunklem, das wohl ein Fußboden sein mußte, und starrte aus wilden, funkelnden Augen zu ihm hinauf. In dem Halbdunkel schien sie mehr eine Blüte aus Licht, denn ein lebendes Wesen zu sein, eine zitternde Gestalt aus weißem Kristall im Nichts. Ihre Haare waren wie die Goldketten in der Schatzkammer, ihr Gesicht wie das einer -44- Göttin, ihr Körper wie der einer schönen, noch jungfräulichen Hure. Eiserne Ketten um Taille, Hand- und Fußgelenke fesselten sie an Pflöcke im Boden. »Hier also bist du.« »Es ist eine Besonderheit in der Bauweise, die es möglich machte, daß du mich hören konntest und ich dich. In früheren Tagen saßen Prinzen in deinem Zimmer da oben, tranken, genossen die Liebe und lauschten den Schreien derer, die hier unten gefoltert wurden, und manchmal schauten sie durch die Öffnung, um ihr Vergnügen noch zu erhöhen. Aber entweder hat Memled nicht daran gedacht oder glaubte, ich könnte schon nicht mehr rufen. Ich bemerkte deinen Schatten über dem Loch. Und vorher hatte der Kerkermeister deinen Namen genannt. O Cyrion, ich muß sterben und du mit mir.« Sie verstummte, und Tränen rannen wie silberne Tropfen aus ihren verzweifelten Augen. »Ihr habt ein interessiertes Publikum, edle Dame«, sagte Cyrion. »Es ist so«, flüsterte sie. »Das Ungeheuer, von dem sie vorgeben bedroht zu werden, ist in Wirklichkeit der Dämonengott dieser Stadt. Sie lieben diese Bestie und begehen alle Arten von Abscheulichkeiten in ihrem Namen. Wie sonst, glaubst du wohl, hätten sie solche Schätze anhäufen können, hier, in der Wildnis? Und einmal im Jahr ehren sie das Ungeheuer, indem sie ihm eine schöne Jungfrau und einen tapferen Krieger opfern. Ich war zur Braut eines reichen und weisen Fürsten einer Stadt am Meer bestimmt. Aber man hält mich für schön, und Memled hörte davon. Männer aus dieser Stadt griffen die Karawane an, mit der ich reiste, und brachten mich hierher, wo ich seit einem Monat schmachte. Dich hat ein grausames Schicksal hergeführt, wenn nicht Memleds Zauberei dich anlockte, ohne daß du es bemerktest. Heute nacht werden wir gemeinsam den Tod finden.« -45- »Ihr seid eine Gefangene, ich nicht. Wie wollen sie mich denn zu diesem Opfergang überreden?« »Das ist nur zu einfach. Bei Sonnenuntergang werden hundert Mann in dein Zimmer eindringen. Du scheinst keine Angst zu haben, aber auch der Tapferste kann gegen hundert Angreifer nicht bestehen. Sie werden dir das Schwert entreißen, dich betäuben und binden. In der westlichen Mauer ist eine Geheimtür, die zu einer Treppe führt. Diese Treppe werden sie dich hinabstoßen. Darunter liegen die Höhlen, in denen das Ungeheuer lauert und nach seinem Fraß giert. Auch ich werde auf diesem Weg in den Tod gehen.« »Eine fesselnde Geschichte«, meinte Cyrion. »Was hat dich veranlaßt, sie mir zu erzählen?« »Bist du nicht ein Held?« fragte das Mädchen leidenschaftlich. »Hast du ihnen nicht versprochen, das Ungeheuer zu erschlagen, ihr Retter zu sein, wenn auch für Gold? Kannst du statt dessen nicht dein eigener Retter sein und der meine?« »Vergebt mir«, erwiderte Cyrion in einem Ton, der schon an Naivität grenzte. »Was könnte ich denn tun? Außerdem scheint unser beider Schicksal unabwendbar zu sein. Wir sollten es hinnehmen.« Cyrion erhob sich von dem Mosaikboden und trat einen Schritt beiseite. Nach einem Augenblick des Schweigens schrie das Mädchen: »Du bist ein Feigling, Cyrion. Trotz deiner Schönheit, deines kostbaren Schwertes, obwohl du das Kleid der Nomaden trägst, die man die Löwen der Wüste nennt – trotz all dem – Feigling und Narr.« Cyrion schien zu überlegen. Nach einer Minute sagte er liebenswürdig: »Natürlich könnte ich die Geheimtür jetzt gleich öffnen und das Ungeheuer aus eigenem Antrieb suchen, mit dem Schwert in der Hand und -46- kampfbereit. Dann, wenn ich es getötet habe, könnte ich zurückkommen und Euch befreien.« Das Mädchen weinte. Dann sagte sie mit einer Stimme, die so hart war wie Stahl: »Wenn du ein Mann bist, wirst du es tun.« »O nein, edle Dame. Nur wenn ich das bin, was Ihr unter einem Mann versteht.« Die Treppe war schmal und so angelegt, daß sie völlig im Dunkeln lag – aber Cyrion hatte eine der parfümierten Fackeln aus seinem Zimmer mitgehen la ssen. Die Geheimtür war leicht zu finden gewesen, ein Zierknopf, der sich drehte, eine Platte, die zur Seite glitt. Nach dreißig Stufen kam er an einer Eisentür vorbei, hinter der leises Weinen zu hören war. Die Treppe verlief in der Westmauer des Palastes und setzte sich unterirdisch fort. Aus den Tiefen der Hö hle, die sich, jetzt noch unsichtbar, am Fuß der Treppe erstreckte, ertönte kein Geräusch. Schließlich endeten die Stufen. Dahinter gab es undurchdringliche Dunkelheit und in der Dunkelheit eine ebenso dunkle und formlose Stille. Cyrion ging weiter, die Fackel in der ausgestreckten Hand. Die Dunkelheit spielte mit der Fackel, gestattete dem Licht eine winzige Oase schattenhaft erkennbarer Dinge, wie Säulen aus Felsgestein, die bis zur Decke ragten. Die Dunkelheit verschlang Cyrion. Sie leckte an ihm, bewegte ihn auf der Zunge hin und her. Die brennende Fackel war für sie nichts weiter als eine Zutat; sie schätzte das Licht an Cyrion, wie ein Mensch Salz an seinem Essen. Dann kam ein heftiger Windstoß aus dem Nichts. Ein metallischer, heißer Luftzug, wie von einem Schmelzofen. Cyrion blieb stehen und überlegte. Das Ungeheuer, verborgen in einer der Höhlen, hatte geseufzt? Einen Augenblick später brüllte es. Oben, in der Schatzkammer, schien das Gebrüll das Haus in den Grundfesten erschüttert zu haben. Hier ent häutete es sogar -47- die Dunkelheit und zerquetschte sie wie eine Frucht. Die Scherben der Dunkelheit klirrten gegen die felsigen Säulen. Splitter brachten aus dem Gestein und regneten zu Boden. Die Höhlen dröhnten, summten, schwiegen. Die Wunden der Dunkelheit heilten nicht. Ein neues Licht flammte auf. Ein makelloser Kreis aus Licht, blaß, mattrot. Und erlosch. Dann erschienen zwei. Zwei makellose, rötlich schimmernde Kreise. Zwei Augen. Cyrion ließ die Fackel fallen und löschte sie mit dem Stiefe labsatz. Dieses Geschöpf verbreitete seine eigene Helligkeit. Es wuchs aus der Dunkelheit in dem Maße, wie seine Augen vor Neugier zu funkeln begannen. Es hatte keine Ähnlichkeit mit irgendeinem anderen Lebewesen, war mit nichts anderem zu vergleichen. Es war es selbst, einzigartig. Allein die Größe konnte an etwas gemessen werden. Einem Turm, einer Mauer – jedes einzelne der beiden Augen, dieser rosigen Fenster, war groß genug, daß Cyrion aufrecht darin hätte stehen können. So hell leuchteten die Augen nun, daß die gesamte Höhle sichtbar wurde, die ragenden Felsen, der dick mit Staub bedeckte Boden, die Staubschleier in der Luft. Aus dem Staub erhob sich das Ungeheuer. Es öffnete den Rachen. Cyrion duckte sich, und der Schwall des heißen, aber nicht feurigen Atems strich über seinen Kopf hinweg. Es war auch kein übelriechender Atem, nur eben sehr warm. Cyrion stützte sich gelangweilt auf sein Schwert. Er wirkte wie eine wunderschöne Statue. Als jemand, der sich wie ein Blitz bewegen konnte, hatte er jetzt beschlossen, zu Stein zu werden, und das rötliche Licht verlieh seinem bleichen Haar die Farbe von verdünntem Wein. In dieser Haltung beobachtete Cyrion das dämonische Geschöpf, wie es, im Schimmer seiner riesigen Augen, näher kam. Dann zuckte eine sehnige, krallenbewehrte Pranke, massig -48- wie eine Säule, in seine Richtung, aber Cyrion stand nicht mehr dort, bewegungslos, auf sein Schwert gestützt, wie noch einen Augenblick zuvor. Weiter hinten, im Schatten, wartete er jetzt, reglos, das Schwert gesenkt, ruhig. Wieder das Zucken von sichelbewehrtem Tod. Wieder vorbei. Die Kiefer schnappten zu und Geifer spritzte hervor wie ein Wasserschwall. Cyrion war fort, außer Reichweite. War er Stein gewesen, so war er jetzt wieder ein Blitz. Und er führte den vierten Schlag. Weder lachte er über die Gefährlichkeit seiner Aufgabe, noch runzelte er die Stirn. Es gab nichts zu überlegen, das Ziel war keine Herausforderung, leicht… Cyrion hob den Arm und schleuderte das Schwert durch die Höhle, ein schnurgerader, weißer Riß in der Dunkelhe it. Die Klinge traf das linke Auge des Ungeheuers, zerschmetterte es wie rosafarbenes Glas und drang ins Gehirn. Gleich einer Katze sprang Cyrion auf einen Felsenvorsprung und duckte sich nieder. Eine Fontäne aus schwarzem Blut stieg bis zur Höhlendecke. Langsam verblaßte das Licht. Das donnernde Brüllen verebbte wie ein gewaltiger Ozean, der sich aus diesen trockenen Höhlen unter der Wüste zurückzog. Auf dem Felsvorsprung wartete Cyrion mitleidlos und ohne Triumph, bis die letzten Bewegungen des Ungeheuers erstarben. Blind in der jetzt wieder vollkommenen Dunkelheit, fand er dennoch mit unfehlbarer Sicherheit seinen Weg, da er sich an alles erinnerte, was er einmal gesehen hatte. Er bückte sich zu dem Ungeheuer hinab, nahm sein Schwert an sich und kehrte über die in tiefstem Dunkel liegende Treppe zu der eisernen Kerkertür zurück. Die Eisentür war von außen verriegelt. Er schob die Riegel zurück und stieß die Tür auf. -49- Nach einem Schritt blieb er stehen, mit dem Schwert in der Hand, und nahm jede Einzelheit in sich auf. Das Gefängnis war ein Kasten aus Stein, der von matt brennenden Fackeln erleuc htet wurde. Das Mädchen lag auf dem Boden, an die Pflöcke gekettet, wie er es durch das Guckloch gesehen hatte. Er blickte zu der Öffnung hinauf, die im Zwielicht der Fackeln kaum zu erkennen war. »Cyrion«, wisperte das Mädchen, »deine Klinge ist schwarz vom Blut des Ungeheuers, und du lebst.« Ihr weißes, liebliches Gesicht war ihm zugewandt, die üppigen Strähnen ihres goldenen Haares flossen seidig über den Boden, ihre samtenen Brüste zitterten unter dem heftigen Schlag ihres Herzens. Sie weinte, aber ihre Augen waren weich. Keine Verwunderung war darin zu erkennen, keine Frage, nur Liebe. Er trat zu ihr, hob sein Schwert ein zweites Mal und trennte ihren Kopf vom Körper. Dreißig Stufen weiter oben, schlug eine Tür gegen die Mauer. Cyrion bückte sich anmutig, richtete sich auf und nahm die dreißig Stufen mit wenigen geschmeidigen Sprüngen. Er trat durch die Geheimtür und befand sich in seinem Ruhezimmer, das Schwert immer noch in seiner ungeschmückten rechten Hand. Und in der ringgepanzerten Linken den Kopf einer Frau mit schimmerndem Haar. Ihm gegenüber, in der aufgebrochenen Tür des Zimmers, stand Memled mit einem Gesicht wie aus gelber Asche. Dann fiel er auf die Knie und die Wächter hinter ihm folgten seinem Beispiel. Memled begann zu schluchzen. Es war ein raues Schluchzen, das seinen Körper schüttelte, und er konnte es nicht unterdrücken. Cyrion blieb, wo er war, ohne auf die sich langsam ausbreitende Blutlache zu achten. Schließlich gewann Memled seine Fassung zurück. -50- »Nach einer Ewigkeit hat der Himmel unser Wehklagen gehört, auf unsere Bitten geantwortet. Ihr seid der Held dieser Stadt, unser Retter nach einer Ewigkeit. Aber der teuflische Pakt verschloß uns den Mund, und wir konnten Euch weder helfen noch warnen. Wie habt Ihr die Wahrheit herausgefunden?« »Und was ist die Wahrheit?« fragte Cyrion unendlich milde, während er zwischen blutigem Schwert und blutigem Kopf stand. »Die Wahrheit – daß das Ungeheuer nur ein Trugbild ist, geschaffen, um die Helden zu täuschen, die für uns kämpfen wollten, erschaffen von der Hexe, der Ihr den Kopf abgeschlagen habt. Jahrein und jahraus hat sie uns gepeinigt, des Nachts unsere Stadt durchstreift, sich von dem Fleisch und dem Blut meines Volkes genährt. Ein gnadenloser und grausamer Werwolf. Und wir hatten nur die eine schwache Hoffnung, eine Prophezeiung, die einzige Schwäche in dem teuflischen Pakt – daß ein heldenmütiger Reisender, den der Zufall in unsere Stadt führte, uns von ihr befreien könne. Aber immer verhexte und betörte sie diese Helden, zeigte sich ihnen mit Ketten, log, daß wir sie opfern wollten, verlockte jeden Mann zum Kampf mit einem Ungeheuer, das es gar nicht gab, außer sie beschwor es herauf. Und nach vollbrachter Tat gingen sie zu ihr, vertrauensvoll, und fanden den Tod. Mehr als zwanzig Helden sandten wir auf diese Weise in den Tod, denn wir waren hilflos und konnten ihnen nicht sagen, wo sich das eigentliche Böse verbarg. Und deshalb frage ich nochmals, Herr, wie habt Ihr die Wahrheit herausgefunden in diesem Sumpf aus Hexerei?« »Kleine Dinge«, antwortete Cyrion lakonisch. »Aber Ihr werdet sie mir aufzählen?« Memled hob sein tränennasses Gesicht, das jetzt einen Ausdruck fiebrigen Glücks zeigte. »Daß ihr Kerker sich gleich unter meinem Zimmer befand, was höchst unwahrscheinlich war, wäre sie tatsächlich als Opfer -51- für das Ungeheuer bestimmt gewesen. Ihre außerordentliche Schönheit, der ein Monat der Gefangenschaft und Angst nichts hatte anhaben können, und daß ihre Hand- und Fußgelenke keine Spuren der Fesselung trugen. Daß sie, obwohl eine Fremde, so gut über die Geheimwege und die Geschichte dieser Stadt Bescheid wußte. Interessanter noch, daß sie so gut über mich Bescheid wußte – ganz abgesehen von meinem Namen, von dem ich auch nicht einsehen konnte, warum ein Wächter ihn ihr genannt haben sollte – zum Beispiel, daß ich die Kleidung der Nomaden trug und daß sie mich für ansehnlich hielt, obwohl sie mich gar nicht gesehen haben konnte. Sie behauptete, sie habe meinen Schatten durch die Öffnung gesehen, aber nicht mehr. Sie kannte auch unseren Handel, Euren und meinen, als wäre sie dabeigewesen. Wollt Ihr noch mehr hören?« »Jede Silbe!« »Dann will ich noch das Ungeheuer erwähnen, das gar nicht echt sein konnte. Eine so laute Stimme, daß der Boden zitterte, und doch war das Haus unbeschädigt. Und das Geschöpf selbst so groß, daß es die Stadt in einen Schuttha ufen hätte verwandeln können, und begnügte sich dennoch mit einer Höhle, in der es nicht einmal den Staub aufgewirbelt hatte. Es lagen keine Knochen he rum und da war außerdem noch sein sauberer Atem, der wohl heiß war, aber rein. Eine Katze, die Ratten frißt, hat einen schlechteren Geruch. Und dieses Geschöpf, das angeblich Menschen fraß und ihr Blut trank und groß genug war, um den Himmel mit seinem Gestank zu erfüllen, wirkte so sauber wie ein frisch gescheuerter Topf auf dem Ofen. Schließlich trat ich in den Kerker und entdeckte, daß durch das Guckloch nichts von dem zu sehen war, was in diesem Zimmer vor sich ging, ganz zu schweigen von einem vorüberziehenden Schatten. Und, wenn Ihr es ganz genau wissen wollt, ich bemerkte auch die scharfen Zähne der Dame.« Memled stand auf. Auf halbem Weg zu Cyrion besann er sich und drehte sich zu -52- den Wächtern um. »Verkündet der Stadt, daß unsere Not ein Ende hat.« Die Wächter eilten davon. Memled trat neben Cyrion und starrte auf den Kopf, den Cyrion wohlweislich in eine passende Schüssel gelegt hatte, wo er langsam zu einem stinkenden Pulver zerfiel. »Wir sind frei«, rief Memled. »Und der Schatz gehört Euch. Nehmt alles, was ich habe. Nehmt – nehmt dies, das Zeichen der Königswürde dieser Stadt«, und er griff nach dem Kragen aus dunklem Gold an seinem Hals. »Unnötig«, meinte Cyrion leichthin. Er reinigte sein Schwert an einem Wandbehang. Memled störte sich nicht daran. Cyrion schob das Schwert in die Hülle. Memled lächelte, immer noch ein wenig rostig, aber sein Gesicht glühte vor Erregung. »Dann also die Schatzkammer«, schlug Cyrion vor. In der Schatzkammer bediente Cyrio n sich mit Sorgfalt. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und bei dem weichen Bernsteinschimmer der Lampen wählte Cyrion unter den Edelsteinschnüren und Bändern aus kostbarem Metall, den Bechern und juwelenbesetzten Dolchen, den Armreifen und den Waffen. Bald war der Lederbeutel gefüllt, den Cyrion sich über den Rücken warf. Memled wollte ihm immer noch mehr aufdrängen, aber Cyrion lehnte ab. »Wie die Nomaden sagen«, bemerkte er, »›Drei Esel können nicht gleichze itig aus einem Eimer trinken.‹Ich habe genug.« Draußen in der Stadt, die jetzt mit hellerleuchteten Fenstern unter einem sternenübersäten Himmel lag, stiegen Gesänge und fröhlicher Lärm in die kühle Wölbung der Wüstennacht. »Eine Nacht ohne Blut und ohne Schrecken«, sagte Memled. Cyrion schritt die Palasttreppe hinab. Umgeben von seinen Wachen blieb Memled vor der Tür zurück. Auf dem Marktplatz -53- brannte ein Feuer, und es wurde getanzt. Die schwarzen Gewänder waren verschwunden; die Frauen hatten ihre Festkleider angelegt, und Ohrringe funkelten und klirrten, während sie miteinander tanzten. Die Männer tranken und schauten den Frauen zu. Am Rande des fröhlichen Kreises standen zwei Kinder wie kleine Standbilder, auch sie in ihren besten Kleidern, und Cyrion sah ihre Gesichter. Das Gesicht eines Kindes, unverhüllter Kalender der Jahreszeiten der Seele. Erwachsene können sich verstellen, wenn es sein muß. Ein Kind hat noch nicht die Zeit gehabt, das zu lernen. Cyrion zögerte. Er drehte sich um, kehrte zu der Treppe zurück und ging die Stufen hinauf. »Noch eines, mein Freund, mein Prinz«, sagte er zu Memled. »Was denn?« Cyrion lächelte. »Eure Vorstellung war zu gut, und ich ließ mich täuschen, bis mich soeben ein Kind auf den Gedanken brachte.« Cyrion schwang den Beutel von seiner Schulter genau in Memleds Magengrube. In der nächsten Sekunde flammte das Schwert in Cyrions Hand, und Memleds schwarzmähniger Kopf sprang die Stufen hinab. Die Tanzenden standen bewegungslos um das Feuer. Die Wächter waren vor Schreck erstarrt, aber keine Hand griff nach der Waffe. Cyrion reinigte seine Klinge, diesmal an Memleds bereits zitterndem Torso. »Dieser also auch«, sagte Cyrion. »Ja, Herr«, bestätigte der zunächststehende Wächter heiser. »Es waren zwei.« »Und jede Nacht würfelten sie darüber, wer sich an der Stadt mästen durfte, euer Dämonenprinz und seine Hure. Aber der -54- Prophezeiung von dem Helden vor den Toren konnte er nicht ausweichen. Er war verpflichtet, mich zu hofieren, und war dabei ganz sicher, daß die Dame sich meiner annehmen würde wie all meiner Vorgänger. Als es ihr nicht gelang, war er es zufrieden, daß ich sie getötet hatte, wenn nur er mir entkommen konnte und die Stadt für sich alleine hatte. Er hielt sich ausgezeichnet. Er verriet sich nicht mit einem Wort. Er benahm sich wie ein Mensch, wie Memled der Prinz – Furcht und Freude. Er war zu gut. Dennoch wäre ich mir meiner Sache nicht sicher gewesen, hätte ich nicht die ängstliche Starre in den Gesichtern der Kinder dort unten gesehen.« »Ihr seid unzweifelhaft ein Held, und der Himmel wird Euch segnen«, sagte der Wächter. Es war leicht zu erkennen, daß er wahrhaftig ein Mensch war und all die anderen auch. Auf verschiedenste und manchmal bizarre Weise zeigten sie ihre Freude über die Rettung, wie es bei Menschen ist, die nicht vorher auswendig gelernt haben, wann sie lachen und wann sie weinen sollen. Cyrion lachte leise zu den glitzernden Sternen hinauf. »Dann segne mich, Himmel.« Wieder ging er die Treppe hinab. Die beiden Kinder schrieen jetzt, wie sie es zuvor nicht gewagt hatten, ungehemmt, gesund. Cyrion öffnete den Lederbeutel und schüttete die Juwelen auf den Platz, wo Kinder und Erwachsene mit ihnen spielen mochten. Mit leeren Händen, wie er gekommen war, schritt Cyrion in die Wüste hinaus. Zweites Zwischenspiel Esur, der während des Erzählens in eine Art Trance gefallen war, griff nach der Weinflasche, wurde aber von dem Soldaten gehindert, der ihm zuvorgekommen war. -55- »Bei den Chören des Himmels«, meinte der Soldat, »das war eine Geschic hte.« Esur funkelte ihn an, und der Soldat trank. »Kann man wenigstens einen Teil davon glauben? Wo liegt diese Dämonenstadt? Gibt es sie? Offensichtlich eine Erfindung besonderer…« Beleidigt sprang Esur auf, und der Soldat verstummte grinsend. Esur blickte auf Roilant. »Ihr wolltet eine Geschichte. Ich habe Euch eine geliefert. Wo ist mein Gold?« »Um genau zu sein, ich wollte etwas über Cyrions Aufenthaltsort und seinen Charakter erfahren«, wandte Roilant ein. Der Soldat vertiefte sich in seinen Becher und hob nur den Kopf, um zu erklären: »Er hat Euch manches erzählt. Cyrion hat eine Schwäche für kleine Kinder. Und läßt sich von der schönsten Frau nicht hinters Licht führen.« Roilant runzelte die Stirn. Er nahm ein Goldstück aus seiner Börse und reichte es Esur, der sofort mit seinen überraschend weißen Zähnen darauf herumbiß. »Echt«, sagte er dann erfreut. »Ich danke Euch, großzügiger Herr.« »Warte«, krähte der Soldat. »Sag mir, was ist eine Gresha, eine Gerosha -« »Er meinte eine Gjirza«, erwiderte Roilant. »Ein Saiteninstrument, glaube ich.« »Aha«, sagte Esur. »Ich habe mich das auch immer gefragt.« Der Soldat nickte. »Herrlicher Weijn hier. Bring noch was davon. Denk dir noch eine Lüge aus, während du ihn holst.« »Die Geschichte ist wahr. Ich bürge dafür«, setzte Esur sich zur Wehr. »Ich hörte sie vor einiger Zeit auf einem -56- Gewaltmarsch vom Sklavenmarkt in Cassireia.« »Vor einer Minute war es noch Heshbel.« Esur zeigte wieder die Zähne. »Wäre ich ein freier Mann…« »Bist du aber nicht«, sagte der Soldat und schleuderte den zu einem Viertel gefüllten Weinkelch nach ihm. Esur duckte sich mit ungewöhnlicher Behändigkeit, und der Becher, der während des Fluges voller geworden zu sein schien, landete auf dem Schoß des Gelehrten, der mit einem Schrei in die Höhe fuhr. »O Gott«, sagte der betrunkene Soldat und vergrub den Kopf in den Händen, zum Zeichen, daß er mit den kommenden Ereignissen nichts zu tun haben wollte. Es war Roilant, der die solchermaßen abgewälzte Verantwortung auf sich nahm, indem er aufstand, zu dem Gelehrten hinüberging und um Verzeihung bat. Der Gelehrte, der seine Gelassenheit wiedergefunden hatte, schüttelte den Wein aus seinem langen Gewand. »Es ist nichts. Ein Schreck, um meinen Eifer in diesem Streitgespräch nicht zu groß werden zu lassen; ein Fingerzeig Gottes, fürchte ich. Dieser Herr hier und ich befanden uns in einer ernsthaften Diskussion über verschiedene religiöse Lehren.« Der Weise auf der anderen Seite des Tisches hörte gar nicht hin. Er sah aus der Nähe ebenso struppig und unappetitlich aus wie aus der Ferne und verströmte einen schwachen, glücklicherweise nur einen schwachen, Geruch nach Ziege. Er war ganz in das Pergament vertieft, das er und der Gelehrte studiert hatten. »Trotzdem möchte ich mich entschuldigen«, sagte Roilant. »An meinem eigenen Tisch geht es etwas ungesittet zu. Ich habe mich nach einem Mann erkundigt -« -57- »- namens Cyrion. Ja, ich habe ein oder zwei Worte mitgehört. Cyrion aus Cyroam. Oder wie manche sagen, von Nirgendwo.« »Ihr kennt ihn?« Der enttäuschte Roilant war jetzt vorsichtig und fühlte sich unbehaglich. Der Gelehrte berührte ein wundervoll emailliertes Amulett an seinem Hals. Sein Gesicht war von vornehmer Blässe und angenehm, trotz Falten und wettergegerbter Haut. Eine seiner schmalen, feingliedrigen Hände löste sich von dem Amulett und legte sich kurz auf Roilants Arm. »Es tut mir leid, daß auch ich Euch enttäuschen muß. Wie all die anderen habe auch ich Geschichten über Cyrion gehört. Aber ihn kennen? Ach, wie viele von uns können schon behaupten, gar sich selbst zu kennen?« »Allmählich«, sagte Roilant, »möchte ich verzweifeln.« »O nein, tut das nicht. Ich sehe, daß Eure dritte Flasche eben gebracht wird, sehr zur Freude Eures kriegerischen Freundes. Und bald wird das Mittagessen serviert. Das Lamm ist ausgezeichnet.« Roilants Erleichterung darüber, daß er hier etwas kultiviertere Gesellschaft gefunden hatte, war nicht zu übersehen. »Wollt Ihr mir beim Essen Gesellschaft leisten? Als Entschädigung für das plötzliche Eintreffen ungebetener Getränke.« Der Gelehrte lächelte. »Ihr seid sehr liebenswürdig. Ich nehme gerne an. Dieser weise Mann fastet und nimmt den Rest der Woche nur Wein, Milch und Wasser zu sich. Ich glaube nicht, daß er etwas essen möchte.« »Wie schade«, meinte Roilant ohne Bedauern. Der Greis blickte auf, bedachte ihn mit einem wirren, fanatischen Blick und kehrte mit einem Murmeln wieder zu dem -58- Studium des Pergaments zurück. »Eigentlich gehört es mir«, gestand der Gelehrte, als er und Roilant zu dem anderen Tisch gingen. »Aber ich befürchte, er ist noch nicht fertig damit und will es gewiß nicht hergeben. Und da ich nicht möchte, daß es in Stücke gerissen wird, überlasse ich es ihm zeitweilig.« Der Soldat zeigte sich weder beschämt, noch machte er Anstalten für eine nachträgliche Entschuldigung. »Niemand«, verkündete der Soldat, »darf sich hier niederlassen, außer er pemmt, hemmt – hämmt – eine Geschichte über Skiriom, Spyrion, Cyripom. Versteht Ihr?« »Ich verstehe in der Tat«, antwortete der Gelehrte. »Eine Fähigkeit, die Ihr allmählich zu verlieren scheint.« »Ha?« »Aber ich kenne tatsächlich eine Geschichte über Cyrion, falls mein Gastgeber Wert darauf legt.« »Warum nicht«, sagte Roilant niedergeschlagen. »Es scheint alles zu sein, was mir gewährt ist.« Lärm ertönte hinter dem Vorhang, Schritte, Gelächter und das herrische Dröhnen des Gongs. Unwillkürlich blickte Roilant zum Eingang und wurde von einem Massena ndrang belohnt, dem der Wirt und zwei neue Sklaven dichtauf folgten. Roilants Gesicht zog sich nicht eben in die Länge, aber seine Enttäuschung war zu ahnen. Zu den Neuankömmlingen gehörten drei Kaufleute in farbenfroher Kleidung, in Begleitung von zwei überaus lebhaften Damen, bei denen es sich gewiß weder um ihre Ehefrauen noch Schwestern handelte, die aber jung genug waren, um als ihre Enkeltöchter zu gelten. Außerdem noch ein Karawanenbesitzer – nach seinen Bemerkungen zu urteilen -, der sehr aufgebracht zu sein schien und eine ganze Menge Staub mit hereinbrachte. Keine dieser Personen war auch nur blond, ganz zu schweigen von der -59- geschmeidigen, quecksilbrigen Eleganz, die Roilant inzwischen mit der Hauptperson der Geschichten in Verbindung brachte. »Nur Mut«, sagte der Gelehrte sanft, »habt Vertrauen. Hat Euer Schicksal Euch bestimmt, ihn hier zu finden, wird er hier herkommen. Oder Ihr werdet ihm anderswo begegnen.« »Ich muß ihn heute treffen.« Roilant schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht länger warten.« »Es scheint, daß Ihr seine Dienste dringend benötigt.« Roilant biß sich auf die Lippen. »Ich wollte nicht in Euch dringen. Nehmt einen Rat von mir an. Selbst aus Geschichten kann man vieles lernen. Allein die Tatsache, daß er zur Hauptperson so vieler Mythen geworden ist, verrät viel über Cyrion. Und wer weiß, die Geschichten könnten wahr sein. Ich habe gelernt, an Zauberei zu glauben, ebenso wie ich an Gott glaube. Und Gott ist der Herr des Gleichgewichts. Wenn es das Böse in der Welt gibt, muß es auch Männer mit der natürlichen Fähigkeit geben, das Böse zu besiegen. Wie sonst könnten wir überleben?« Roilant stimmte höflich zu. Der Soldat rülpste und bemerkte, es wäre Essenszeit. An einem Tisch in der Mitte lachten die Kaufleute grölend, und die Mädchen quiekten und klimperten mit ihren Ohrringen und Ketten. Über dem Lärm war noch die Stimme des Karawanenbesitzers zu verstehen, der dem Wirt etwas über verlorenen Weizen und einen diebischen Aufseher erzählte, der mit der Hälfte seiner Gewinne und mit seiner Sklavin durchgebrannt sei. Plötzlich schoß der weise Mann in seiner Nische in die Höhe. Er deutete auf die beiden Begleiterinnen der Kaufleute und kreischte: »Unrein und absche ulich! O Verführerinnen der Männer! O Kühe der Verschlagenheit! O Töchter des Satans! Mögen all eure Tage von Weinen und Elend erfüllt sein, und möget ihr auch im Grab keine Ruhe finden!« -60- Die beiden Frauen kicherten unbehaglich. Einer der Kaufleute, der größte, sprang auf und brüllte. Der Wirt eilte beschwichtigend herbei, und der Weise sackte wieder auf seinen Stuhl. Man brachte ihm Milch, wahrscheinlich von einer Ziege, passend zu seinem Duft. Der Gelehrte murmelte: »Schon wieder ein falsches Zitat, fürchte ich.« »Schidat«, pflichtete der Soldat ihm bei. »Lamm, mit Honig«, sagte Roilant zu einem der neuen Sklaven. »Für drei Personen«, fügte er matt hinzu. »Wart Ihr je«, fragte der Gelehrte Roilant, »in Teboras…?« Für eine Nacht »Geht nicht weiter! Ihr müßt uns begleiten.« Die Stimme kam so rau aus der blütenschweren Dunkelheit wie ein scharfes Schwert aus einer weichen Hülle und veranlaßte den Vorübergehenden tatsächlich, stehenzubleiben. Doch wandte er sich nicht um. Er war in einen Kapuze numhang aus feinster askandrischer Seide gekleidet, der sowohl sein Aussehen als auch seine Haltung verbarg. Seine Stimme, die wohlklingend und überaus sanft war, erkundigte sich: »Und warum muß ich das?« Ein heiseres Lachen ertönte. »Zum ersten, weil wir zu zweit sind und Ihr nur einer. Zum zweiten, weil Euch eine Belohnung erwartet. Zum dritten, weil mein Herr Jolan Euch bittet, und ich hier bin, um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen.« Daraufhin wurde zwischen Kapuze und Schulter ein Profil sichtbar. Ein feingemeißeltes Profil von beeindruckender Schönheit und ein Auge voll langbewimperter Unschuld. »Angenommen«, sagte das Profil, »rein theoretisch natürlich, -61- ich würde mich weigern.« Die heisere Stimme grunzte, in die Dunkelheit kam Bewegung und hörte unvermittelt auf. Die raue Stimme rief drängend: »Nein, Radri! Keine Gewalt -« Aber an dem seidenen Fremden war schon nichts mehr so wie noch eine Sekunde zuvor. Der schwarze Umhang flog zurück, die schlanke Gestalt darin schien herumzuwirbeln. Ein dämonischer Engel stand den beiden Männern plötzlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber, das nackte Schwert in seiner rechten Hand funkelte an der Kehle des einen, die ringgepanzerte Linke hielt einen tödlichen kleinen Dolch an die Rippen des anderen. Beide Männer zuckten zusammen und erstarrten dann in atemloser Überraschung. Der Engel sagte entschuldigend: »Und nun, meine Herren, seid ihr vielleicht bereit, eure Bitte etwas ausführlicher zu begründen.« Es war Mitternacht in Teboras. Mitternacht über der stillen und alten Stadt, parfümiert von dem Duft ihrer Oleanderbäume, gespenstisch mit ihren prachtvollen Ruinen, erfüllt von dem leisen Rauschen ihres tiefen blauen Sees. In diesem Viertel, hoch in den vornehmen Straßen über dem alten remusischen Forum, erwartete man fallende Blüten, gelegentlich eine reiche Kurtisane mit Sänfte und Gefolge, vielleicht sogar einen umherirrenden Geist aus einem der geheimnisvollen Tempel. Aber gewöhnlich keine Straßenräuber. Auch sahen diese beiden nicht nach Taschendieben aus. Der Größere war reich gekleidet, seine breiten Schultern spannten Ärmel aus Brokat mit Goldstickerei -, es war der mit der heiseren Stimme, der dem Fremden hatte Beine machen wollen. Der kleinere und schmaler gebaute Mann, jung und hübsch, wie seine Stimme es nicht war, und blondhaarig, trug die Kleidung eines Prinzen, und an dem breiten Goldreif um seinen Hals schimmerte das kunstvoll gemalte Bildnis einer Dame in einer Fassung aus großen Saphiren und noch größeren Rubinen. Dieser Blondschopf, vermutlich der Fürst Jolan, räusperte -62- sich, aber das Kratzen in seiner Stimme blieb. »Vergebt uns, Herr. Ich fürchte, wir waren etwas voreilig. Es ist eine Bitte, kein Befehl, daß Ihr uns begleitet. Aber Radri sprach die Wahrheit, als er Euch eine Belohnung versprach.« Die unschuldigen, leuchtenden Augen des Fremden blinzelten nicht einmal. »Natürlich erhaltet Ihr die Belohnung nur, wenn Ihr mit uns kommt.« »Wohin?« »Nun«, Jolan streckte vorsichtig die Hand aus. »In dieses Haus dort.« Eine hohe Steinmauer mit zwei festen Toren und gesäumt von überhängenden Zweigen ließ ein großes Anwesen vermuten. Es sah nicht anders aus als die meisten übrigen Häuser entlang der Straße, die dem Betrachter eine kahle, fensterlose Fassade zuwandten. Das eigentliche Ziel des Fremden lag ein paar Schritte weiter entfernt, wo ein remusischer Tempel stand, ein Bruch in der Gegenwart, mit seinen altertümlichen Säulen und seinen Gespenstern. Es war allgemein bekannt, daß es in der Nähe spukte. Auch wurde hinter der vorgeha ltenen Hand erzählt, daß man über viele Jahre hinweg auf dem benachbarten, freien Grundstück immer wieder frische menschliche Gebeine gefunden hätte. Der Fremde gehörte zu den Leuten, die sich von solchen Vorkommnissen hin und wieder angezogen fühlen. Aber auf solche Art von seinen Plänen abgeha lten zu werden, faszinierte ihn wenn möglich noch mehr. »In dem Haus«, überlegte er jetzt, während Schwert und Dolch ihre ungehörige Stellung an Halsschlagader und Lunge unverändert beibehielten, »was wird man dort von mir verlangen?« Jolan seufzte. »Herr, man wird von Euch verlangen, ein gerechtes Urteil zu fällen.« »Über wen?« -63- »Über vier Personen, zu denen ich und mein Verwalter hier gehören.« »Ich gebe zu, Ihr habt mein Interesse geweckt. Auf was soll sich dieses Urteil beziehen?« »Eine – Familienangelegenheit. Ich möchte nicht auf der Straße darüber sprechen. Wenn Ihr eintreten wollt -? Solltet Ihr in der Angelegenheit zu einer befriedigenden Entscheidung kommen, erweist Ihr uns einen größeren Dienst, als Ihr Euch vorstellen könnt. Und die Belohnung erwartet Euch in Form von Gold, Silber und Juwelen.« Der Fremde barg sein Schwert in rotem Leder, den Dolch in Seide. Es schien, daß sein Haar gleichfalls aus Seide war und silbrigblond wie der Mond, der eben über dem Forum unter ihnen aufging. »Gold, Silber und Juwelen sind unwiderstehliche Argumente.« Der Verwalter, Radri, stieß eines der großen Tore auf. Der baumbestandene Garten wurde sichtbar, bewässert von einem jetzt unsichtbaren Springbrunnen. Die Vorderfront des Hauses wurde von zwei Fackeln beiderseits des Eingangs nur unzureichend erleuchtet, aber ein Rinnsal aus rotem Licht tropfte die Stufen hinab; die bronzebeschlagene Tür stand einen Spalt offen. »Bitte, tretet ein«, sagte Jolan. »Und, da Ihr bereit seid, dieser Bitte Folge zu leisten, darf ich Euren Namen erfahren?« »Cyrion.« Die Bauweise des Hauses war etwas ungewöhnlich, aber in Teboras machte man Anleihen an die verschiedensten Epochen. Ein Marmorbecken beherrschte den Eingang, aber es befanden sich weder Blumen darin noch Fische, sondern nur eine dicke Schicht toter Blätter. Dahinter öffnete sich ein von Kerzen -64- erleuchteter Raum mit Wandmalereien und kostbaren Teppichen. Dennoch wirkte das Zimmer auf eine unerklärliche Weise ungepflegt und verwahrlost. Aber es war nicht leer. Die beiden Anwesenden erhoben sich sofort von ihren Plätzen. Der zunächststehende war ein Mann in der schlichten Robe eines Priesters, wenn die eigenartig geformten, perlenbesetzten Amulette auf seiner Brust auch eine ungewöhnliche Konfession vermuten ließen. Sein Gesicht war lang, melancholisch und fahl. Im Gegensatz dazu stand der winzige, gierig rote Mund. Bei der zweiten Person handelte es sich um eine junge Frau, klein von Gestalt und sehr schmal. Ihr Haar war gelb wie Herbstlaub und auf eine kunstvolle Art frisiert, die daran erinnerte, daß es in Teboras gerade Mode war, remusische Fresken zu kopieren. Sie war in einfaches Schwarz gekleidet, trug aber wie auch Jolan einen Goldkragen, nur bestand der ihre aus Filigran. Ihre Handgelenke waren mit Goldstreifen geschmückt, die Finger mit kostbaren Steinen. Ihr Gesicht war zugleich ernst und sinnlich, mit großen, achtsamen Augen. Außer dem Verwalter Radri war kein Diener zu sehen. Die späte Stunde und die Stille, die in dem Haus herrschte, legten die Vermutung nahe, daß das Gesinde schon zur Ruhe gegangen oder fortgeschickt worden war. Jolan stellte den Besucher vor. »Und das«, sagte er, indem er sich an Cyrion wandte, »ist meine Schwester Sabara. Und dies unser Geistlicher, Naldinus, ein Gelehrter, der auch in der Heilkunst bewandert ist. Wir vier sind es, über die Ihr urteilen sollt.« Weder der Priester noch die junge Frau schienen über die Vorgänge erstaunt zu sein. Unzweifelhaft war die ganze Familie etwas exzentrisch. Radri war inzwischen an einen geschnitzten Tisch getreten und schenkte dunkelroten Wein in fünf Pokale, aus -65- gehämmertem Silber ein. Diese reichte er herum und behielt den letzten Becher für sich. Cyrion roch an dem Getränk. Die blumige Süße interessierte ihn. »Auf unseren Gast -« In Jolans Worten lag ein feierlicher Ernst. »Und auf die Gerechtigkeit, daß sie uns zuteil werde. Endlich.« Der Geschmack des Weins interessierte Cyrion noch mehr. Die anderen vier nahmen einen tiefen Schluck, aber nur Radri goß den Inhalt seines Bechers auf einen Zug hinunter. Daß er sich überhaupt an dem Umtrunk beteiligte, war ein Zeichen für seine tiefe Verbundenheit mit dieser Familie. »Und jetzt«, sagte Jolan. Er richtete den Blick auf Cyrion. »Wenn Ihr bereit seid -« »Ich bin bereit«, erwiderte Cyrion. »Für eine Erklärung.« »Die sollt Ihr haben, sehr bald. Vorher muß ich Euch etwas zeigen. Den Grund für Euer Hiersein. Den Grund, weshalb wir verlangten – ich meine natürlich baten -, daß Ihr mit uns kommt. Radri, geh voran.« Der Verwalter griff nach einem schweren Leuchter, hielt ihn mit einer Mühelosigkeit, die einiges über seine Körperkraft aussagte, und verschwand wortlos hinter einem Wandbehang, den er beiseite schob. Der Priester folgte ihm sofort, ebenso das Mädchen. Jolan drängte Cyrion mit hastigen Bewegungen, sich ihnen anzuschließen, und ging selbst als letzter. Das Zimmer führte, ziemlich überraschend, in einen Garten. Sie folgten Radri auf einem Pfad zwischen hohen Büschen zu einem kleinen, von Säulen getragenen Gebäude. Auf den ersten flüchtigen Blick hätte man es für ein Sommerhaus halten können, aber daß es keine Fenster hatte, verriet seine wahre Bestimmung: Es war ein Grabmal. »Ihr dürft nicht erschrecken«, sagte Jolan rasch. Er warf einen Blick in Cyrions Gesicht, das aber nichts weiter ausdrückte als -66- höfliche Aufmerksamkeit, obwohl Radri e ben daranging, die Tür der Grabstätte zu öffnen. Vielleicht bemerkte der Gast, wie beinahe gewohnheitsmäßig das alles vor sich ging: seine Begrüßung, der Weg durch den Garten und wie seine Gastgeber jetzt der Reihe nach durch die Tür gingen. Als wäre es nicht das erste Mal, daß so etwas geschah. Als wäre es schon oft geschehen. Das Innere der Grabstätte war gleichfalls ungewöhnlich, hauptsächlich, weil es wie ein Schlafzimmer hergerichtet war. Auch hier gab es Fresken und Wandbehänge, Lampen und Kerzen, die Radri jetzt eine nach der anderen entzündete. Es gab gepolsterte Ruhebetten, Stühle und kleine Tische und Teppiche. Ein Himmelbett mit geschlossenen Vorhängen beherrschte den Raum. Jolan trat an das Bett und zog die Vorhänge beiseite. Dann verkündete er mit seiner rauen Stimme, die jetzt noch heiserer klang: »Meine zweite, ältere Schwester, Marival.« Sie lag auf den bestickten Laken. Das runde Kinn war eine wenig geneigt, ihre warmen Lippen lächelten, ihre kaum bedeckten Brüste schimmerten, als wären sie eben erst liebkost worden. Ihre Haut war weißer als Marmor, das dunkle Haar für die Nacht gelöst. Sie war nach einer längst vergangenen Mode gekleidet, in der ihre Schönheit vollendet zur Geltung kam, und so reich geschmückt, daß es überladen gewirkt hätte, wäre sie noch am Leben gewesen. Aber da sie unzweifelhaft tot war, konnte selbst ein Künstler kaum etwas daran auszusetzen haben. Jolan lehnte sich gegen die Mauer und begann zu schluchzen. Radri fluchte und vermied es, einen Blick auf das Bett zu werfen. Der Priester murmelte irgendein unverständliches Gebet. Sabara, die lebende Schwester, trat vor und wandte sich an Cyrion: »Sie ist wunderschön, oder nicht? Findet Ihr sie reizvoll? Jeder fand das. Schöne Marival. Herrliche Marival. Haltet Ihr sie für schön und herrlich?« »Ich halte sie«, erwiderte Cyrion, »für tot.« -67- »O ja. Aber ihr Glanz lebt weiter. Seht meinen Bruder an, er weint wie ein Kind. Und hört, wie Radri flucht. Selbst Naldinus bleibt nicht unberührt.« »Und Ihr?« fragte Cyrion. »Ich«, antwortete Sabara, »bin eifersüchtig auf sie, sogar jetzt noch.« Der Priester richtete zum erstenmal das Wort an Cyrion. »In diesem Haus, Herr, kennt man gewisse Zauberkräfte, bestimmte Künste. Als Marival starb, gebrauchte ich eine bestimmte Medizin aus Aigum, in deren Handhabung ich bewandert bin, um sie einzubalsamieren und ihren Leib vor Verwesung zu schützen.« »Sie starb also, und Ihr habt sie einbalsamiert«, meinte Cyrion. »Ich sehe nicht recht, weshalb in diesem Zusammenhang ein Urteilsspruch nötig sein sollte.« Jolan fuhr herum, seine Augen brannten. »Einer von uns, einer von uns vieren, die sich hier mit Euch in diesem Raum befinden, hat sie getötet. Einer von uns hat Marival vergiftet. Ihr müßt entscheiden, wer.« »Muß ich?« Cyrions Unglaube war grenzenlos. Jolan rieb sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen. »Ja. Ihr müßt. Für eine Umkehr ist es zu spät. Einer von uns ist krank vor Schuld und will nicht, kann nicht – gestehen. Wir alle brennen in der Hölle, und Ihr müßt uns befreien. Ihr müßt herausfinden, wer von uns der Mörder ist.« Cyrion war rührend arglos. »Wie?« »Indem wir Euch einen Bericht über unsere Taten und Handlungen an dem Nachmittag ihres Todes geben.« »Ich vermute«, wandte Cyrion ein, »Euch wäre besser gedient, wenn Ihr Euch um Wiedergutmachung an das Gesetz wenden würdet. Der Stadthalter von Teboras soll ein fähiger Mann sein, habe ich gehört. Oder Ihr könntet Euren Fall dem -68- König in Heruzala vortragen -« »Nein. Das Gesetz ist für uns nutzlos.« »Höchstwahrscheinlich ich auch.« Jolan lächelte unangenehm, und jetzt paßte seine Erscheinung zu seiner wenig schönen Stimme. »Ihr habt keine Wahl mehr. Naldinus sprach von Künsten und Zauberkräften, die in dieser Familie bekannt sind, und er sprach die Wahrheit. Ich will Euch jetzt verraten, daß dieses Haus nicht so ist, wie Ihr es seht, ebenso verhält es sich mit uns. Selbst unsere Namen wurden geändert, um sicherzustellen, daß Ihr dieses Haus ohne Vorurteile betretet. Warum sollten wir uns solche Umstände machen, wenn wir es nicht ernst meinten? Und dieselben Zauberkräfte sind auch in der Lage, Euch in dieser Kammer festzuhalten, als unser Gefangener, bis Ihr getan habt, worum wir Euch bitten, nein, was wir von Euch verlangen. Versucht die Tür.« Cyrion blickte sich fragend um. Die durch Magie veränderten (wenn es so war) Bewohner des Hauses betrachteten ihn eindringlich. Um ihnen gefällig zu sein, trat er an die Tür der Grabstätte und bewegte den Griff. Die Tür öffnete sich nicht. Nicht nur das. Nach dem dritten Rütteln verschwand sie, langsam, aber unaufhaltsam. Die Mauer war leer, der Griff Luft – vielleicht war es nur eine Sinnestäuschung, aber von der Art, die Augen, Ohren und Tastsinn beeinflußte. Die betäubende Stille völliger Abgeschlossenheit breitete sich in dem Grab aus. Die Mauer war glatt und eben unter Cyrions Handfläche. Cyrion drehte sich um und betrachtete seine Gefängniswärter mit gelassener Ruhe. »Mit der Hilfe Eurer magischen Kräfte solltet ihr selber herausfinden können, wer von Euch Marival tötete.« »Wo Emotionen in die Magie einfließen, wird sie unzuverlässig und nutzlos«, sagte Jolan. »Wir konnten nicht – waren nicht in der Lage -« -69- »Wir brauchen«, bemerkte Naldinus zuvorkommend, »einen unparteiischen Helfer. Wenn Ihr wollt, betrachtet es als ein Geschick, das uns auferlegt ist. Wir können uns selbst nicht helfen, dennoch warten wir verzweifelt auf Hilfe. Selbst der Mörder«, ein Schleier senkte sich über Naldinus’ verschlagene, bekümmerte Augen, »selbst er – oder sie – wartet vielleicht verzweifelt darauf, überführt zu werden. Entlarvt zu werden.« »Angenommen, ich finde heraus, wer von Euch der Missetäter ist und dieser Missetäter, entgegen Euren Hoffnungen, Vater, weigert sich zu gestehen?« »Man hat uns – ein Zeichen versprochen«, sagte Jolan und wich Cyrions Blick aus. »Ein unmißverständliches Omen, sobald die Wahrheit ans Licht gekommen ist. Ihr müßt sie nur herausfinden.« »Und vergeßt nicht«, fügte Sabara hinzu, »das Gold, Silber und die Juwelen, die Eure Belohnung sein werden.« »Und wenn ich mich irre?« Die hölzerne Stille vertiefte sich. Cyrion lauschte ihr einen Augenblick und sagte dann: »Der Grund, warum ich das erwähne, ist die gar nicht so abwegige Erkenntnis, daß Ihr schon häufiger mitternächtliche Spaziergä nger eingeladen habt, für Euch den Richter zu spielen. Und da jetzt ich hier bin, bleibt nur der Schluß, daß meine Vorgänger erfolglos waren. Worin also besteht Eure Belohnung für Mißerfolg?« Radri, der Verwalter, grinste ihn über die von Kerzen erleuc htete Grabkammer hinweg an. »Tod.« Inzwischen wäre es jedem klargeworden, daß diese Familie nicht nur exze ntrisch, sondern vollkommen verrückt war. Bei dem dauernden Brüten über den Mord waren ihre Gehirne sauer geworden wie alte Milch. Es schien, daß sie immer wieder töten würden, gewissenlos, um dieses erste Verbrechen auszutilgen, das für sie eine so ungeheure Bedeutung angenommen hatte. -70- Man konnte diese Drohung für eine faule Lüge halten, schlimm genug aus dem Munde ve rrückter Zauberer. Aber Cyrion hatte die Gerüchte über die Menschenknochen neben dem remusischen Tempel nic ht vergessen. Geschichten von Gespenstern waren eine Sache; hier lag vielleicht ihr wahrer und grausiger Ursprung. Cyrion lächelte sein bezauberndsten Lächeln und setzte sich mit schlichter, unnachahmlicher Eleganz auf den nächsten Stuhl. Die Mitglieder dieser zweifelhaften Familie warfen sich unbehagliche Blicke zu. Wie viele Opfer sie auch immer in diese Falle gelockt hatten, so war es nie gewesen. »Nun«, meinte Cyrion, mit einem Hauch charmanter Ungeduld, »dann solltet Ihr jetzt anfangen, meine Freunde. Einer nach dem anderen, ein Bericht über Eure Beziehungen zu der Toten und ihren letzten Nachmittag in Eurer Gesellschaft. Ich werde Fragen stellen, wo ich es für nötig halte.« Es folgte ein kurzer, aber heftiger Streit. Schließlich blieb es Radri überlassen, den Anfang zu machen. Radri war, erklärte er, Soldat gewesen, und auf dem Schlachtfeld hatte er erstmals unter Jolans Vater gedient. Später hatte dieser Fürst ihn als Verwalter in sein Haus geholt, wo Radri mehr als Verwandter denn als Diener behandelt wurde. Die Nachkommen des Fürsten, Jolan, Sabara und das älteste Kind, Marival, hatten diese Gewohnheit beibehalten. Tatsächlich hatte Marival, deren Schönheit Stadtgespräch war, Radri besondere Gunst bezeigt. Ja, Marival, die unter den reichsten Aristokraten der Stadt wählen konnte, hatte diese verschmäht und Radri den Vorzug gegeben. »Sie sind Schoßhunde«, hatte Marival beteuert, »Äffchen, zu nichts anderem gut, als Sahne aus einer Schüssel zu lecken. Beim Anblick von Blut fallen sie in Ohnmacht. Sie denken an nichts anderes, als an das neueste Liebeslied. Sie haben so viel Kraft wie eine welke Blume. Aber du«, flüsterte sie Radri ins Ohr, -71- »bist stark wie ein Löwe. Du bist ein Mann.« »Du bist ein Lügner!« heulte Jolan an dieser Stelle. »Schon wieder besudelst du den Namen meiner Schwester mit deinen absurden und schmutzigen Hirngespinsten.« »Ihren Namen besudeln? Sie hatte mich in ihrem Bett und nicht nur in ihrem Bett«, brüllte Radri. »Sie konnte den Hals nicht vollkriegen. Sie lachte über die anderen, wie sie auch über dich lachte. Alles war in Ordnung, solange ich dein Freund war, Fürst Jolan, aber als ich mich ihr zuwandte – welcher Mann hätte das nicht getan -, lief der Hase plötzlich anders. Ich habe mich oft gefragt«, knurrte er, »wen du mehr beneidet hast: mich, weil ich Marival besaß, oder Marival, weil sie mich besaß.« Jolan, das Gesicht so gelb wie das Haar, umkrampfte den juwelenbesetzten Dolch in seinem Gürtel, ließ die Hand aber resignierend wieder sinken. »Soll er weiterreden«, murmelte er. »Meine Stunde wird kommen.« Mit einem herzhaften Fluch setzte Radri seinen Bericht fort. Er sagte, daß Jolan, angetrieben von derselben perversen Besitzgier, von der er eben eine Kostprobe gegeben hatte, schließlich auf den Gedanken kam, seine gesamte Familie im Haus einzuschließen. Dafür hatte er sich irgendeinen verrückten Vorwand ausgedacht. Mach einiger Zeit verließen die Diener das Anwesen, zermürbt von der Besessenheit, die immer mehr von Fürst Jolan Besitz ergriff. Daraufhin schloß Jolan die Tore und v erriegelte die Türen. Es schien geraten, ihn gewähren zu lassen. Sabara hatte sich zurückgezogen, wie es ihre Gewohnheit war; Naldinus hatte sich in seine wissenschaftlichen und religiösen Studien vertieft. Jolan hatte abwechselnd getobt und Trübsal geblasen. Was Marival und Radri betraf, so hatten sie einander und vertrieben sich die Zeit mit immer neuen Liebesspielen. Schließlich aber hatte einer von Jolans Plänen schwarze Frucht getragen. Er hatte seine ältere Schwester -72- bestürmt, mit einem ganz besonders adligen Schlappschwanz aus der Stadt die Ehe einzugehen. Da sie unter der Munt ihres Bruders stand – er war das Oberhaupt der Familie -, wurde Marival kleinmütig. An dem betreffenden Nachmittag war sie lustlos und gereizt und wehrte sich gegen Radris Zärtlichkeiten mit der Bemerkung, daß sie sich daran gewöhnen müsse, ohne das Glück seiner Umarmung zu l ben, ihr Bruder habe es so e bestimmt. Es hatte einen Streit gegeben, der zu guter Letzt damit endete, daß Marival sich doch in Radris starke Arme warf und ihn bat, sie aus diesem Haus zu befreien, das ein Gefängnis geworden war. Radri, obwohl es ihn hart ankam, das Vertrauen seines früheren Herrn zu mißbrauchen, stimmte endlich zu. Unter leidenschaftlichen Treueschwüren hatten die Liebenden sich getrennt, nachdem sie vereinbart hatten, in der Nacht, wenn alles schlief, das Wagnis zu unternehmen. Radri sollte die Tore aufbrechen und er und seine Liebste konnten in ein neues Leben fliehen, dem Reichtum entsagend, aber geborgen in ihrer Liebe. Als er Marival verließ, berichtete Radri weiter, hatte er das ungute Gefühl, daß ihr Plan vielleicht belauscht worden war. Auf dem Gang begegnete er der Lady Sabara, die ihm zu verstehen gab, sie sei auf dem Weg in das Zimmer ihrer Schwester. Radri hielt es aber für möglich, daß Sabara an Marivals Tür gelauscht hatte, dann in ihr Zimmer flüchten wollte, es aber nicht mehr erreichen konnte, ohne von ihm, Radri, entdeckt zu werden. Also war sie umgekehrt, um den Eindruck zu erwecken, sie wäre eben erst auf den Gang hinausgetreten. Sabara hegte einen natürlichen und beständigen Haß gegen ihre Schwester wegen deren großer Schönheit und ihrer Macht über alle Männer, während sie mit ihrer Lesewut und ihren hochnäsigen Ansprüchen keinen einzigen Verehrer aufzuweisen hatte. Andererseits war es immer noch besser, von Sabara belauscht zu worden zu sein, als von Jolan. Radri hatte alle Bedenken beiseite geschoben und sich darangemacht, seine Flucht mit Marival vorzubereiten. Aber während sie an diesem -73- Abend zu Tisch saßen, hatte Marival plötzlich nach Atem gerungen, sich an den Hals gefaßt, an die Seite und war dann ohnmächtig vom Stuhl gesunken. Aus der Ohnmacht entwickelte sich ein tobendes Fieber, und das Fieber führte zu tiefer Bewußtlosigkeit. Ihr glühendhe ißer Leib wurde eiskalt, ihr rasender Puls begann zu flattern, sie schrie laut vor Schmerz und war denn still. Naldinus behandelte sie, aber all seine Kunstfertigkeit war umsonst, sie starb um Mitternacht. Daß sie einem schnellwirkenden Gift erlegen war, bezweifelte keiner der Hinterbliebenen. Vielleicht war ihr das tödliche Mittel während des Essens beigebracht worden. Radri hatte die Speisen aufgetragen, da es sonst keinen Diener mehr im Hause gab, aber es konnte durch den Tod seiner Herzliebsten nichts gewinnen, nur alles verlieren. Auch gab es noch andere, die ihr die Schüsseln angereicht hatten; Jolan zum Beispiel hatte ihr Wein eingeschenkt, kurz bevor sie zusammenbrach. Dann war da Sabara, die in Marivals Zimmer gegangen war. Bei den magischen Kräften der Familie gab es mehr als genug Möglichkeiten, jemanden zu töten. Ein vergifteter Ring, ein präparierter Handschuh, selbst in einem Parfumflakon konnte sich der Tod verbergen. Es war denkbar, daß Sabaras Haß die Überhand gewonnen hatte. Vielleicht hatte sie selbst Absichten auf Radri gehabt Radris Bericht wurde aber von einem leisen, doch rasiermesserscharfen Lachen aufrichtiger Belustigung unterbrochen. Mit einem Ausdruck geringschätziger, stählerner Heiterkeit wandte Sabara ihm den Rücken zu. »Oder«, schrie Radri, »die Hündin rannte zu ihrem Bruder, und Fürst Jolan, verdammt sei sein schlappes wertloses Fell, ergriff die Gelegenheit, sich auf diese Art an uns zu rächen.« »Ich danke Euch«, bemerkte Cyrion mit allergrößter Höflichkeit. »Wer will als nächster seine Geschichte erzählen?« Die leichte Betonung des Wortes›Geschichte‹entging den Anwesenden. Es war Jolan, der sich aufraffte. -74- Um es von Anfang an klarzustellen, so sagte er und begann eine unruhige Wanderung durch die Grabkammer, stimmte es nicht, daß Radri für irgendeinen von ihnen mehr gewesen sei als ein Diener. (Radri fluchte nachdrücklich und mit melodramatischer Leidenschaft.) Sicher war Jolan ihm freundlich gegenübergetreten, aber nur, weil es nicht seine Art war, Untergebene herablassend zu behandeln. (Radri johlte höhnisch.) Daß es Radri nach Marival gelüstete, hatte Jolan schließlich bemerkt, aber aus Taktgefühl versucht, darüber hinwegzusehen. Er vertraute darauf, daß der Verwalter seine unangebrachte Begierde beherrschen würde. Und Marival, die daran gewöhnt war, von jedem, der sie sah, angebetet und verehrt zu werden, bemerkte wahrscheinlich gar nichts davon. Dann begann Jolan zu vermuten, daß Radri, statt schweigend zu leiden, versuchte, sich Marival aufzudrängen. Sobald er merkte, wie die Dinge sich entwickelten, beschloß Jolan, etwas zu unternehmen. Er verhandelte über eine Eheschließung zwischen Marival und einem der reichsten und vornehmsten Männer der Stadt, zu der Marival freudig ihre Zustimmung gegeben hatte. Eines Morgens hatte er Radri überrascht, wie er versuchte, das Mädchen zu vergewaltigen. Marival war so beschämt und verzweifelt, daß sie kaum etwas hatte sagen können. Im ersten Zorn wollte Jolan den Mann augenblicklich davonjagen, aber seine unterwürfige Bitte um Vergebung, der Anblick von Radri, wie er vor Zerknirschung und Reue buchstäblich auf die Knie fiel, und die Erinnerung an die vorangegangenen Jahre treuer Dienste, veranlaßten Jolan, seine Entscheidung hinauszuschieben. (Radri gab einen Laut von sich, der bestimmt nichts mit Tränen der Dankbarkeit zu tun hatte.) »Dann«, sagte Jolan laut mit seiner rauen, belegten Stimme, »griff das Schicksal ein. In den ärmeren Vierteln von Teboras brach eine Seuche aus. Sie verlief ausnahmslos tödlich. Solche Krankheiten können sich ausbreiten wie ein Waldbrand, und wer es sich leisten kann, flieht aus der Stadt. Aber damit überläßt er -75- seinen Besitz der Gnade der Plünderer. Deshalb sandte ich unsere Diener auf ein mehrere Meilen von der Stadt liegendes Gut meines Vaters. Dieses Haus hier ist durch einen eigenen Brunnen unabhängig, und ich versorgte uns eilig mit einem Vorrat an Brot und Fleisch. Wie viele andere, die dazu in der Lage waren, hatte ich vor, mich und meine Familie in diesem Haus einzuschließen und keine Verbindung nach draußen aufzunehmen, bis die Seuche sich ausgetobt hatte. Als Radri sich weigerte, mit den anderen Dienern zu gehen, was sollte ich tun? Ich ließ mich von Mitleid blenden und erlaubte ihm, bei uns zu bleiben. Ich muß ein Narr gewesen sein, daß ich glauben konnte, seine Treue zu unserem H und Namen wäre größer aus als die schurkischen Instinkte seiner niederen Herkunft.« »Glaubtest du?« donnerte Radri. Er stürzte sich auf Jolan, mit feuerrotem Gesicht und Muskeln, die ein eigenes, mörderisches Leben zu entwickeln schienen. »Und hast du auch geglaubt, wir würden dir deinen albernen Vorwand abnehmen? Seuche! Welche Seuche? Ich habe nichts davon gesehen. Es war eine Lüge, um uns in deine Gewalt zu bringen. Aber selbst da warst du zu schwach, um uns zu beherrschen. Deine Schwester mußte dich bei Laune halten und ich – ich blieb, um Marival zu beschützen, aber ich habe versagt.« Er hatte Jolan am Hals gepackt und machte Anstalten, ihn zu erwürgen. Jolan seinerseits hatte den Dolch gezogen. Sabara wandte steif das Gesicht ab. Cyrion saß unbeweglich da und beobachtete. Es war der heilkundige Priester, Naldinuns, der sich zum Eingreifen bemüßigt fühlte und jedem der beiden Männer eine seiner langen, schlaffen Hände auf die Schulter legte. »Nein, nein«, murmelte er salbungsvoll, »nicht jetzt. Ihr dürft jetzt nicht kämpfen. Dieser edle Herr ist bei uns, um ein Urteil zu fällen. Wie kann er urteilen, wenn ihr die Zeit mit Prügeleien vergeudet?« Jolan und Radri ließen voneinander ab. Radri warf sich auf ein Ruhelager, zog ein mürrisches Gesicht und rieb sich wie ein -76- Affe die Brust. Jolan nahm seine unterbrochene Wanderung nicht wieder auf, sondern fuhr mit gesenktem Kopf in seiner Berichterstattung fort. Fünf Menschen, zusammen eingesperrt, ohne Abwechslung oder die Möglichkeit, sich aus dem Weg zu gehen – so hatte das Drama rasch seinen Höhepunkt erreicht. Marival hatte bei einem Wortwechsel ihren ganzen Ekel und ihre Verachtung über Radri ausgeschüttet, was Sabara bis in ihr Zimmer an der anderen Seite des Gartens hatte hören können. Daraufhin war Marival zu Jolan gekommen, weil sie die Rache des lasterhaften Verwalters fürchtete. Jolan kam zu dem Schluß, daß Radri unter allen Umständen das Haus verlassen mußte, und nahm sich vor, ihm das gleich nach dem Abendessen mitzuteilen. Während des Essens aber wurde Marival krank. Um Mitternacht starb sie. Jolan konnte sich nicht verzeihen, daß er nicht früher gehandelt hatte. Er war überrumpelt worden, da er angenommen hatte, Radri würde eher körperliche Gewalt anwenden als seine Zuflucht zu dem hinterhältigeren Gift nehmen. Aber in Naldinus’ Zelle lagerten viele Kräuter und Mittel, von denen manche tödlich waren, und vielleicht besaß der Verwalter einiges Geschick im Aufbrechen von Schlössern. Es wäre ihm nur zu leicht möglich gewesen, ein Körnchen Gift in Marivals Weinbecher fallen zu lassen, während er sie bediente. Da er ihr eine glückliche Heirat mit einem Mann ihres eigenen Standes nicht gönnte, hatte der Elende sie auf die qualvollste und langwierigste Art umgebracht, die er sich nur hatte denken können. Jolan begann von neuem zu weinen. Er warf sich auf dasselbe Ruhebett, auf dem auch Radri schmollte, und vergrub sein Gesicht in den Armen und den Kissen. »Ich vermute«, bemerkte Sabara und kam hinter der Couch hervor, um vor Cyrion stehenzubleiben, »daß Ihr Euch eine höchst romantische und schme ichelhafte Meinung über meine wunderschöne tote Schwester gebildet habt. Ich bin sicher, Ihr -77- seid kurz davor, Euch in sie zu verlieben, ungeachtet der Tatsache; daß sie eine Leiche ist. Bevor wir in dem Spiel fortfahren, habe ich deshalb den unliebenswürdigen, aber brennenden Wunsch, Euer Bild von ihr zu korrigieren.« Sabara warf einen langen, harten Blick über die Schulter auf die einbalsamierte Frau auf dem Totenbett. Ihre Augen wanderten über die durchscheinenden, lockenden Glieder, die Flut der mitternachtsschwarzen Haare, das zarte Gesicht, das nur darauf zu warten schien, von dem Kuß eines Liebhabers geweckt zu werden. »Sie«, sprach Sabara weiter, »war nichts anderes als ein Dämon. Glaubt Ihr an Dämonen, Herr? Es gibt sie. Lebte sie, noch, würde sie es Euch beweisen. Denn Euch hätte sie um jeden Preis haben müssen.« Sabaras zynische Augen, gesprenkelt von dem Schatten ihrer langen, dichten Wimpern, richteten sich auf Cyr ion. »Euer Aussehen, versteht Ihr, hätte sie herausgefo rdert. Obwohl meine Schwester, um ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sich um die Aufmerksamkeit eines jeden Mannes bemü hte. Gleichgültig, was sein Beruf war, seine Berufung oder sein Stand, oder wie er aussah, Marival mußte ihn vor sich auf Knien sehen. Und ihn anschließend in ihr Bett locken.« Hinter ihr grollte Radri; Jolans Schluchzen wurde lauter, aber Sabara kümmerte sich nicht darum. »Ihr müßt nicht denken«, fuhr sie fort, »daß mich ihr Mangel an Anstand störte. Sie war eine Hure, ohne die Aufrichtigkeit einer Hure, aber dafür verdamme ich sie nicht.« »Nein«, höhnte Radri. »Du verdammst sie für ihre Schönheit, du dürre Kröte.« »O nein. Dafür haßte ich sie, für ihre Schönheit. Weil kein Mann, der dieses Haus betrat, einen Blick für mich hatte, wenn er sie anschauen konnte; weil ich seit meinem dreizehnten Lebensjahr um die wenigen Männer betrogen wurde, von denen beachtet zu werden ich mir gewünscht hätte – ja, dafür hasse ich sie. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich sie verdamme.« Sabara verdammte Marival, erklärte sie, für den Unfrieden, -78- den Marival in ihrem eigenen Haushalt gestiftet hatte. Die Kammerdiener, die Gärtner, die Küchenjungen verführte sie der Reihe nach und ließ sie fallen, was zu ständigen Zwistigkeiten und Prügeleien führte. Sabara verdammte Marival für die sträfliche Nachsicht, die sie sich erschmeichelt hatte, erst von ihrem Vater und dann von ihrem Bruder Jolan. Denn auch Jolan war zu einem liebeskranken Anbeter geworden, so hoffnungslos und rasend wie alle anderen. »Ich weiß nicht«, meinte Sabara kühl, »ob er je mit ihr geschlafen hat, aber es würde mich nicht überraschen. Und ich hätten auch keinen Anstoß daran genommen, wäre sie nicht die gewesen, die sie war. Aber Radri und Jolan aufeinander zu hetzen -« Radri war Marivals Favorit gewesen, wahrscheinlich aus dem einfachen Grund, das er ein bäuerischer und rücksichtsloser Grobian war. Unter den Heerscharen von Männern, mit denen Marival ihre Spiele trieb, war er der einzige, der sie rau behandelte, und diese neue Erfahrung mußte köstlich gewesen sein. Aber schließlich vermochte auch Radris schlechtes Benehmen sie nicht mehr zu fesseln. Also ließ Marival es geschehen, daß das Geheimnis offenbar wurde, von dem nur Jolan, blind vor Liebe, nichts gewußt hatte. Sie richtete es ein, daß Jolan sie und Radri zwischen den Sträuchern an der Mauer überraschte. Sie sorgte dafür, daß Radri hören konnte, wie sie zu Jolan schlecht über ihn sprach. Marival jammerte danach, mit einem reichen Adligen verheiratet zu werden. Sie erzählte Radri, daß Jolan für sie eine Heirat mit einem Mann arrangieren würde, der nicht so ein Schwein wäre wie Radri, dessen Kunststücke im Bett ihr Übelkeit verursachten; sie erzählte Jolan, er sei ein Muttersöhnchen, bei dessen Beerdigung sie in Radris Armen tanzen würde. Auf ihre Art waren die beiden Männer einmal Freunde gewesen. Sie machte dem ein Ende. Marival brachte sie zu einem Punkt, an dem jeden Augenblick einer den anderen erschlagen konnte. Oder sie. Oder jeder von ihnen den Rivalen -79- und die Frau. Es w nur eine Frage der Zeit gewesen. Und ar Marival hatte es genossen. »Ich befürchte«, schloß Sabara, »daß ich in diesem Haus die Zeugin gewesen bin. Ich blieb meistens unbeachtet, aber ich habe alles gesehen. Wer immer sie getötet hat, wagt es nicht zuzugeben, weil er den Haß der anderen fürchtet. Aber ich sage, er hat uns einen Dienst erwiesen. Sie war eine Teufelin. Sie war verantwortlich für den Tod der Unglücklichen, die sich selbst das Leben na hmen oder ihre Rivalen töteten, alles aufgrund ihrer Einflüsterungen. Oder sie ruinierte ihr Leben so gründlich, daß jeder von ihnen heute ein lebender Toter ist. Ich habe es oft miterlebt. Sie hätte noch mehr und größeres Unheil angerichtet. Ihr Hochmut und ihre Verderbtheit wuchsen. Nein, wer immer sie tötete, er sollte nicht verurteilt werden. Sie verdiente Gift. Es war nötig, unvermeidlich, daß sie aus der menschlichen Gesellschaft entfernt wurde.« Stille trat ein. Sahara senkte den Kopf. Cyrion meinte ruhig: »Und habt Ihr bei dem Streit zwischen Radri und Eurer Schwester gelauscht?« »Das war nicht nötig. Ich hörte das Geschrei durch den ganzen Garten. Wie sonst könnte ich wissen, wie sie seine Bettgewohnheiten beschrieb? Und später hörte ich einen ähnlichen Wortwechsel zwischen ihr und unserem Bruder. Sie hatte kräftige Lungen, meine Schwester, zwei solche Schlachten an einem Tag auszufechten. Obwohl ich mich entsinne, daß sie an diesem Tag besonders reizbar war. Nichts war ihr recht, selbst das Wetter war zu heiß, dabei war es eigentlich mild; selbst der Wein schmeckte sauer. Sie konnte es kaum erwarten, Jolan und Radri mit gezückten Klingen aufeinander losgehen zu sehen. Sie versuchte alles, um einen Zweikampf herbeizuführen.« »Und seid Ihr«, fragte Cyrion im Gesprächston, »zu Eurer -80- Schwester gega ngen, nachdem Radri sie verlassen hatte?« Vor Sabaras Augen senkte sich ein Schleier der Wachsamkeit. Sie verhielt sich sehr still, als sie sagte: »Ja, ich wollte sie bitten, den Unfrieden in unserem Haus zu beenden. Nur sie konnte es tun. Aber sie wollte nicht.« »War das die Gelegenheit, bei der der Wein sauer schmeckte?« Sabaras Augen und Lippen wurden schmal. »Sie behauptete es.« »Vielleicht«, meinte Cyrion leichthin, »war etwas in ihren Becher gefallen?« Sabara zuckte zusammen. Der Widerschein der Kerzen auf ihrem goldenen Kragen flackerte im Rhythmus ihres Pulsschlags. »Beschuldigt Ihr mich?« Cyrion lächelte entwaffnend. »Wie könnte ich? Da ist noch jemand, den es anzuhören gilt.« Der Priester Naldinus schien mit den Schatten neben dem Bett verschmolzen zu sein und war fast so unsichtbar wie die verschwundene Tür des Grabmals. Jetzt, mit einem leichten Erschauern, schüttelte er die Dunkelheit ab und glitt ein oder zwei Schritte vorwärts, wie auf geölten Gleitschienen. »Ich bin, Herr, durchaus bereit zu sprechen. Aber es besteht wirklich nicht die geringste Möglichkeit, daß irgendein Verdacht auf mich fällt. Ich hatte durch einen Mord an der Lady Marival nichts zu gewinnen. Ich bin hier nur in meiner Eigenschaft als geistlicher Beistand dieses Hauses und sein Arzt. Ich habe sie alle behandelt, im Laufe der Zeit.« »Eben deshalb«, sagte Cyrion. »Erzählt mir von Eurem Wissen über Kräuter.« Naldinus vollführte eine bescheidene Handbewegung. Sein -81- winziger roter Mund saugte die Luft ein und erinnerte dabei fatal an eine jener Blumen, die ihre Blätter um Insekten schließen und sie anschließend verdauen. »Ich betrachte mich als Experimentator und Erneuerer. Ich verbringe einen großen Teil meiner Zeit damit, alte Schriften zu studieren. Ihr wäret erstaunt über den Reichtum an Wissen, den man sich aneignen kann, wenn man bei solchen Forschungen rückwärts schreitet, statt voran.« »Nicht unbedingt«, erwiderte Cyrion. »Die Einbalsamierung dieser Dame ist eine beeindruckende Leistung. Habt Ihr die ganze Prozedur selbst durchgeführt?« »Aber ja. Der Uneingeweihte würde sie etwas unangenehm finden, fürchte ich.« »Aber Ihr seid darin eingeweiht?« »Ich habe solche Arbeiten schon vorher durchgeführt. Oh, nicht an Menschen, versteht mich recht. Aber an Tieren, als Experiment.« Cyrion schien fasziniert. »Als wahrer Gelehrter seid Ihr natürlich in der Lage, Euch über so kleinliche Bedenken wie etwa die – dazu noch äußerst fraglichen – Schmerzen des Subjekts hinwegzusetzen. So viele kluge Männer haben sich von solch dummen Überlegungen abhalten lassen. Und das Ergebnis – nichts.« »In der Tat.« Naldinus lächelte, sein kleiner Mund dehnte sich bis zum Gehtnichtmehr. Sein melancholisches Gesicht erhellte sich. »Natürlich wünscht man nicht, irgendeinem Lebewesen unnötigen Schmerz zuzufügen – aber ich kann hart sein, wo es sein muß.« »Immerhin«, fügte Cyrion hinzu, »wurden die Tiere erscha ffen, um den Menschen zu dienen. Ihre dekorativen Eigenscha ften sind purer Zufall.« Naldinus strahlte. Eine verwandte Seele! Jeden Augenblick konnte sein Mund die -82- Grenzen seiner Dehnbarkeit überschreiten. »Aber sagt mir«, fragte Cyrion, und der Priester beugte sich bereitwillig vor, »seid Ihr nie von der großen sinnlichen Ausstrahlung der Lady Marival in Versuchung geführt worden?« Naldinus’ Züge versteinerten, erstarrten. »Herr. Ich bin ein Priester. Ich lebe im Zölibat.« »Zugegeben. Aber wenn sie, wie bereits angedeutet wurde, von dem gesamten männlichen Geschlecht ihren Tribut verlangte, seid vielleicht auch Ihr nicht von ihren Bemühungen verschont geblieben.« Naldinus sagte stolz und kalt: »Also will ich es zugeben. Sie versuchte ihre Ränke auch bei mir. Aber für einen Mann, dessen Verstand seine fleischlichen Begierden überwiegt, war es nicht schwer, ihr zu widerstehen.« »Ganz recht. Weit erstrebenswerter, eine lebende Maus zu sezieren, als vor dem Honigtopf einer Frau den Bären zu spielen.« Naldinus blinzelte. »Und trotzdem«, beharrte Cyrion, »versuchte sie, Euch zu verführen. Oder nicht? Fandet Ihr sie nicht schön?« Der kleine Mund stülpte sich nach innen und tauchte fe ucht und lüstern wieder auf. »Sie war – gut gebaut. Aber ich habe es. bereits erklärt. Ich befolge den Zölibat und kann mich beherrschen.« »Wie«, wunderte es Cyrion, »gelang es ihr denn überhaupt, an Euch heranzukommen?« »Oh, sie kam zu mir in meiner Eigenschaft als Arzt – ich behandle jeden, der zu diesem Haushalt gehört, auch die Diener – und behauptete, sie hätte Kopfschmerzen oder ihr Puls ginge zu schnell. Nach den ersten Untersuchungen, als ich merkte, worauf sie hinauswollte, wurde ich vorsichtig. Obwohl sie sich mir immer wieder näherte.« »Bemerkenswert. Und wann fand die letzte ihrer -83- aussichtslosen Angriffe auf Eure Tugend statt?« »Am Tag vor ihrem Tod. Die übliche Geschichte. Sie legte meine Hand an ihre Brust, bevor ich sie zurückziehen konnte.« Naldinus atmete schwer. »Es fiel mir leicht, sie abzuweisen.« »Trotz Eurer Behandlung starb sie an dem Gift. Hat Euch das beunruhigt?« »Nein, ich tat mein Bestes, aber der – der Verfall war schon zu weit fortgeschritten. Ich war machtlos.« »Wie schade«, sagte Cyrion. Er stand auf und reckte sich wie ein Katze. Die vier lebenden Personen in der Grabstätte und vielleicht auch die fünfte, tote, warteten in einer erdrückenden neuen Stille. »Ich habe«, verkündete Cyrion, »nur noch eine einzige Frage. Sie betrifft euch alle.« Jolan, der sich aufgerichtet hatte und den Kopf in die Hand stützte, sagte dumpf: »Dann solltet Ihr sie stellen.« »Es wurde gesagt«, meinte Cyrion, »daß ich nicht der erste Spaziergänger bin, den ihr dazu gezwungen habt, über euch zu richten. Was ich wissen möchte, ist: Wie viele waren es?« Radri schnappte: »Darüber braucht Ihr Euch keine Gedanken zu machen. Es genügt zu wissen, daß sie zu einem falschen Ergebnis kamen. Und dafür bezahlten.« »Wenn ich Euch versichere«, meinte Cyrion mit grenzenloser Geduld, »daß die Antwort auf meine Frage in hohem Maß meine Entscheidung beeinflußt, könntet Ihr Euch dann entschließen, es mir zu verraten?« Jolan stand auf. Er starrte Cyrion erregt an und stieß trotzig hervor: »Legt Ihr Wert auf eine genaue Zahl? Es waren – über vierzig.« Cyrion nickte. »Das genügt.« Er setzte sich wieder. »Und jetzt bin ich bereit, Euch die Identität des Mörders zu verraten.« -84- »Beginnen will ich damit«, sagte Cyrion, »daß Marival meiner Meinung nach alles das war, wofür Sabara sie hielt, und vielleicht mehr. Aber eine Frau, die trotz großer Schönheit so wenig Selbstvertrauen besitzt, daß sie sich getrieben fühlt, auf jeden, der in ihre Nähe kommt, Jagd zu machen und sein Leben zu zerstören, sollte man eigentlich bemitleiden und nicht hassen. Andererseits, wenn Euch jemand dieses Schicksal auferlegt hat, diese verzweifelte und endlose Suche nach der Wahrheit, dann war sie es. Denn sie ist frei, und Eure Qualen dauern an. Das war ihr letzter Trumpf, ein letzter Beweis für ihre Macht über Euch. Ihr seid immer noch ihre Sklaven. Und sie hat dafür gesorgt, daß nicht nur der Mord an ihr Euer Gewissen belastet, sondern zahllose andere – die glücklosen Richter, die Ihr getötet habt, wenn es ihnen nicht gelang, das Rätsel zu lösen und Euch von Schuld und Unentschlossenheit zu befreien. Wie die Nomaden sagen, auf der Suche nach dem zerbrochenen Ziegel habt Ihr die Mauer niedergerissen. Aber jetzt werde ich Euch die wirkliche Geschichte dieses Nachmittags erzählen und der Nacht, in der Marival starb. Am Nachmittag erzwang Radri sich Zutritt zu Marivals Zimmer. Sie war nervös und wollte sich nicht auf ihr gewohntes Spiel einlassen, und es gab einen Wortwechsel. Im Verlauf dieses Wortwechsels teilte die Lady dem Verwalter mit, daß sie seiner Dienste nicht mehr bedürfe, da für sie eine reiche Heirat mit einem Mann aus ihren eigenen Kreisen geplant sei. Radri, der schon seit einiger Zeit gewittert hatte, daß sie bald versuchen würde, ihn loszuwerden, verspürte den Drang, ihr den Hals umzudrehen. Abgesehen von ihren körperlichen Re izen, hatte er sein ganzes Leben damit verbracht, sich in die Gunst der Familie einzuschleichen, da er hoffte, eines Tages nicht nur wie ein Sohn behandelt, sondern tatsächlich als solcher aufgenommen zu werden. Marival war ebenso bereitwillig auf alles eingega ngen wie er selbst, und einmal – um die Lauterkeit seiner Absichten zu betonen – hatte er ihr sogar den Vorschlag -85- gemacht, gemeinsam zu fliehen und zu heiraten. Radri hatte jeden Tag gehofft, seine Geliebte zu schwängern. Er glaubte unwahrscheinlich allzu vertrauensvoll daran, daß Jolan seine Schwester nicht enterben, sondern sie beide mit einer großzügigen Aussteuer bedenken würde. Jetzt, als Marival sich von ihm zurückzog, wurde Radris Enttäuschung keineswegs dadurch gemildert, daß er schon damit gerechnet hatte. Aber er drehte ihr den Hals nicht um, weil das doch ein allzu deutlicher Hinweis auf den Täter gewesen wäre. Radri ist eingebildet. Ihm kam der Gedanke, daß die zurückhaltende Sahara sich vielleicht vor Sehnsucht nach ihm verzehrte und er sie nur mit seinem Charme beglücken mußte, um sie für sich zu gewinnen. Das war allerdings wenig verlockend, solange er dabei nicht mehr zu erwarten hatte, als ihren dürftigen Anteil an dem Erbe. War Marival aber tot, so hatte Sabara auch Anspruch auf deren Erbteil. Natürlich mußte ihr Tod über jeden Verdacht erhaben sein – aber Blutvergiftung kommt ja nicht eben selten vor. Radri hatte schon alles geplant und trug wahrscheinlich auch das passende Mittel bereits seit einiger Zeit mit sich herum. Er verschaffte es sich auf eine Art, wie es jedem in diesem Hause möglich gewesen wäre, indem er unter dem Vorwand irgendwelcher Beschwerden den Priester aufsuchte. Zwischen den Kräutern herumzuwühlen, hätte vie lleicht Verdacht erregt, aber was konnte einfacher sein, als, während Naldinus irgendeine Tinktur für das vorgeschützte Leiden zusammenmischte, wie geistesabwesend einen Fleck von seinem Seziertisch zu wischen. Viele kennen die Wirkung von Leichengift, besonders jene, die das Schlachtfeld als einfache Soldaten erlebt haben, wie es auf Radri zutrifft. Dieses recht widerliche Mittel tat er entweder in Marivals Wein oder Speisen beim Abendessen, oder, was wahrscheinlicher ist, er rieb es auf ihre Haut. Der kleinste Kratzer war eine ausreichend große Tür, um den sicheren Tod einzulassen.« Radri erhob sich langsam von seinem Ruhelager. Seine Augen -86- quollen hervor, sein Gesicht war verzerrt. »Ihr behauptet also, ich wäre es gewesen?« »Ich behaupte«, erwiderte Cyrion, »daß Ihr Marival Gift verabreicht habt. Jetzt setzt Euch hin und laßt mich ausreden.« Mit fassungslos offenstehendem Mund fiel Radri auf die Couch zurück. Cyrion fuhr fort. »Sabara hatte den Streit bis in ihr Zimmer gehört und der Zorn auf ihre Schwester erreichte seinen Höhepunkt. Ihr verzweifeltes Bemühen galt haup tsächlich dem Ziel, ihren Bruder Jolan zu schützen, den sie, was weder Euch noch ihr jemals richtig zu Bewußtsein kam, sehr liebte. Zweifellos spielte auch der von ihr selbst eingestandene Neid auf Marival (ein irregeleiteter Neid, denn Sahara ist doppelt so einfallsreich und faszinierend wie ihre bemitleidenswerte Schwester, hätte sie es nur gemerkt) eine große Rolle, bei dem, was sie vorhatte. Sie betrat Marivals Zimmer und redete ihr gut zu. Sie tranken Wein zusammen. Marival spottete über Sabaras Rat und ihre Bitte, den Frieden wiederherzustellen. Genaugenommen ist es zweifelhaft, daß Frieden zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch möglich war, und es mag sein, daß Sabara das wußte und ihr Gespräch mit Marival lediglich die Entschuldigung für das war, was dann geschah. Ich würde sagen«, meinte Cyrion behutsam, »einer der vielen Ringe Sabaras war mit Gift gefüllt, entweder aus Naldinus’ Vorräten oder durch ihr eigenes Wissen über Kräuter und Magie. Was immer sich in dem Ring befand, schüttete sie in Marivals Becher. Höchstwahrscheinlich ein langsam wirkendes Pulver, das Schlaf bewirkte und im Schlaf tötete. Ich glaube nicht, daß Sabara fähig gewesen wäre, etwas Unappetitliches oder Qualvolles anzuwenden. Für Sabara war es eine legale Hinrichtung. Sie war Henker, nicht Folterknecht.« Sabaras Standhaftigkeit zerbrach. Sie sank in einen Stuhl und -87- legte eine Hand vor die Augen. »Ihr beschuldigt also mich.« »Ich stelle Tatsachen fest«, antwortete Cyrion. »Radri vergiftete Marival. Wie auch Ihr. Und ich bin noch nicht zu Ende. Jolan traf Marival irgendwann vor dem Essen. Er litt unter dem, was er über sie erfahren hatte, ihren sinnlichen Ausschweifungen, ihrer drängenden Forderung, einen reichen Mann von Adel zu heiraten. Jolan liebte Marival und wand sich unter seinen blutschänderischen Gelüsten, zumal sie nie befriedigt worden waren, im Gegensatz zu denen so vieler anderer Männer. Bei dem Gespräch weigerte sich Jolan, eine Heirat zwischen seiner älteren Schwester und einem Fürsten der Stadt in die Wege zu leiten. Als Grund nannte er wahrscheinlich ihre Unkeuschheit, die, in der Hochzeitsnacht entdeckt, Schmach und Schande über die Familie bringen würde. Marival, deren Geduld an diesem Tag kurz bemessen war, überschüttete Jolan daraufhin mit der Strafpredigt seines Lebens. In diesen Augenblicken verwandelte Liebe sich in Haß. Seine magische Fähigkeiten waren groß genug, um irgendein Unheil auf sie herabzubeschwören, dem sie nicht entgehen konnte, er hatte es nicht nötig, auf vergiftetes Essen zurückzugreifen. Habe ich nicht recht, daß zur Essenszeit der Zauber schon gesprochen war, Fürst Jolan?« »Ja«, sagte Jolan. Aus trockenen Augen starrte er auf den Teppich. »Es war so, wie Ihr gesagt habt. Was die anderen betrifft, habt Ihr vermutlich auch recht. Drei stinkende Mörder. Es ist beinahe ein erbärmlicher und grausiger Witz.« »Und«, fügte Cyrion hinzu, »es wird noch besser. Während des Essens rang Marival nach Luft, griff sich an den Hals und die Seite und verlor schließlich das Bewußtsein. Alle drei, jeder von ihnen bemüht, seine schuldbewußte Freude und sein Entsetzen vor den anderen zu verbergen, brachten Marival zu Bett. Ihr Zustand verschlechterte sich und Ihr standet um sie -88- herum, zitternd, bebend und ihren Tod erwartend, jeder in dem Glauben, er sei dafür verantwortlich. Aber das Ende kam nicht so schnell, und schließlich seid Ihr davongeschlichen, um Eure Ängste und Eure Rechtschaffenheit zu pflegen. Marival blieb der Obhut Naldinus’ überlassen.« Cyrion blickte auf und sah den Priester an. Die tiefliegenden, vergeistigten Augen des Mannes zuckten und verschleierten sich. »Naldinus«, sagte Cyrion, »Priester – Gelehrter – Magier – Arzt – Erneuerer. Der keusche Naldinus. Der beherrschte Naldinus, dessen Glaube ihm nicht gestattet, mit lebendem weiblichen Fleisch zu liegen. Naldinus«, fuhr Cyrion fort, »kannte die Stimmung, die im Hause herrschte. Er brauchte keine medizinische Gelehrsamkeit, um herauszufinden, was Marival fehlte, und es ist anzunehmen – Ihr müßt nicht so bescheiden sein, mein Lieber -, daß er sie hätte retten können. Aber Naldinus, allein in dem Schla fzimmer mit dieser halbtoten Frau, War von zwei Gedanken besessen. Den ersten setzte er rasch in die Tat um und verabreichte ihr ein Mittel auf ein heimtückische Art, wie sie dem Mediziner bekannt ist. Es handelte sich nicht, ve rsteht mich recht, um ein Heilmittel. Es war das Siegel zu dem, was vorangegangen war, etwas; das unwiderruflich sicherstellte, daß Marivals Augen diese Welt nie mehr sehen würden. Es war auch der erste, bedeutende Schritt für die Einbalsamierung. Sein bestes Experiment soweit. Und als sie ganz sicher tot war, meine Freunde, setzte Naldinus auch den zweiten Gedanken in die Tat um. Er tat mit Marival, was er schon immer hatte tun wollen, was aber sein Amt ihm nicht erlaubte, solange sie lebte.« Radri und Jolan erhoben sich mit den in solchen Situationen angebrachten krampfhaften Schreien. Sabara lag zusammengerollt auf ihrem Sessel und sagte nichts. Naldinus glitt zurück, bis seine Schultern gegen die Wand der Grabkammer stießen. »Ich schlitze dir den Wanst auf«, sagte Radri zischend. »Ich stopfe dir deine Eingeweide in deinen widerlichen Mund -« -89- »Ich glaube«, bemerkte Cyrion mit leiser, kalter Stimme, die die Männer mitten in der Bewegung erstarren ließ, »Ihr vergeßt die Sinnlosigkeit einer solchen Handlung. Und ich möchte Euch erinnern, edle Herren und edle Dame, daß Ihr alle ein hinterlistiges Verbrechen an der Frau auf dem Bett begangen habt. Keiner von Euch hat das Recht, gegen den anderen die Waffe zu erheben. Außerdem ist bisher Euer Omen ausgeblieben, das erlösende Zeichen, das Euch, wie ich nur vermuten kann, von dem ruhelosen Geist Marivals versprochen wurde.« Radris unbefriedigte Wut richtete sich jetzt gegen Cyrion. »Da habt Ihr es – kein Omen. Bestimmt ist das alles nichts weiter als ein Sack voll Lügen, die Ihr Euch ausgedacht habt, um unseren Zorn von Euch abzulenken. Ich habe Euch nie als Richter anerkannt, ebenso wenig wie Sabara. Und wenn Jolan es getan hat, nun, der ist verrückt. Wie konntet Ihr es wagen, uns einen solch albernen Mist aufzutischen! Wir alle vier haben Marival vergiftet! Wie seid Ihr bloß darauf gekommen?« »Jedem von Euch stand die Schuld im Gesicht, und Ihr alle hattet einen Grund für das Verbrechen«, erklärte Cyrion leichthin. »Dazu kam noch Euer Bekenntnis, daß schon mehr als vierzig Richter (obwohl ich glaube, daß die Zahl eher noch zu bescheiden ist) versucht hatten, die Wahrheit herauszufinden. Und selbst wenn es nur vierzig waren, hätte wenigstens einer von ihnen, allein schon durch Zufall, den währen Mörder nennen müssen. Was mich zu der Schlußfolgerung brachte, daß im Laufe der Zeit jeder von Euch einmal beschuldigt wo rden war. Da Euer Omen dennoch ausgeglichen war, kam ich auf den Gedanken, daß keiner von Euch eine reine Weste hatte.« »Aber da wir immer noch kein Zeichen erhalten haben«, schnarrte Jolan plötzlich, »seid auch Ihr im Irrtum. Jeder von uns hat sich des Versuchs schuldig gemacht, aber wer ist verantwortlich für den Tod meiner Schwester?« -90- »Alle, aufgrund der Absicht«, antwortete Cyrion. »Keiner, aufgrund der Ta tsachen.« Ein gemeinsamer Aufschrei ertönte. Selbst Sabara stand auf und starrte ihn an. Selbst der Priester schob sich wieder einen halben Schritt nach vorn. »Die Ichsucht, fürchte ich«, sagte Cyrion, »war Euer Untergang. Unzählige Jahre habt Ihr unter der unbefriedigten Boshaftigkeit Marivals gelitten. Sie klammerte sich an Eure Schuld und trieb Euch zum Wahnsinn – und alles, weil Ihr nichts anderes in der Welt des Tötens für fähig gehalten habt als nur Euch selbst. Aber es war noch ein Mörder im Haus an jenem Tag. Ich vermute, daß von Euch vieren auch Naldinus es ahnt und es vielleicht schon in der fraglichen Nacht geahnt hat, obwohl man in diesem Fall seine nachfolgenden Handlungen nur als unsinnig tollkühn bezeichnen kann. Aber ich klage nicht an. Nichtsdestoweniger, hätte er Marival an dem Tag vor ihrem Tod untersucht, wie sie es verlangt hat, hätte ihm der Gedanke kommen müssen. Nein, damals hatte sie es nicht auf Eure Tugend abgesehen, Priester, es gab einen Grund für ihre Kopfschmerzen, das heftig schlagende Herz in ihrer Brust. Und für ihre Reizbarkeit am nächsten Tag, ihre Klagen über die Hitze… Meine armen Freunde, während jeder von Euch sie vergiftete, hatte der Tod seine Hand nach ihr ausgestreckt. Marival hatte die Seuche. Es war die Seuche, an der sie auch ganz ohne Eure Einmischung gestorben wäre.« »Aber ich hatte das Haus verschlossen!« rief Jolan mit unangebrachter und würdeloser Empörung. »Und bevor Ihr es verschlossen habt, wurden Nahrungs mittel herangeschafft. Ein kranker Bäcker oder Schlachter oder Winzer oder auch ein Händler von Lampenöl.« »Götter!« sehne Jolan und rang gewaltsam nach Luft. »Götter! Götter!« Und dann jaulte der Priester auf und sprang mit einem Satz -91- von der Bahre bis zu Sabaras Stuhl. Denn der wunderschöne Leib der einbalsamierten Frau zerfiel, wurde zu Schnee und Asche und zu einem feinen weißen Puder, das zerschmolz und verging. Nach wenigen Sekunden war von dem herrlichen Körper nichts weiter geblieben als eine kaum erkennbare Druckstelle auf dem bestickten Laken. »Das Omen?« erkundigte sich Cyrion. »Oder könnte es ein Fehler in der Einbalsamierung gewesen sein?« Die Morgendämmerung verlieh dem Himmel den warmen Goldton von Sabaras Haar, als Cyrion auf die Straße hinaustrat. Daß sein Abschied von der exzentrischen Familie so rasch vonstatten ging, wie die vorangegangenen Gespräche langwierig gewesen waren, überraschte ihn nicht. Was die versprochene Belohnung anging, so hatte man ihm einen Schlüssel gegeben. An der Nordseite des remusischen Tempels würde er eine Truhe finden… Ein anderer hätte vielleicht geglaubt, man wolle ihn zum besten halten, aber Cyrion wußte sehr gut, daß dem nicht so war. Marival hatte sie mit ihrem gespenstischen Fluch verfolgt. Seine Augwirkungen waren offensichtlicher als sie ahnten, selbst durch ihre magischen Truggestalten hindurch. Unmittelbar nach ihrer Einbalsamierung Unbehagen, dann Verdächtigungen, Beschuldigungen – und, unausweichlich, Vergeltung. Und nachdem sie sie bis zur Grenze getrieben hatte und darüber hinaus, hatte Marival ihnen noch eine letzte, furchtbare Last aufgebürdet, und nur jemand, der die Lösung des Rätsels fand, konnte sie davon befreien. Kurz bevor die magische Tür wieder erschien, um ihn hinauszulassen, hatte Cyrion einen letzten Blick zurückgeworfen, auf Naldinus, der auf dem Boden kauerte, auf Radri und Jolan, die sich gegenseitig stützten – es blieb ihnen nur wenig Zeit für diese Erneuerung ihrer Freundschaft, nur bis Sonnenaufgang. Aber sie – auch der Priester – hatten froh -92- ausgesehen, erleichtert darüber, daß nun alles vorüber war. Jolans Stimme war so heiser unter dem hohen Kragen, daß er vermutlich erdrosselt worden war und zweifellos von Radri. Radri hatte sich die Brust ma ssiert: Erinnerung an einen Dolchstoß von Jolans sterbender Hand? Sabaras Stimme war makellos und schön gewesen, also hatte sie sich wohl die Pulsadern aufgeschnitten und verbarg die Narben unter den goldenen Armbändern. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie es in einer mit heißem Wasser gefü llten B adewanne getan, die traditionelle Art der remusischen Frauen, Selbstmord zu begehen. Denn sie waren alle Remusaner. Trotz ihrer geänderten Namen, ihrer magischen Schutzvorrichtung – die ihre Kleidung und ihre Möbel, soweit es nötig war, der gängigen Mode anpaßte – trotz ihrer magischen Fähigkeit, als Tote eine der neuen Sprachen des Landes zu beherrschen, das zu besuchen sie immer noch gezwungen waren, einmal im Jahr, in Marivals Todesnacht. Marival, unwiderruflicher tot, als sie es waren, aber frei. Unvermittelt erhob sich die neugeborene Sonne auf ihren jungen Flügeln über die Säulen des Forums. Cyrion drehte sich um, und das Haus war verschwunden, ebenso wie der Garten und das Grabmal. Er hatte es nicht anders erwartet. Naldinus war an der Seuche gestorben, ein Ende, das nicht der Gerechtigkeit entbehrte. Und wo immer sie sich jetzt befanden, sie waren nicht mehr in der irdischen Hölle. Unfähig zu gestehen, hatten sie um Frieden gefleht, mit Tränen, Schreien und erbarmungslosen Morden. Nur Sabara hatte Cyrion hinterhergesehen. Sabara – ihr Name war remusisch, unverändert. In ihren Augen lag etwas, das keiner Worte bedurfte. Aber es waren nur noch wenige Minuten bis Sonnenaufgang gewesen, und jetzt war es endgültig zu spät. Eine eigenartige Unebenheit verlief über den Streifen nackter Erde zwischen der Straße und den Stufen des remusischen Tempels. Vielleicht die Überreste eines Hauses, das in früheren -93- Zeiten hier gestanden hatte. Hier hatte man die Knochen gefunden, die Knochen von mehr als vierzig Menschen – viel, viel mehr -, denen es nicht gelungen war, vier zornigen, von Schuldgefühlen besessenen Geistern den ersehnten Frieden zu bringen. An der Nordseite des Tempels wuchs ein schlanker grüner Baum. Die Erde über seinen Wurzeln war aufgeworfen, wie von einem Erdbeben, das nur an dieser einen Stelle gewütet hatte. Zwischen den Erdbrocken lag eine Kiste aus vergoldetem Eisen, die teilweise schon verrostet war. Der Schlüssel paßte in das Schloß, das bei der ersten Umdrehung zerbrach und trotzdem aufsprang. Cyrion hob den Deckel. Zwei goldene Kragen, einer mit dem daranhängenden in Rubine und Saphiren gefaßten Bild einer schwarzhaarigen Frau; mehrere perlenbesetzte Amulette; ein mit Edelsteinen reich verzierter Dolch; fünf Becher aus gehämmertem Silber (ja, wer hätte nicht den fruchtigen remusischen Wein erkannt, von dem die Dichter sangen und den man mit weiten Meeren bei Sonnenaufgang und den Lippen einer Frau verglichen hatte?); eine große Anzahl glitzernder, makelloser Ringe; zwei Armreifen aus Gold. Nur Marival hatte ihm ihren Schmuck nicht hinterlassen. Die langen Jahre hatten alles mit einem matten Schleier überzogen, hatten die einzelnen Stücke mit einem feinen, grünlichen Belag versehen, der faszinierender wirkte als das edle Metall selbst, wie bei einem Schatz vom Meeresgrund. Allein dem Gewicht nach stellte der Inhalt der Truhe ein atemberaubendes Vermögen dar. Bedachte man das hohe Alter, war er unbezahlbar. Cyrion ließ die Truhe offen, für die Glücklichen, die der Zufall daran vorbeiführte. Er selbst behielt nur ein einziges Stück. Ein einziges schmales Armband aus grünlichem Gold, das seit zwölf Jahrhunderten oder mehr, wenn auch nur für eine Nacht in jedem Jahr, Sabara an ihrem Handgelenk getragen -94- hatte. Drittes Zwischenspiel Im Honiggarten wurde das Mittagessen serviert. Zu dem saftigen Zicklein gab es goldbraun gebackenes Brot und in Öl und Pfeffer knusprig gebratenes Gemüse. Der köstliche Duft riß selbst den Soldaten aus der Benommenheit, in die er während der Erzählung des Gelehrten verfa llen war. Roilant allerdings war hellwach geblieben. »Das war wirklich – sehr geschickt«, sagte er, als die große Platte auf seinen Tisch gestellt wurde. »Vielen Dank«, bemerkte der Sklave bescheiden. Roilant machte sich nicht die Mühe, das Mißverständnis zu bereinigen. Er musterte das Gesicht des Gelehrten. »Ich könnte mir denken, daß diese labyrinthische Geschichte für das Gehirn eines Gelehrten einigen Reiz hat. Haltet Ihr sie für wahr?« »Ja, Ich selbst habe Geister und ähnliche Erscheinungen gesehen, und ich bin ein einfacher Mann. Cyrion dagegen gehört vermutlich zu den Menschen, die ungewollt bizarre, unheimliche Ereignisse anziehen, wie andere Unglück. Und Teboras oder Teborius, wie sie einst hieß, ist eine gespenstische Stadt, in der man überall die Reste remusischer Bauwerke findet, geisterhafte Erinnerungen an die einstige Größe dieses zerfallenen Reiches.« »Und die liebliche Sabara. Es scheint, daß er eine Schwäche für sie hatte.« »Es scheint so. Wenn er überhaupt Schwächen hat.« »Ich nehme an, er hat Gefühle wie jeder Mensch.« »Meistert sie aber mit ungewöhnlicher Selbstbeherrschung. Und noch etwas ist erwähnenswert«, sagte der Gelehrte. Er -95- unterbrach sich für einen Auge nblick, um interessiert zuzusehen, wie der betrunkene blonde Soldat das gebratene Zicklein in Stücke riß, Gemüse und einen halben Laib Brot auf seinen Teller häufte und herzhaft zu essen begann. »Der Sklave Esur hat Euch, glaube ich, die Geschichte von der Wüstenstadt und dem Ungeheuer erzählt. Vielleicht ist Euch aufgefallen, daß Cyrion die ihm angebotenen Kostbarkeiten aus dem Schatz achtlos zurückließ.« Roilant dachte darüber nach. »Allerdings. Und am Ende der Geschichte von den Gespenstern -« »- ließ er unschätzbare Reichtümer unberührt und nahm ein Armband mit, als Erinnerung an die junge Frau, der es gehörte, und gewiß nicht aus Habgier.« »Dennoch behauptet man, er sei reich. Bestimmt ist dieser Reichtum die Frucht seiner Abenteuer. Immer kann er seine Belohnungen nicht so leichthe rzig aufgegeben haben.« »Oder er hat es nie nötig gehabt, eine Bezahlung anzunehmen. Es gibt da ein Gerücht betreffend Cyrion, demzufolge er der Sohn eines Königs aus dem Westen ist und als Kind entführt wurde, um ein Lösegeld zu erpressen. Die Verbrecher ließen ihn schließlich in der Wüste zurück, wo die Nomadenstämme ihn fanden und sich seiner annahmen.« »Daher seine Reisekleidung.« »Und seine gelegentliche Bezugnahme auf die Sprichwörter und geistigen Übungen der Nomaden, die ein seltsames, wildes und dennoch eigentümlich weises Volk sind. Gemäß einem anderen Gerücht hat Cyrion überall Verstecke für seine Reichtümer angelegt, von hier bis zur Küste von Auxia. Er braucht nur bestimmte Orte aufzusuchen, sich zu erkennen zu geben, und verfügt über unbegrenzte Mittel.« »Daher also die kostbare städtische Kleidung und die -96- Vorliebe für erstklassige Gasthäuser.« Ein neuer Gast, der die Schänke lautlos betreten hatte, brüllte plötzlich vom Eingang her: »Foy! Verdammt – Foy!« Jedermann hielt nach Foy Ausschau. (Bis auf den Weisen, der eifrig damit beschäftigt war, seine Fastenkur mit gebackenen Linsen und Oliven zu beleben.) Da er keine Antwort erhielt, marschierte der Neuankömmling, ein ausgesprochen kurz geratener junger Mann, quer durch den Gastraum. Er trug einen matt schimmernden Kettenpanzer und eine leichte Stahlhaube und war eigentlich sehr klein für einen Soldaten. Wie um das wettzumachen, ersetzte er Körpergröße durch lärmendes Auftreten. Ein üppiger brauner Schnauzbart verdeckte fast die Hälfte seines Gesichts, nicht aber seine offensichtliche Mißbilligung, als er an Roilants Tisch trat und neben dem hungrigen, betrunkenen Blonden Aufstellung nahm. »Foy. In einer halben Stunde mußt du wieder in der Kaserne sein. Ich habe jede Schänke und jede Weinhandlung in Heruzala nach dir abgesucht.« »O Mütterchen«, sagte Foy, der blonde Soldat, »ich will dich für deine Mühe entschädigen. Setz dich, du gute Seele, und leiste mir Gesellschaft bei dem Festmahl, das der großzügige Herr mit dem orangenem Haar mir bezahlt. Ihr habt doch nicht dagegen einschu… weinzuenden, hick -« Foy stierte Roilant bekümmert an. Roilant machte eine Handbewegung, die erkennen ließ, daß er über alle Einwendungen längst hinaus war, und wenn sie noch so falsch ausgesprochen wurden. »Foy. Eine halbe Stunde. Komm. Wir gehen.« »Gehen? Wie könnte ich so unhöflich sein. Außerdem habe ich meine Geschichte noch nicht erzählt. Meine einzige Berechtigung, hier zu sitzen.« »Geschichte? Was für eine verdammte Geschichte?« -97- »Wir erzählen Geschichten über -« Der blonde Soldat machte eine gewaltige Anstrengung. »- Schyrion.« Der Soldat mit dem braunen Schnurrbart blickte von Roilant zu dem Gelehrten und nickte. »Entschuldigt, meine Herren. Wenn das Euer Handel war, fürchte ich, daß er davon zurücktreten muß. Was Cyrion betrifft, dem könnt Ihr leicht persönlich begegnen, wenn Ihr in der Stadt bleibt.« Roilant ließ sein Messer fallen. »Er ist ganz sicher in der Stadt?« »In Heruzala? Ja. Ich traf ihn vor einer Stunde, in der Süßen Straße.« Roilant stand auf. Der schnauzbärtige Soldat fuhr fort: »Aber ich bezweifle, daß Ihr ihn dort noch antreffen werdet. Er war ganz offensichtlich woanders unterwegs, als er an mir vorbeiging.« Roilant sank in sich zusammen. Der Gelehrte sprang für ihn ein: »Ihr kennt diesen Mann gut?« »Gut genug, um ihm die Tageszeit zu bieten. Nach all dem, was man so über ihn erzählt, reicht mir das auch völlig. Ein sehr vom Glück abhängiges Geschäft, so als freiberuflicher Schwertkämpfer. Nun, Foy, jetzt kommpf«, schloß der bärtige Soldat und wurde noch kleiner, indem er auf einen freien Platz neben Foy niederfiel. An einem Mundvoll gebratenem Zicklein vorbei sagte Foy sehr leise, nüchtern und deutlich: »Mach den Mund zu, Idiot, und paß auf. Ich habe einen Grund für mein Benehmen. Und wenn du jetzt gleich zu dem Kerl hinguckst, über den ich spreche n werde, kriegst du noch einen drauf. Der heilige Mann da, mit den Ringen und dem Fett überall auf seinem Kleid. Ich könnte schwören, das ist der Lump, der sich als Prophet ausgibt und die Leute zu Unruhen und Aufruhr -98- anstiftet. Wir haben versucht, ihn festzunehmen, dreimal, und der Teufel ist immer entwischt. Selbst die Engelsritter konnten ihn nicht fassen, und ihnen entgeht nur selten jemand. Ich kam zufällig hier herein und entdeckte ihn. Jetzt verfolge ich ihn oder werde es, sobald er sich in Bewegung setzt. Bleib hier und hilf mir, ihn zu packen, wenn er wieder den Mund aufmacht, um unseren König zu beleidigen. Oder geh zurück in die Kaserne und sag Bescheid, warum ich nicht komme.« Der schnauzbärtige Soldat grunzte und rieb sich den Oberschenkel, offensichtlich wollte er lieber bleiben. Roilant starrte den blonden Soldaten an. »Ihr seid gar nicht betrunken«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Wasch haschn ‘sagt?« erkundigte sich der Soldat und schlüpfte wieder in seine Charakterrolle. Roilant setzte sich. »Das ist verrückt.« »Ganz und gar nicht«, meinte der Gelehrte. »Ihr habt jetzt den Beweis, daß Cyrion in der Nähe ist und vielleicht hier herkommt. Was die andere Sache betrifft«, der Gelehrte senkte die Stimme, »ich war mir über diesen Weisen auch nicht im klaren. Ein neugieriger alter Mann.« Der schnauzbärtige Soldat hatte sich von dem Tritt erholt, den Foy ihm verpaßt hatte, und verhalf sich ohne weiteres zu einem gehörigen Anteil an Fleisch und Wein. »Es hat mich immer interessiert, wie wohl die wirklichen Namen der Geister lauteten«, bemerkte der Gelehrte. »Naldinus und Sabara, könnte man meinen, blieben unverändert. Aber Jolan könnte Jolius sein und Radri – Radrix. Bei Marival kann ich nur Vermutungen anstellen. Ich denke da an zwei Namen, zusammengefügt. Vielleicht Marea Valia.« »Ich hatte eine Cousine mit Namen Valia«, eröffnete Roilant ziemlich überraschend. »Sie war noch ein Kind, als sie -99- verschwand. Aber sie hatte eine Schwester, Eliset.« Der schnauzbärtige Soldat entwickelte eine zunehmend gute Laune. Ob er es darauf anlegte, seinen Kameraden nachzua hmen, oder ob ihm der Wein tatsächlich so schnell zu Kopf gestiegen war, war nur schwer zu beurteilen. »Dieser Cyrion«, sagte er jetzt voller Hilfsbereitschaft zu Roilant. »Es gibt tatsächlich eine Geschichte, die ich kenne.« Roilant seufzte abgrundtief. »Also gut.« »Nicht daß Cyrion sie mir erzählt hat. Ein Genie mit dem Messer, nebenbei bemerkt. Nicht daß das in der Geschichte vorkommt. Aber da war so ein Zaub erer.« »Schon wieder ein Zauberer«, sagte Roilant gequält. »Er hieß Juved. Juved der Magier, der sich in Sachen Zauberei ziemlich übernommen hatte…« Cyrion in Bronze Dem Himmel näher als die Bäume, erhob sich der Turm aus der grünen Wolke der Oase. Tief unten lag ein Kreis stillen Wassers, gab es Oleanderbüsche, Schilf, die Säulen der Palmen mit ihren zerrupften Wedeln, die die untergehende Sonne mit dünnen roten Strahlen zeichnete. Das alles umgeben von den nackten Sandwällen der Wüste, deren westliche Hänge kupfern im Abendlicht glühten. Der Mann im Turm hatte für das alles keinen Blick. Er blickte in einen Kristall auf einem Ständer aus Messing. Der Kristall zeigte ihm einen Teil der Wüste, der eine Meile von der Oase entfernt war. Über den heißen Sand wanderte ein anderer Mann, nach Westen, in dieselbe Richtung wie der Tag. In Richtung des Turmes. -100- Der Wanderer war jung, groß, schlank und trug das schwarze, weite Gewand der Nomaden. Ein Schwert in einer Scheide aus rotem Leder hing an seiner rechten Seite. Aber sein weißgoldenes Haar, auf dem die Sonne Funken sprühte, und das fast unglaublich schöne Gesicht, versetzten den Beobachter im Turm in Unruhe. Propheten waren aus der Wüste gekommen, strahlend, schön und furchtbar. Propheten und Dämonen. Etwas bewegte sich am Fuß des Turmes, nahe der verschlossenen und verriegelten Tür. Juved, der Beobachter, kümmerte sich nicht darum; denn er hatte sich daran gewöhnt und kannte die Ursache der Bewegung nur zu gut. Bald würde der junge Mann aus der Wüste die Oase erreichen und was sich da bewegte, würde hervorkommen. Es würde ein entsetztes Herumwirbeln geben, einen Schrei der Überraschung. Stahl würde aus der roten Lederhülle springen, die letzten Sonnenstrahlen einfangen. Rotes Blut würde im Sand versickern. Und dann, für kurze Zeit, würde Juved Frieden haben. Die letzte Wasserstelle war verseucht gewesen, mit Salz. Ein solcher Frevel an dem kostbarsten Gut der Wüste kam selten vor. Nur wenige Männer würden ein dermaßen gemeines Verbrechen riskieren. Die Strafe der Nomaden für ein solches Vergehen war furchtbar. Als Cyrion klar wurde, daß das Wasser ungenießbar war, hatte er das gebräuchliche Warnzeichen an der Quelle hinterlassen und war weitergezogen. Gewisse Fähigkeiten, die er sich bei den Wüstenvölkern angeeignet hatte, befähigten ihn, die Lage der nächsten Oase ausfindig zu machen, aber dies geschah mit dem bitteren Geschmack von Salz im Mund und einem Ausdruck in seinen langbewimperten Augen, der eigentlich nur als Zorn gedeutet werden konnte. Es war sein zweiter Tag ohne Wasser, ein Spiel zwischen ihm und dem Tod. -101- Als er die zweite Oase erreichte, blieb er am Rand der Oleanderbüsche stehen. Er musterte das Wasser, Bäume, Turm. Ob ihm etwas entging, war nicht zu merken. Er ging zu dem kleinen runden Teich, kniete nieder, senkte den Kopf und schöpfte sich Wasser mit der ringgepanzerten Linken. Hinter ihm bewegte sich etwas zwischen den Stämmen der Palmen. Ein Geschöpf, groß, ungeschlacht und abscheulich weiß, huschte lautlos aus den Schatten ins Licht. Cyrion trank weiter. Waren seine Schöpfbewegungen langsamer geworden, hatte seine Haltung sich verändert? Man konnte darüber streiten. Ein Schatten fiel über den Teich. Sofort war Cyrion drei Meter weit weg von dem Fleck, an dem er eben noch gekniet hatte. Während genau an diesem Fleck etwas niederstürzte. Als das Geschöpf merkte, daß es Cyrion verfehlt hatte, schrie es vor Wut, sprang auf und warf sich herum, auf der Suche nach dem Mann, den es mit seinen riesigen, bleichen Händen hatte packen wollen. Cyrion, die geflohene Beute, stand regungslos, das Schwert nachlässig in der Rechten. Sein Gesicht verriet nichts als nur gelinde Überraschung über das, was da vor ihm stand, ein Geschöpf, das zweifellos der tiefsten Hölle entsprungen war. In mancher Beziehung erinnerte es an einen Menschen, außer daß es zu groß war, beinahe drei Meter hoch, und außerdem zu mager, um noch lebensfähig zu sein. Aber ganz offensichtlich lebte es. Die Hautfarbe war ein scheußliches, fahles Weiß, eigentlich unmöglich in diesem Land und unter dieser Sonne. Weißliches Haar flatterte wie eine Fahne um seinen Schädel. Seine Augen – denn es hatte Augen – flammten in gieriger Mordlust. Es hatte keine Waffen außer seinen spitzen Krallen, die Waffe genug waren. -102- Nach kurzem Zögern, wie um den Gegner absichtlich durch seinen Anblick zu erschr ecken, stürzte es sich wieder auf Cyrion. Und wieder befand sich Cyrion nicht mehr an dem Punkt, auf den der Angriff gezielt war. Statt seiner umarmte der Unhold eine Palme und stieß einen neuen Schrei der Wut aus. Das herrliche Schwert blitzte und vollführte einen Schlag, der das Geschöpf buchstäblich in zwei Teile hätte spalten können. Aber das Schwert, obwohl es mühelos durch das nachgiebige Fleisch schnitt, traf weder festes Gewebe noch Knochen, verursachte keine Blutung und keine Wunde. Cyrion sprang außer Reichweite, als der lebende Schrecken sich umdrehte. Nur eine Daumenbreite von Cyrions Kehle entfernt, fetzten schwarze Krallen durch die Luft. Und ein zweites Mal blinkte das Schwert, biß tief in den Bauch des Ungeheuers, kam makellos silbern wieder zum Vorschein, ohne eine Spur zu hinterlassen. So nahe, nackt und riesig, wurde es offensichtlich, daß das Geschöpf keinen Nabel hatte und ihm auch noch einiges andere fehlte. Was sein Gesicht betraf, so schienen die Lippen sich nach innen zu wölben, ebenso die Nase, mit vortretenden Nüstern; die feurigen Augen waren glühende Löcher. Das nach innen gekehrte Zerrbild eines Menschen. Selbst die Krallen waren in die falsche Richtung gebogen, nach oben statt nach unten. Wieder verließ Cyrion seinen Standort, aber diesmal zerrissen die Krallen seinen Ärmel, und sein Schwert, als es an einem unverwundbaren Handgelenk abglitt, traf einen dieser aufwärts gekrümmten Nägel mit einem Geräusch wie des Teufels Tanzmusik. Das Ungeheuer allerdings jaulte auf und sprang ruckartig zurück. Wie in Nachahmung dieser Reaktion, wirbelte auch Cyrion herum und rannte. Als das Geschöpf, das sich wieder gefaßt -103- hatte, ihm nachsetzte, fuhr Cyrion unvermittelt herum und sein emporzuckendes Schwert prallte gegen die beiden zupackenden, widernatürlichen Hände. Diesmal klang es wie geschliffener Stahl. Zehn schwarze Splitter flogen durch die rosafarbene Luft, gefolgt und angetrieben von zehn Fontänen aus schleimiger, weißer Flüssigkeit. Kreischend vor Schmerz fiel der Unhold auf seine eigenartigen Knie, sein Kopf ruckte nach vorn. Jetzt befand sich sein Haarvorhang in Reichweite und im nächsten Augenblick schon in Cyrions beringter linker Hand, während die ungeschmückte Rechte das Schwert führte. Das Haar blutete ebenso heftig, wie die Nägel. Zitternd und stöhnend sank das Geschöpf zwischen das Schilf. Sein weißer Lebenssaft tränkte den sandüberwehten Boden. Unter krampfhaften Zuckungen sank es in eine totenähnliche Starre. Das Stöhnen verstummte, dafür ertönte ein lauter Ruf aus der Richtung des Turmes. Es folgte das Knirschen von Riegeln und Türbalken, und ein Mann stolperte ins Freie. Er war klein, dicklich, dunkelhäutig und schwarzhaarig und trug ein mit Skarabäen und anderen magischen Zeichen besticktes Gewand. »Fremder«, rief er, »Ihr habt etwas Unmögliches vollbracht.« Cyrion reinigte sein Schwert mit Schilf. »Ihr seid zu liebenswürdig«, erwiderte er bescheiden. »Nein, nein«, versicherte der Mann aus dem Turm, »ich meine es ernst. Aber wie habt Ihr die schwache Stelle des Ungehe uers herausgefunden?« »Es war«, antwortete Cyrion, »eindeutig die Umkehrung eines Menschen. Wo ein Mensch verletzlich ist, war es unverwundbar. Was man aber bei einem Menschen gefahrlos abschneiden kann, Fingernägel und Haare, war für dieses Geschöpf tödlich. Es -104- stirbt, ist aber noch nicht tot.« »Seid bedankt«, sagte der Mann. »Ihr habt mir einen großen Dienst erwiesen. Seit drei Jahren hält dieser Unhold mich in dem Turm gefangen. Ich bin kein Mann des Schwertes, sondern ein Philosoph. Ich habe um einen wie Euch zu Gott gebetet. Mein Name ist Juved. Bitte tretet ein in mein Refugium und seid mein Gast. Ich werde Euch die Schätze zeigen, die ich angehäuft habe. Nehmt davon, was Ihr wollt. Ich stehe in Eurer Schuld.« Juved führte Cyrion über eine Steintreppe in eine g eräumige Kammer. Magische Gerätschaften waren überall verteilt, polierte Totenschädel, Sternenkarten, ein breites Ostfenster zur Beobachtung des Himmels, eine Kristallkugel auf einem Ständer aus Messing. Weitere Instrumente standen auf Truhen, Regalen und einem Tisch. Auf einem zweiten Tisch befanden sich kaltes Fleisch, Konfekt, Früchte, ein Krug mit Wein, silberne Trinkbecher und goldene Gewürzschalen. Linker Hand führte eine weitere Tür in ein im Halbdunkel liegendes Schlafzimmer. Entweder die Aufregung oder das Treppensteigen hatten Juved erschöpft. Er ließ sich in einen geschnitzten Sessel fallen und deutete mit einer Handbewegung auf die Speisen und den Wein. »Euer Abendessen beeindruckt mich«, sagte Cyrion. »Drei Jahre, sagt Ihr, wurdet Ihr hier gefangengehalten?« »Guter Herr«, antwortete Juved, »ich will nicht prahlen, aber ich bin ein Magier. Solche Kleinigkeiten sind keine Schwierigkeiten für mich. Nur über das scheußliche Ding da draußen hatte ich keine Macht.« Cyrion nahm sich von dem Brot und Fle isch und warf dabei einen müßigen Blick auf die Gewürze: Ingwer, Muskatnuß, Pfeffer, Salz und Zimt. Als er die Hand nach dem Weinkrug ausstreckte, sagte Juved: »Für mich auch, wenn es Euch nichts -105- ausmacht. Ich bin erschöpft, guter Herr, und muß hier sitzen bleiben.« Cyrion füllte einen Becher und reichte ihn seinem Gastgeber. Juveds Hand zitterte und er lachte entschuldigend. »Vergebt mir meine Schwäche. Bitte schaut in das Nebenzimmer. Nehmt Euch, was Ihr wollt.« Cyrion stieß die einen Spaltbreit offenstehende Tür weiter auf. Ein kleiner Teil des Raumes wurde von einem Bett in Anspruch genommen, den restlichen Platz belegten magische Statuen, Amulette, Tierfiguren und beschriftete Tafeln. Alle Stücke bestanden aus kostbarem Material, Gold und Silber, Onyx, Elfenbein und Jade. Aber an der Ostmauer, fast hinter der Tür verborgen, hing ein schmaler, ovaler Gegenstand an einem Haken. Dieses Oval leuchtete matt, obwohl es mit einem schwarzen Schleier verhangen war, der eigenartigerweise gerade als Cyrion sich umwandte, um den Gegenstand zu betrachten, zu Boden glitt. Was er enthüllte, war eine Scheibe aus polierter, makelloser Bronze, die Cyr ions Gestalt beinahe so genau wiedergab wie ein Spiegel. »Also habt Ihr Zilumis Spiegel gefunden«, rief Juved. Seine Stimme klang frischer. Er strahlte. Zwar konnte er von seinem Platz aus den Spiegel nicht sehen, wohl aber Cyrion und vermutete anscheinend aus dessen Haltung, welcher Gegenstand seine Aufmerksamkeit fesselte. »Ist er nicht schön?« »Die Nomaden haben ein Sprichwort«, entgegnete Cyrion. »Es ist schwer, durch einen Schleier hindurchzusehen.« Juved schien besorgt. »Aber ist der Schleier nicht von dem Spiegel heruntergefallen? Es ist meistens der Fall, wenn jemand das Zimmer betritt – bestimmt liegt es an der Zugluft.« »Der Schleier ist gefallen«, sagte Cyrion. Er stand immer noch, in Gedanken versunken oder vielleicht auch nur eitel, vor dem fesselnden Spiegelbild seiner selbst. Aber er war -106- ungewöhnlich blaß. »Ihr erinnert Euch natürlich an die Geschichte von Zilumi«, schwatzte Juved vergnügt. »Wie ihr Stiefvater, König Hraud, den Propheten Hokannen in seinen Kerker werfen ließ und wie Zimuli, als sie den Propheten sah, von heftiger Liebe zu ihm ergriffen wurde. Sie war eine Zauberin, in deren Adern Dämonenblut floß, mit goldenen Augen und Haar von der Farbe dieses Bronzespiegels. Hraud begehrte sie, und eines Nachts flehte er sie an, gewisse erotische Tänze für ihn zu tanzen, die die Dämonen sie gelehrt hatten. Betrunken wie er war, versprach er ihr Juwelen und Reichtümer, und während sie sich immer starrsinniger weigerte, wurde er immer trunkener und lüsterner, bis er endlich vor Gott und seinem versammelten Hofstaat schwor, ihr für einen Tanz alles zu geben, worum sie ihn bitten würde. Dann tanzte sie. Und es war ein Tanz, erzählt man, bei dem erloschene Kerzen von selbst zu brennen anfingen. Als der Tanz zu Ende war, erinnerte Zilumi Hraud an sein Versprechen. Er lachte und fragte, was sie haben wollte.›Gib mir‹, sagte Zilumi,›den Kopf Hokannens.‹Hraud war erschrocken und entsetzt, denn, obwohl er den Propheten eingekerkert hatte und gedachte, ihn im Gefängnis verfaulen zu lassen, fürchtete er sich doch, ihn sofort zu töten. Aber Zilumi bestand darauf:›Du hast vor Gott und deinem Ho fstaat einen Eid geschworen. ‹Hraud bot ihr Truhen voller Schätze, sogar sein eigenes Königreich. Aber Zilumi war une rbittlich.›Den Kopf Hokannens und nichts anderes.‹Endlich, schweißgebadet, stimmte Hraud zu und wollte eben dem Henker das Zeichen geben, als Zilumi wieder sprach.›Es ist für jeden offensichtlich‹, sagte sie,›daß du, wenn du mir das Haupt Hokannens gibst, mir auch sein Leben gibst.‹Reuevoll gab Hraud ihr recht.›Dann‹, fuhr Zilumi fort,›da du zugegeben hast, daß sein Leben mir gehört, möchte ich, daß er nicht getötet, sondern befreit wird.‹So übertölpelt, konnte Hraud nur gehorchen. Der Prophet wurde freigelassen. Zilumi wandte ihrem Leben des Reic htums und der Hexerei den -107- Rücken und ging mit Hokannen in die Wüste. Dort, um ihren Sinneswandel zu zeigen, schnitt sie sich das Haar ab und ließ ihre feinen Kleider im Sand zurück und sogar ihre magischen Geräte, zu denen auch dieser Spiegel gehörte, mit dem sie die bösartigsten Zauber gewirkt hatte.« Cyrion hatte sich nicht bewegt. »Ich kenne die Geschichte. Viele behaupten, etwas zu besitzen, das Zilumi gehörte.« »Aber dieser Spiegel«, sagte Juved leise, »dieser Spiegel wird Euch beweisen, daß er ein Werkzeug des Bösen ist.« Der Beobachter im Turm hatte inzwischen genügend Kräfte gesammelt, um sich der Tür zu nähern. Er streckte die Hand aus, faßte Cyrion am Arm und führte ihn aus dem Schlafzimmer hinaus. »Habt Ihr gefühlt, wie Euch die Seele ausgesaugt wurde, mein wunderschöner Freund?« Cyrions Gesicht hatte wieder Farbe bekommen. »Was führt Euch zu der Annahme, daß ich eine Seele habe?« fragte er heiter. Ein besorgtes Stirnrunzeln trat an die Stelle von Juveds Lächeln. »Es dauert mich, Euch auf diese Weise vernichten zu müssen«, sagte er. »Aber die Selbstsucht hat triumphiert. Ich möchte leben. Und obwohl mich die Verschwendung Eurer eigenen Lebenskraft bekümmert – was sein muß, muß sein. Der Reichtum magischen Wissens, den ich der Welt mitteilen kann, gilt mehr, als Eure vergängliche Schönheit und Fähigkeit. Gott wird mir vergeben.« Juved barst beinahe vor Unternehmungslust. Sein Lächeln war fröhlich und wohlwollend. »Ich habe Euch eine Geschichte erzählt, von Zilumi und Hraud und Hokannen. Soll ich Euch die Geschichte von Juved -108- und dem Spiegel erzählen?« Cyrion trat an das Fenster. Welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen, war von seine m Gesicht nicht abzulesen. Aber er schaute aus dem Fenster wie unter einem Zwang, als hätte eine unsichtbare Geste, eine unhörbare Stimme aus der Oase ihn herbefohlen. Selbst der Himmel im Osten leuchtete jetzt wie ein in Feuer gebadeter Topas. Zwischen den von der Sonne gefärbten Bäumen, neben dem Wasser, das der Sonnenuntergang in Wein verwandelt hatte, stand etwas. Unbestimmt und klein, ein zwergenhaftes Ding, das nicht recht zu erkennen war. Ein Schatten? Ein weißer Schatten? Und der Platz, wo das Ungeheuer im Sterben gelegen hatte, war jetzt leer… »Ich brachte den Bronzenspiegel Zilumis in meinen Besitz, ganz gleich wie«, sagte Juved, »da ich ihn für einige magische Experimente brauchte. Er war leicht zu tragen, außergewöhnlich leicht, und so makellos, wie Ihr ihn gesehen habt. Aber unglücklicherweise lag ein grausiger Fluch darauf, mit dem vielleicht die Hexenprinzessin selbst ihn in den Tagen ihrer Macht belegt hatte, daß nur sie allein Nutzen von seinen Kräften haben sollte. Seit dieser Zeit hatte er in einem Kasten gelegen, aus dem nur grimme Zaubersprüche ihn befreien konnten. Nachdem mir das gelungen war, war ich der erste, der in den Spiegel blickte. Sofort spürte ich eine Schwäche, ein Ziehen an meinem Innersten, als würde meine Seele gnadenlos aus meinem Körper gezerrt. Sobald dieses Gefühl nachließ, suchte ich voller Hast nach der Ursache. Diesen Turm, in dem ich mich zurückgezogen hatte, um in Ruhe und Abgeschiedenheit meine Studien fortführen zu können, hatte ich bereits mit schützenden Zeichen umgeben. Keine gefährliche Wesenheit konnte in ihn eindringen. Aber, als ich aus dem Fenster schaute, sah ich – ratet, was ich sah, schöner Schwertkämpfer!« »Ich würde nicht wagen, es mir vorzustellen«, erwiderte Cyrion höflich, den Blick immer noch auf die Oase gerichtet. -109- »Vielleicht ist das klug von Euch«, sagte Juved. »Ich will Euch eröffnen, was ich sah. Ungefähr drei Meter groß, ein menschenähnliches Geschöpf, weiß wie geschmolzener Stahl, Haut und Knorpel, mit schwarzen Krallen – es lauerte dort unten, tobend und geifernd. Der Spiegel, seht ihr, raubte mir einen Teil meiner Selbst und schuf daraus das genaue Gegenteil von mir – so riesig und dürr, wie ich klein und rundlich bin, weiß für meine braune Haut, primitiv, barbarisch und wild, wo ich weltgewandt und furchtsam bin. Aber ich bin kein Narr. Ich verriegelte die Türen des Turmes als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme und las in meinen Schriftrollen und Pergamenten, bis ich die genaue Natur dieses Geschöpfes herausgefunden hatte. So erfuhr ich, daß sein vordringlichstes Verlangen war, mich zu töten und mein Blut zu trinken, und daß es, war das vollbracht, aufhören würde zu existieren. Ich erfuhr, daß ich, selbst wenn ich so viel Mut besessen hätte, das Geschöpf nicht angreifen und töten konnte. Denn auch wenn ich herausfand, wie seiner Unverwundbarkeit beizukommen war, so bedeutete doch sein Tod auch den meinen, da wir beide eins sind, obwohl so verschieden. Zwei Mittel gab es, die ich anwenden konnte, um mich zu retten. Das eine davon wandte ich sofort an. Es besagte, daß ich durch Zauberei Unschuldige zu dieser Wasserstelle locken sollte, so viele, wie nur eben möglich. Auf diese Ahnungslosen stürzte sich das Ungeheuer, saugte ihnen das Blut aus und verschlang sie dann zur Gänze, Fleisch, Organe und Knochen. Nachdem sein abscheulicher Hunger solcherart für eine Zeitlang gestillt war, ließ es mich in Frieden und gestattete mir sogar, mich eine kurze Strecke von diesem Ort zu entfernen, obwohl es nie weit hinter mir war. Kürzlich erst besuchte ich eine in der Nähe gelegene Quelle und vergiftete sie mit Salz, was mir dabei half, noch mehr Opfer an diese Wasserstelle zu locken. Was das zweite Mittel betraf, so hatte ich nie daran gedacht, es anzuwenden, teilweise, weil dazu erforderlich war, eine weitere -110- Person in diesen Turm zu bringen, wozu ich den magischen Schutz hätte aufheben müssen. Außerdem stürzte sich der Unhold auf jeden, der hier herkam. Sie kamen nie bis zu meiner Tür, selbst wenn ich versucht hätte, sie einzulassen. Und dann, guter Herr, kamt Ihr. Euch gelang es, das Rätsel um die Unve rwundbarkeit des Ungeheuers zu lösen und es an den Rand des Todes zu bringen – welcher Tod natürlich – so eng verbunden wie wir waren – auch der meine gewesen wäre. Daher die Schnelligkeit, mit der ich zur Stelle war, mein Wunsch, Euch zu bewirten, mein Bemühen, Euch in den Raum zu schicken, in dem der Bronzespiegel hing. Denn das zweite Mittel zu meiner Rettung ist dieses: sollte ein anderer nach mir in den Spiegel schauen, verliert er seine Seele im Tausch für die meine: sein innerstes Selbst wird aufgesogen und meines freigegeben: mein gespenstisches Zerrbild löst sich auf und seines wird erschaffen. Und wie wird es in Eurem Fall aussehen, heldenmütiger Fremder? Plump für Eure Größe, fett für Eure schlanke Gestalt, weiß für Eure Sonnenbräune, schwarz für Euer flächsernes Haar, häßlich für Eure Schönheit. Schaut aus dem Fenster. Sagt mir, ist es nicht so?« »Ihr könnt es selbst beurteilen«, sagte Cyrion. »Seid versichert, das habe ich. Aber ich glaube, Ihr sucht nach einem Ausweg, gütiger Herr. Ich sollte Euch einiges erklären. Zuerst einmal mag Euch der Gedanke gekommen sein, daß derselbe Wechsel wieder stattfinden würde, sollte es Euch gelingen, mich dazu zu bringen, noch einmal in den Spiegel zu schauen. Eure Seele wäre frei, meine gefangen. Da habt Ihr ganz recht. Allerdings habe ich während meines erzwungenen Aufenthaltes hier Zaubersprüche gefunden und vorbereitet, für den unwahrscheinlichen Fall, daß jemand kommen und meinen Feind töten sollte, wie Ihr es getan habt. Sollte ich noch einmal in den Spiegel sehen, brauchte ich nur eine bestimmte Formel zu sprechen, um mich vor seinem Zauber zu schützen. In völliger Sicherheit kann ich vor dem Spiegel stehen, vorausgesetzt, die -111- Formel ist gesprochen oder wird auch nur in Gedanken wiederholt. Meine Zunge zu verstümmeln wird Euch nichts nützen. Und es gibt keinen Weg, auf dem Ihr mich dazu bringen könnt, in den Spiegel zu schauen, ohne daß ich es merke. Ist er nämlich so verborgen, daß ich ihn vielleicht übersehe, hinter einem Vorhang oder dicken Tuch, gibt es auch kein Spiegelbild, und der magische Austausch kann nicht stattfinden. Mag sein, daß Ihr glaubt, meine Zauberformeln auf andere Art umgehen zu können, indem Ihr mich betäubt und dann vor den Spiegel schleppt. Aber auch das wäre sinnlos. In Schlaf oder Bewußtlosigkeit ist die Seele eines Menschen von seinem Körper getrennt und kann von der Bronzeplatte nicht aufgenommen werden. Sobald ich mein Bewußtsein wiedererlangt hätte, würde ich die Formel aufsagen und damit den Zauber unwirksam machen. Da es also keinen Ausweg gibt, rate ich Euch, Euch in Euer Schicksal zu ergeben. Und Euch auf Euren Tod vorzubereiten. Ihr könnt nicht, wie ich es tat, Blut und Leben eines anderen für das Eure bieten. Ich bin das einzige andere mögliche Opfer. Und wenn ich auch machtlos gegenüber der Erscheinung war, die der Spiegel aus mir selbst erschaffen hatte, bin ich nicht machtlos gegenüber der Erscheinung eines anderen und habe mich durch meine Zauberkraft geschützt. Außerdem habe ich die Schutzzauber um den Turm aufgehoben, so daß Euer Spiegelbild eindringen und Euch töten kann. Ich bin der Meinung, daß schon zu viele Unschuldige gestorben sind. Ihr habt mir die Freiheit gebracht, und Euer Tod soll der letzte sein. Deshalb, je schneller, desto gnädiger. Ihr könnt Euch selbst Eurem Unhold darbieten oder ihn erschlagen. Das Ergebnis bleibt sich gleich. Ihr und es werdet sterben. Es tut mir leid, aber ich bin unbeugsam. Tröstet Euch damit, daß Euer Hinscheiden es einen me isterlichen Philosophen möglich macht, weiterzuleben.« »Diese Ehre ist durch nichts gerechtfertigt«, sagte Cyrion. -112- Den Bruchteil einer Sekunde nach diesen Worten, sprang er leichtfüßig wie eine Katze aus der Tür und die Treppe hinab. In einem plötzlichen Anfall von Zimperlichkeit verzichtete Juved darauf, durch Kristall oder Fenster den wandernden Sand zu beobachten, oder die in der Abenddämmerung liegende Oase. Grell wie ein Signalfeuer in der heraufziehenden Nacht wartete Cyrions zweites Ich, geboren aus Zilumis Bronzespiege l. Es war, wie Juved vorhergesagt hatte. Plump im Gegensatz zu Cyrions hoher Gestalt, fett für seine Schlankheit, grotesk für seine Anmut, abstoßend für seine Schönheit. Auf der schleimigweißen Umkehrung eines Kopfes schwarze Strähnen, das Gegenteil von Cyrions Haar. Und an seiner krallenbewehrten linken Tatze eine Parodie seiner Ringe und in der rechten eine Art Schwert, am Griff breiter als an der Spitze und mit einem Schimmer von Verwesung. Und es grinste, kicherte, lockte. Ein albernes Lächeln ließ all seine Zahnstümpfe sehen und es schwebte durch die Dunkelheit auf ihn zu wie ein leuc htender Ball aus Unrat. Aber es war natürlich auch schwerfällig für seine Schnelligkeit, unbeholfen für seine Gewandtheit. Mühelos sprang Cyrion zur Seite, packte die schwarzen Strähnen und schnitt sie ab. Das Ding stürzte, und schimmerndes weißes Blut strömte über den Boden. Noch zweimal hieb das Stahlschwert zu und sämtliche Krallen lagen zwischen den nächtlichen Oleanderbüschen. Es heulte in Todesqual. Und Cyrion spürte seinen Tod. Den Tod, der auch sein eigener sein würde. Aber es war nicht zu merken, daß er ihn spürte, wie es doch sein mußte. Seine schwindende Kraft war nebensächlich, blieb unbeachtet. Er lief zu dem Turm. Da der Schutzzauber aufgehoben war, -113- hielt nichts ihn auf. Seine Füße verursachten kaum einen Laut, als er mit jedem Sprung drei, vier Stufen nahm. Was sich an Geräuschen nicht vermeiden ließ, wurde von dem Kreischen des Unholds draußen übertönt. Juved erwartete ihn nicht oder wenn, dann nicht auf die Art, die er für sein Erscheinen gewählt hatte. Wie ein Pfeil schnellte Cyrion durch das Zimmer. Einen Augenblick lang stand der Magier wie erstarrt. Und im nächsten schmetterte der magische Kristall, den Cyrion sich im Flug gegriffen hatte, gegen seine Stirn. Juveds Erwachen war von beträchtlicher Übelkeit und Verwirrung begleitet. Obwohl er sich an alles Vorangegangene erinnern konnte, den Spiegel, den Trick, Cyrion und den Kristall, wurden diese Erinnerungen von den erbarmungslosen Schmerzen in seinem Schädel und der großen Menge Salz getrübt, die sorgfältig in seine Lippen, Zunge und Gaumen gerieben worden war. Würgend und spuckend stemmte Juved sich auf, griff nach dem Weinbecher auf dem Tisch und hatte schon einen Schluck getrunken, bevor er es verhindern konnte. Pech für ihn, denn auch der Wein war verdorben. Der gesamte Inhalt der Gewürzschalen war in den Becher und den Krug geschüttet worden, nicht nur das Salz diesmal, sondern auch Zimt und Pfeffer, Muskatnuß und Ingwer. Die Übelkeit forderte augenblicklich ihren Tribut. Erleichtert, aber zitternd, mit tränenden Augen und knoche ntrockener Kehle, stieg Juved vorsichtig die Treppe hinunter. Cyrions kindische Rache verblüffte ihn. Er war ärgerlich darüber, daß ein junger Mann von solch einzigartiger Erscheinung seinen Tod nicht heldenhaft oder wenigstens gelassen hingenommen hatte. Aber dieser Streich mit Gewalt und Gewürzen – Juved übergab sich ausgiebig und stolperte hastig in das kühle, nächtliche Schweigen der Oase. -114- Der Mond hing über den Palmen, scharf umrissen wie in Elfenbein geschnitzt und überzog das Wasser des Teiches mit einem wunderbaren Schimmer. Trotz Cyrions Streich war Juved schlau und erfolgreich gewesen. Es gab nichts mehr, das er zu fürchten hatte. Eine vorübergehende Übelkeit anstelle eines grausamen Todes, was hieß das schon! Äußerst zufrieden mit seiner Philosophie, kniete Juved neben dem Teich nieder und bückte sich. Von einem matten Schimmer zwischen den Oleanderbüschen wandte er geflissentlich den Blick ab. Bald würde das entsetzliche Ding endgültig tot sein und verschwinden. Cyrions Leichnam war glücklicherweise nicht zu sehen. Wenigstens hatte der Schwertkämpfer so viel Anstand gehabt, sich in die Wüste zu schleppen und dort zu sterben. Dankbar kostete Juved die kühle Flüssigkeit des Teiches. Trotz eines leichten Schwindelgefühls, das von seinem verdorbenen Magen herrührte, trank er langsam und mit einem wachsenden Gefühl der Zufriedenheit. Bis ein grotesk in die Länge gezogener Schatten den Widerschein des Mondes auf dem Wasser verdeckte. Mit einem irrwitzigen Schrei fuhr Juved herum und erkannte die Riesengestalt und feurigen Augenlöcher und messerscharfen Krallen des gräßlichen Geschöpfes, das zu ihm gehörte, das zuerst in dem Spiegel entstanden war. Ein kurzes Stück hinter den Oleanderbüschen lag Cyrion auf den nächtlichen Dünen und ließ sein Leben in sich zurückfließen. Er hatte in dem Turm noch viel getan, bevor er sich erlaubte, hier niederzusinken. Während das Ungeheuer starb und sein Leben mit sich nahm, hatte er alles darangesetzt, dieses Spiel mit dem Tod zu gewinnen. Aber der Tod kennt keine Freundlichkeit, keine Sicherheit, keine Ehre. Also lag er -115- regungslos, mit Mondschein in den Augen, und wartete darauf, zu vergehen oder weiterzubestehen. Aber Leben ist Leben, und als es zurückkehrte, brachte es seine eigene Linderung. Bald konnte er aufstehen und zum Ufer des Tümpels gehen, wobei er sich vom Wasser fernhielt, obwohl dort nichts lag, weder die Überreste des Magiers noch des Ungeheuers. Sorgfältig ritzte Cyrion das Warnzeichen in die Stämme der Palmen, das anderen Reisenden zeigte, daß das Wasser des Teiches ungenießbar war. Anschließend, aus seiner Schätzung nach ausreichender Entfernung, trat und stieß er Sand und Erde in den Teich. Es war eine ermüdende Arbeit, aber er hörte nicht auf, bis der Teich voller Schlamm und der Wasserspiegel um einige Zentimeter gestiegen war. Dann endlich hatte er begraben und verschüttet, was vorher nur von Wasser bedeckt war, ohne dadurch seine Zauberkraft einzubüßen. Und der niedersinkende Sand legte sich über den Bronzespiegel, den er in den Teich geworfen hatte, eine halbe Stunde bevor Juved sich niederbeugte, um zu trinken. Viertes Zwischenspiel Begrenzter, aber lebhafter Applaus belohnte die Geschichte, die zu hören auch einer der Kaufleute mit seiner Begleiterin herangekommen war. »Sehr spannend. Sehr gescheit«, rief der Kaufmann und klopfte dem von Schluckauf geplagten Soldaten auf die Schulter. Im Gegensatz zu dem schnauzbärtigen Gesellen war der Händler ein großer Mann, der ein mit Opalen besticktes, grünes Tuch um den Kopf geschlungen hatte. Ringe blitzten an seinen Fingern. Kein Wunder also, daß seine zierliche Begleiterin so entschlossen an seiner Seite blieb. Obwohl sie -116- auch noch ein Lächeln für den großen und den kleinen Soldaten hatte und ein Zwinkern für Roilant. Dem Gelehrten hatte die Geschichte auch gefallen und er schwor, daß er sie sich für die Zukunft merken würde. Der blonde Soldat lehnte mit glasigen Augen an der blaugetünchten Wand und strahlte jeden an, besonders den schmuddeligen Weisen in der Nische, der sich jetzt durch drei Gläser Sorbett hindurchschlabberte. Scheinbar hatte er sein Fasten nicht nur unter-, sondern regelrecht abgebrochen. Roilant hatte keinen Gefallen an der Geschichte gefunden. Das war eindeutig. Wenn auch nur etwas von dem, das er zu hören bekam, der Wahrheit entsprach, vergrößerte das nur die Notwendigkeit, den wunderbaren Cyrion aufzuspüren. Aber wo war er zu finden? »In der Süßen Gasse habt Ihr ihn gesehen?« »Ja«, sagte der schnauzbärtige Soldat. »Nein. Schüsche Schtrasche.« Er verbreitete sich darüber, daß er dort einen Barbier aufgesucht hätte, um sich sein üppiges Gesichtshaar stutzen zu lassen: »Die Idschoten in der Kascherne haben nicht mehr Geschicksch alsch ‘n Vogel Schtrauß mit Schere.« Während er unter dem Sonnendach saß, hatte er Cyrion vorbeigehen sehen, gekleidet wie ein Prinz. An diesem Punkt mischte sich der staubige Karawanenbesitzer ein, der herübergekommen war, um mit dem juwelenverzierten Kaufmann zu sprechen. »Ihr meint diesen Cyrier, Cyrion? Den mit dem hellen Haar und dem nomadischen Gehabe? Dann bedaure ich, Euch sagen zu müssen, daß es nicht der Cyrion war, den Ihr in der Süßen Straße gesehen habt. Ich habe erst gestern mit ihm gesprochen, ungefähr zehn Meilen von Heruzala entfernt. Er war auf dem Weg nach Bakrad.« »Bakrad?« Jede Haarspitze Roilants verriet sein Entsetzen. »Da scheid Ihr ‘in Irrtum, Herr«, wehrte sich der kurzgeratene Soldat. »Ich kenne Schyrion wie meine Brü- Brüder. Und ‘sch -117- traf ihn auf der Schüßen Schtrasche ‘eute morgen.« Der Karawanenbesitzer zuckte vielsagend die Schultern. »Wie Ihr wollt. Ich weiß, wen ich getroffen habe.« »Und ich weiß – Vergebung – wen ich getroffen habe.« »Ihr kennt Cyrion gut?« fragte Roilant den Karawanenbesitzer. »Er hat mir einmal einen Gefallen getan. Ja. Ich kenne ihn.« »Wie weit auf der Straße nach Bakrad?« »Nicht weit. Inzwischen wird er aber schon ein gutes Stück hinter sich gebracht haben.« Roilant fluchte leise. Er trug das kindische Gehabe des besiegten Erwachsenen zur Schau. »Wenn es dringend ist, könnt Ihr von dem Posten hier eine Brieftaube ausschicken. Entlang der Straße gibt es überall Stationen.« »Die Zeit ist – kurz«, sagte Roilant geheimnisvoll und handelte sich damit einen schrägen Blick des schnauzbärtigen Soldaten ein, der auf ein ganz bestimmtes Wort immer mißtrauisch reagierte. Er und der geschlagene Roilant drehten sich deshalb nicht um, als neuerlich ein Aufruhr hinter ihnen losbrach. Der Verursacher war, wie vorher schon, der Weise. Die bezaubernde Brünette, der Roilant schon einmal begegnet war, als sie die Schänke verließ, kam jetzt in den Raum geschwebt, in einer Wolke aus hauchzarten Stoffen und schimmernden Perlen. Ihr folgte die kleine Magd mit einem Korb voll Blumen. Bei diesem faszinierenden Auftritt erhob sich der Weise in einem Sprühregen aus Sorbett. »Die Hure der Stadt, sie geht einher in Purpur und Juwelen, und die heiligen Steine sind besudelt mit ihrer Schändlichkeit.« Statt Verlegenheit oder Empörung zeigte die Dame eine -118- gelinde Belustigung. Sie wandte sich gelassen um und sagte mit ihrer Raubkatzenstimme: »Schweig still, du närrischer alter Mann. Weder trage ich Purpur, noch besudele ich ir gend etwas, was man von dir nicht sagen kann. Ich werde dem Wirt nahe legen, sein Haus gründlich zu reinigen und mit starken Gewürzen auszuräuchern, sobald du es verlassen hast.« Die Frau mit den silbern geschminkten Augen kicherte. Alle drei Kaufleute spendeten lauten Beifall. Der Weise, dessen Gesicht eine erschreckende dunkelrote Färbung angenommen hatte, warf die Arme in die Luft und stürmte vor sich hin brabbelnd aus der Tür. Das allgemeine Getöse nahm zu. Man ließ die schöne Brünette hochleben und versprach ihr Käfige mit Tauben und Flakons mit seltenen Parfüms. Der Gelehrte stand auf und beeilte sich, sein Pergament in Sicherheit zu bringen. Es war fast unbeschädigt, nur ein paar gebackene Linsen klebten daran. Auch Foy, der blonde Soldat, war an einer Feier nicht interessiert. Er sprang auf. »Komm, Schnauzbart. Er ist weg und wir müssen hinterher.« »Was?« erkundigte sich Schnauzbart, dessen Trunkenheit, wie sich herausstellte, nicht nur gespielt war. »Der Unruhestifter. Der verrückte Prophet. Komm schon, Trottel!« Foy zerrte den schnurrbärtigen Soldaten auf seine unsicheren Füße, wobei ihm die kleine Statur des letzteren zupaß kam, und schob ihn zum Ausgang. Als er den Vorhang erreichte, blieb Foy stehen, während Schnauzbart sich mühte, eine einigermaßen kriegerische Haltung anzunehmen, und dabei einen kleinen Stuhl umwarf. »Meinen Dank für das Festmahl, und seid versichert, daß es mir leid tut, mein Versprechen nun doch nicht erfüllen zu können, aber die Pflicht erhebt ihre mahnende Stimme. Erkundigt Euch, ob jemand die Geschichte über den Mord in Klove kennt. Die ist gut.« -119- Schnauzbart torkelte durch den Vorhang, und Foy eilte hinter ihm her. Ein durch den Vorhang gedämpftes Geräusch ließ vermuten, daß die Quirristatue sich der liebevolle Umarmung eines kleinen Mannes ausgesetzt sah, und Foy sagte aufgebracht: »Wir werden den alten Gauner wieder verlieren.« Es folgte ein Poltern wie von einer Elefantenherde und das Schlagen der Türe. Roilant sagte matt: »Ich möchte keine Geschichten mehr hören.« »Armer junger Herr«, tröstete ihn die silberne Hure, woraufhin ihr Begleiter sie prompt wieder an den anderen Tisch verfrachtete. »Ihr solltet nicht verzweifeln«, meinte der Gelehrte, der wieder zurückgekommen war und sorgfältig das Pergament abtup fte. »Das war schon immer so mit diesem Cyrion. Einer hat ihn hier gesehen, der andere dort. Und Ihr, Herr«, zu dem Karawanenbesitzer, »könnt Ihr schwören, daß es Cyrion war, der Euch auf der Straße nach Bakrad begegnet ist?« Der Karawanenbesitzer schaute erst beleidigt, dann nachdenklich drein. Endlich: »Um ehrlich zu sein, er ritt in einer Staubwolke an uns vorbei. Wir riefen Grüße. Er schien mich zu kennen, aber in meinem Geschäft komme ich mit vielen Leuten zusammen. Aber er war beritten und das, wenn ich es recht überlege, ist ungewöhnlich für Cyrion. Zufällig weiß ich von dem Meuchelmörder in Klove, falls Ihr -« Roilant gab ein Geräusch von sich, das zwar nicht unhöflich, aber auch nicht ermutigend war. »Ich hoffe, Ihr werdet mir verzeihen«, sagte der Gelehrte, »aber ich habe die Geschichte noch nicht gehört. Ich glaube, es ist an mir, den Wein zu bestellen.« Und zu dem Karawanenbesitzer: »Setzt Euch. Erzählt mir von Klove. Der junge Herr wird Nachsicht mit mir haben.« -120- Roilant verzog das Gesicht, blieb aber sitzen. Während ihrer Unterhaltung war der Wirt zurückgekommen und hatte festgestellt, daß der Weise seine Rechnung nicht beglichen hatte. Es gab ein Geschrei. Außerdem kam noch ein fetter Priester hereingesegelt, die Sklaven rannten herum, Mittagessen wurde aufgetragen oder verzehrt, und in dem ganzen Raum herrschte eine eifrige Betriebsamkeit, die zur Kenntnis zu nehmen Roilant inzwischen zu müde war. Ihm war nur ein wachsendes Verlangen anzumerken, sich zu verabschieden. Der Karawanenbesitzer setzte sich. »Also gut. Klove. Es ist die lautere Wahrheit. Eine äußerst eigenartige Begebenheit.« »Das überrascht mich«, bemerkte Roilant in dem Bemühen, sarkastisch zu sein, aber seine Anstrengung blieb ungewürdigt. Der Karawanenführer schenkte sich Wein in den Becher und begann zu erzählen, und nicht lange, so kehrten alle drei Kaufleute mitsamt Begleiterinnen wieder an Roilants Tisch zurück. Auf der anderen Seite des Raumes schien die Brünette gleichfalls zuzuhören, während sie geschmortes Zicklein und Äpfel fein säuberlich in ihren recht großen, aber feingliedrigen Händen zerteilte… Der Assassine Als drei schwarze Punkte, in der weißblauen Flüssigkeit des Himmels kreisten langsam die Geier. Ein unfehlbarer Hinweis auf den Tod, irgendwo da unten. Der zweite Hinweis war noch eindeutiger. Erreichte man den oberen Rand der letzten Düne, entdeckte man sofort das Wasserloch und hinter den ewigen Rauchfahnen des Wüstensandes einen anderen, unheilverkündenden Rauch. -121- Cyrion blieb auf dem Abhang stehen, die weite Kapuze seines Nomadengewandes über den Kopf gezogen, um die Sonne abzuhalten, ein dunkler Fleck vor dem blassen Hintergrund der Wüste. Nichts bewegte sich am grasbewachsenen Ufer des Wasserlochs und auch nicht bei dem einzigen, zerzausten Baum. Das kleine Haus war ein geschwärzter Trümmerhaufen, eingehüllt in einen Mantel aus Rauch, jetzt, da das Feuer niedergebrannt war. Zwischen der Ruine und dem Baum lag ein toter Mann auf dem Gesicht, und um ihn herum lagen die blutigen Körper von zehn oder mehr Tauben. Das Interessanteste an diesem Bild waren die kreisenden Geier. Hier wartete ein Festmahl auf sie. Wenn sie trotzdem in der Luft blieben, hatte das einen Grund. Von ihrer hohen Warte aus mußten sie ein lebendes und vielleicht gefährliches Lebewesen auf der anderen Seite des Rauchvorhangs entdeckt haben. Cyrion hatte die Wahl. Er konnte umkehren. Wenngleich das wenig aussichtsreich war; denn er hatte kein Wasser mehr und war seit dem Morgen zu dieser Wasserstelle unterwegs. Mit geübter Sanftheit zog er sein Schwert aus der roten Lederhülle. Brachte dann den Rest des Dünenhanges hinter sich und schritt zu dem Wasserloch, als hätte er die verbrannte Ruine gar nicht gesehen. Nachdem er das Schwert achtlos in den Sand gestoßen hatte, begann Cyrion, den Ledereimer vom Grund des Brunnens heraufzuziehen. Die Bewegung, als sie entstand, war überraschend fließend und vollkommen. Der Platz zwischen Ruine und Wasser war leer bis auf die Leichen, und dann, war er es plötzlich nicht mehr. Cyrion blickte auf. Der Ankömmling war ein Fremder und trotzdem unverwechselbar. Er saß auf einem Schimmelwallach, der mit weißem Leder und Silber gezäumt war. Der Mann trug ein -122- stählernes Kettenhemd und darüber einen schneeweißen Waffe nrock, einen Helm aus weiß gehärtetem Stahl mit einem weißen Federbusch und einer Nasenschiene, die sich noch quer unter den Augen hinzog und die gleiche Wirkung hatte, wie eine Maske. Auf seinem Rücken hing ein Schild mit einem Wappen – einer weißen Taube. Schon an der Taube hätte ihn jeder erkannt. Er war einer der Engelsritter, die manchmal auch›Tauben‹genannt wurden oder Weiße Reiter. Cyrion kümmerte sich wieder um den Eimer. Er lächelte. »Kann ich Euch zu trinken anbieten, mein Freund?« Der Ritter saß auf seinem Pferd, wie ein Block aus unmöglichem Eis in der Hitze. Nichts an ihm bewegte sich, nicht einmal das Pferd zuckte mit den Ohren. »Immerhin«, bemerkte Cyrion entwaffnend, »ist es eine Arbeit, die Durst macht: einen Mann in den Rücken zu stechen und sein Haus niederzubrennen. Ganz zu schweigen von den Tauben.« Der Ritter öffnete den Mund. »Wie ist Euer Name?« Ein anderer hätte sich bei dieser Frage eines Weißen Reiters vielleicht versucht gefühlt, zu lügen. Nicht so Cyrion. »Cyrion.« »Ist das Euer Name oder Euer Geburtsort? Stammt Ihr aus Cyroam?« »Vielleicht«, Cyrion zögerte einen winzigen Moment, »auch nicht.« »Ihr kleidet Euch wie ein Nomade, seid aber hellhäutig.« Diesmal antwortete Cyrion nicht. »Wohin seid Ihr unterwegs?« »Ich habe kein bestimmtes Ziel.« »Ihr kennt die Festung Klove, eine halbe Tagesreise im Nordosten.« -123- »Natürlich«, sagte Cyrion. »Dorthin wollt Ihr, nicht ich.« Klove war ein Besitz der Engelsritter. Sie besaßen mehrere solcher Festungen in der Wüste, außer ihrer Burg in der Stadt Heruzala, im Südwesten. Der Ritter bewegte sich immer noch nicht. Seine Regungslosigkeit war bedrohlich. Er sagte: »Ja, ich bin dorthin unterwegs. Vom heiligen Heruzala nach Klove. Wenn Ihr hier irgendwelche Unannehmlichkeiten gehabt habt, beschwert Euch in der Festung. Erzählt von mir am Tor. Sie werden Euch freundlich begrüßen, wenn Ihr eine Klage gegen mich habt.« Die Worte ergaben keinen Sinn. Was als nächstes geschah, ergab noch weniger Sinn – oder vielleicht mehr. Aus vollkommener Starre geriet der Ritter in explosive Bewegung. Vielleicht hatte Cyrion mit dem langen Schwert gerechnet, aber nicht das Schwert wurde gebraucht. Statt dessen flog eine kleine tödliche Kugel aus gezacktem Marmor aus der gepanzerten Hand des Ritters. Cyrion warf sich zur Seite. Aber er schien zu stolpern, war nicht schnell genug. Die Marmorkugel flog über ihn hinweg, riß ihm die Kapuze vom Kopf und streifte durch das leuchtende Haar. Und Cyrion stürzte ohne einen Laut vor die reglosen Hufe des weißen Pferdes. Die Festung Klove lag hundertfünfzig Meilen entfernt von Heruzala in der Wüste. Aber der felsige Hügel, auf dem die Festung stand, war zwischen den nackten Steinen mit Gras bewachsen. Eine giftgrüne Oase im Tal versorgte die Festung auf der Höhe und das planlos angelegte Dorf, das der Festung diente, mit Wasser. Schafe und Ziegen grasten blökend an den Ufern des Teiches. Frauen kamen und gingen mit ihren Krügen. Die Männer arbeiteten in der Schmiede, Gerberei und anderen Betrieben, die man für den Unterhalt der Festung für notwendig -124- hielt. Die Weißen Reiter hatten mit solchen Arbeiten nichts im Sinn. Vor einem Jahrhundert war in irgendeinem weit entfernten Land im Westen irgendeinem Fürsten Gottes Engel erschienen. Das hatte genügt. Der Orden wurde gegründet. Die Ritter lebten auf priesterliche Art, befolgten den Zölibat, waren eifrig im Gebet und fasteten zu bestimmten Zeiten. Die übrigen Zeit ritten sie in die Schlacht. Sie kämpften gegen alle Räuberbanden, gegen die Armeen feindlicher Länder und gegen Unruhestifter in Heruzala selbst. Da sie der hellhäutigen, westlichen Rasse entstammten, beschränkte sich die weiße Farbe nicht nur auf die Kleidung. Die braunen Nomaden der Wüste und die olivhäut igen Völker entlang der Küste hatten ihre eigenen Namen für die Ta uben. Ihre Rassegenossen begegneten ihnen gleichfalls mit Vorsicht. Es war bekannt, daß sie seltsame, geheimnisvolle Rituale durchführten, die die Grundlage für ihren Kodex und ihre Verehrung Gottes bildeten. Und man behauptete von ihnen, daß sie nebenbei noch geheime Kriege führten. In unheimlichen Zeremonien, erzählte man, konnten sie sich blind machen für jede Gefahr und unempfindlich gegen jeden Schmerz. Als lenkbare, wirksame und denkende Werkzeuge wurden sie dann auf ihr Opfer losgelassen, irgend jemanden, der ihre Ehre oder ihren Geldbeutel verletzt hatte. Sie ließen sich von nichts aufha lten, räumten jedes Hindernis brutal aus dem Weg, gnadenlos – Assassinen, dämonische Meuchelmörder. Nichts, außer Gerüchten, war jemals gegen die Engelsritter vorgebracht worden. Der junge König in Heruzala fand sie anscheinend nützlich. Oder er fürchtete sie auch. Ganz sicher zahlte er große Summen in ihre Truhen. Ihre Festungen standen wie gelbe Merksteine entlang Heruzalas Grenze zur Wüste und hatten sich sogar bis Daskiriom im Norden vorgeschoben. Im Dorf, das blutrot in der kurzen Abenddämmerung der Wüste lag, brannten die Kochfeuer vor den Lehmhütten, während hoch oben die von der tiefstehe nden Sonne -125- angestrahlte Festung wie glühende Kohle leuchtete. Ein paar Vögel kreisten über den Türmen; es waren fette, zahme Brieftauben. Wo die letzten Häuser an den Sand grenzten, bückte sich eine Frau, um in ihren Topf zu rühren, richtete sich erstaunt wieder auf und blickte in die Wüste hinaus. Aus dem Westen, wo die Nacht schon emporwuchs wie ein dunkelbla uer Berg, kam ein Mann. Er hatte kein Pferd und stolperte oft. Er trug das Gewand der Nomaden, aber das letzte Abendrot zeigte ein weißes Gesicht, umrahmt von he llen Haaren und mit einem dunklen Streifen Blut auf der rechten Seite. Während sie ihn beobachtete, erreichte er mit unsicheren Schritten das Dorf und wandte sich sofort in ihre Richtung. Aufgeschreckt rief die Frau nach ihrem Mann, der in der Hütte beschä ftigt war. Ein paar Schritte vor ihr blieb der Fremde leicht schwankend stehen. »Ich brauche Eure Hilfe«, sagte er. »Werde ich sie bekommen?« »Was geht hier vor?« fragte der Ehemann der Frau und trat aus der Tür. Der Fremde ließ sich zu Boden sinken, wie ein Kind, das noch nicht sicher auf den Beinen ist. »Ihr wollt tatsächlich zuerst eine Geschichte hören, nicht wahr?« meinte er. »Hört also. Bei der Wasserstelle mit dem Baum begegnete ich einem Weißen Reiter. Er betäubte mich mit einer Marmorkugel, nachdem er mir vorher gesagt hatte, hier würde man mich lieben für seine Missetat.« Die Frau holte tief Atem. Ihr Ehemann brachte dem Fremden eine lederne Wasserflasche und hielt sie ihm an den Mund. Als der Fremde getrunken hatte, fragte der Mann drängend: »Was ist mit der Hütte bei der Wasserstelle?« »Niedergebrannt und der Besitzer erschlagen. Ganz zu -126- schweigen von den Tauben.« Der Mann holte Atem, wie vorher seine Frau. »Das ist die Antwort auf viele Fragen«, sagte er. »Fremder Herr«, wandte er sich an den auf dem Boden liegenden Mann, »Ihr müßt mit mir kommen.« »Mein Name ist Cyrion«, sagte der Fremde. »Wohin mitkommen?« »In die Festung. Und schnell.« »Dann stimmt es also? Er sagte mir, ich würde in Klove gut aufgenommen, wenn ich schlecht über ihn spräche – wer immer er gewesen ist -« »Oh, wir wissen über ihn Bescheid«, sagte der Ehemann, half dem Fremden auf die Füße und führte ihn die Straße zur Festung hinauf. Viele Dorfbewohner, an denen sie vorbeikamen, ließen ihre Arbeit liegen, um ihnen nachzusehen. Einige riefen dem Mann, der den Fremden stützte, rätselhafte Fragen nach, die ebenso rätselhaft beantwortet wurden. Ein paar boten ihre Hilfe an, wurden aber abgewiesen. Der Weg den Berg hinauf war steil und wäre schwer zu bewältigen gewesen, hätte der Fremde sich nicht etwas erholt. Sie kamen an das äußere Torhaus. Die weißgekleideten Wachen, die ihr Nahen so regungslos beobachtet hatten, als wären sie aus dem gleichen Stein wie die Mauer, gerieten in Bewegung. Einer von ihnen rief von der sechs Meter hohen Mauer herab: »Was wollt ihr?« »Dieser Mann«, rief der Bewohner von Klove zurück, »bringt Neuigkeiten – die Neuigkeiten, auf die Großmeister Hulem gewartet hat.« Ein zweiter Wächter trat hinzu. Er sagte etwas zu dem ersten, der daraufhin rief: »Wartet hier. Er soll hereinkommen.« -127- »Man nennt Euch Cyrion?« fragte der Meister Provinzial der Festung Klove. »Ist das so, weil Ihr aus Cyroam stammt?« »Vielleicht auch nicht.« In der fackelerleuchteten Halle, wo ein großes Kaminfeuer die Kälte der Wüstennächte vertrieb, wo der Tisch mit Fleisch, Früchten und Wein gedeckt war und wo Weiße Ritter sich erfolgreich bemühten, ebenso starr und steif zu stehen wie ihre Lanzen, war der verwundete Fremde aufs Beste empfangen worden. Er mochte mit einer rauen oder auch unverhüllt groben Behandlung gerechnet haben, aber die Soldatenhände, die sich seiner Wunde annahmen, waren beinahe zart gewesen. Das Essen, das ihm aufgetischt wurde, war gut, um nicht zu sagen ausgezeichnet. Nur die große Anzahl von Wachen, jeder von ihnen ganz Ohr, erweckte eher den Anschein vorsichtiger Duldung als von Gastfreundschaft. Zwar war der Großmeister Hulem, der angeblich so sehnsüchtig auf Neuigkeiten wartete, nicht erschienen. Dafür aber der Meister Provinzial, der anscheinend aber mehr eine höfliche Unterhaltung im Sinne hatte, als ein Verhör. Wie auch immer, der Gast wußte es besser, als in diesem berühmtberüchtigten Heiligtum Ungeduld oder Belustigung merken zu lassen. Der Meister Provinzial hatte sandfarbenes Haar und sandfarbene Haut. Jetzt wurden seine sandfarbenen Augen hart wie Stein, und er sagte: »Berichtet mir genau über Euer Zusammentreffen mit dem Weißen Ritter. Jedes einzelne Wort, wenn ich bitten darf, Mannder-Cyriongenanntwird.« Der Mann, der Cyrion genannt wurde, gehorchte. Er erzählte von der niedergebrannten Hütte, den getöteten Tauben, dem ermordeten Mann; von dem Weißen Ritter, seinen Worten, seinem Angriff mit der Marmorkugel. Er berichtete, wie er wieder zu Bewußtsein gekommen sei und sich auf den Weg -128- nach Klove gemacht hätte, um Entschädigung zu verlangen, wie der Ritter gesagt hatte. Als er geendet hatte, stand der Meister Provinzial eine Weile in Gedanken versunken. Dann sagte er: »Das ist eine Angelegenheit zwischen der Loge der Tauben in Heruzala und unserer eigenen hier. Euc h braucht das nicht interessieren. Trotzdem sind wir dankbar, weil Ihr uns Nachrichten gebracht habt.« Er winkte befehlend. Ein Ritter trat vor und stellte neben den Ellenbogen des Nachrichtenüberbringers einen Beutel, in dem es klimperte. Der Nachrichtenüberbringer betrachtete ihn. Dann schob er ihn mit seiner ringgepanzerten Linken zur Seite. »Ich hatte angenommen«, murmelte er, »daß ich meine Neuigkeiten dem Großmeister Hulem selbst mitteilen sollte.« »Wirklich? Und warum habt Ihr das angenommen?« »Der Mann aus dem Dorf ließ keinen Zweifel daran – daß meine Neuigkeiten die wären, die der Großmeister zu hören wünschte.« Bei diesen Worten entschlüpfte dem Meister Provinzial ein schnaufender Laut, den man fast für ein unterdrücktes Lachen halten konnte. »Sind es also Neuigkeiten, die er nicht zu hören wünscht?« »Was es auch sein mag, mein Freund, es geht Euch nichts an«, schnappte der Meister Provinzial. »Wir haben Euch behandelt und bezahlt. Heute nacht könnt Ihr hier auf einer Pritsche schlafen. Morgen werdet Ihr einen Esel bekommen und könnt weiterziehen.« Er wandte sich ab, nur um von der weichen Stimme hinter ihm aufgehalten zu werden. »Verehrter Meister«, sagte sie, »ich habe mich gefragt, ob der Ritter, dem ich begegnete, die Hütte bei der Wasserstelle niederbrannte und den Mann und seine Tauben tötete – um zu verhindern, daß Nachricht von seinem Kommen Euch erreichte. -129- Und es wundert mich auch, daß, obwohl er mir sagte, er wäre hierher unterwegs, er noch nicht eingetroffen ist; denn er war gut beritten. Nun, könnte man nicht denken, daß er doch gekommen ist, unbemerkt? Es gab einigen Tumult, als ich in Eure Burg geführt wurde, könnte dabei nicht -« Der Satz blieb unvollendet. Seltsam die Wirkung, die er auf den Meister Provinzial hatte. »Vielleicht«, fuhr der blonde Mann fort, »sollte ich doch mit dem Großmeister sprechen. Vielleicht wäre es ihm angenehm, die Einzelheiten aus meinem Munde zu erfahren.« Der Meister Provinzial runzelte die Brauen. »Wir werden sehen. Für jetzt geht in die Euch zugewiesene Zelle. Morgen früh werde ich Euch vielleicht ausführlicher befragen.« Nur wenige Minuten nach diesem Gespräch, verließen dreißig Engelsritter bis an die Zähne bewaffnet, beritten und mit brennenden Fackeln die Burg und galoppierten in das Dorf hinab. Eine Zeitlang ritten sie die schlammigen Straßen auf und ab, dann am Rande der Oase entlang und in die Wüste hinein. Gegen Mitternacht kehrten sie nach Klove zurück. Sie führten einen reiterlosen Schimmelwallach mit sich. Außer dem Wallach hatten sie. keinen Hinweis auf einen fremden Ritter gefunden. Tatsächlich hatten sie überhaupt keinen Fremden gefunden, bis auf einen alten, verrückten Kerl, einen der umherziehenden heiligen Männer der Wüste, die von Zeit zu Zeit das Dorf besuchten und wieder verschwanden. Der heilige Mann saß zusammengesunken vor einem der Feuer in den Straßen des Dorfes. Trotz seiner gebeugten Haltung war zu erkennen, daß er in seiner Jugend ein kräftiger Mann gewesen sein mußte. Vielleicht hatte er da auch einmal Wert auf seine Kleidung gelegt. Jetzt war er schmutzig, wie die meisten der heiligen Männer, mit klebrigem grauweißen Haar, das ihm, obwohl erst kürzlich gestutzt, in die Stirn hing. Sein greisenha ftes Gesicht war in dem verschwommenen, tanzenden Feuerschein eine Ansammlung beweglicher, schmutzverklebter -130- Runzeln. Sein schmuddeliges Gewand hatte einen langen Riß im Rücken, und er verbarg seine schmierigen Händen in den langen Ärmeln, während er wirres Zeug vor sich hin murmelte. Als die Ritter vorbeikamen und ihm ein paar flüchtige Frage n stellten, geriet er in geifernden Zorn. Als sie verschwunden waren und das Geräusch der Hufschläge verklang, setzte er sich wieder an das Feuer. Dort begann er, auf die Bitten der Leute hin, die sich nach und nach um ihn versammelt hatten, seine Lehre darzulegen. Die Lehre entpuppte sich als eine faszinierende Nacherzä hlung der fremdartigen Gleichnisse der Wüste, der Mythen dieses uralten, von Löwen durchstreiften Landes. Und während der alte Mann sprach, bekam seine grobe, rauhe Stimme einen hypnotischen Klang. Als die Ritter zurückkamen und das weiße Pferd zur Festung hinaufbrachten, blickten die Leute am Feuer ihnen nach und flüsterten, und der heilige Mann unterbrach seinen Monolog. Als die letzte Fackel unter dem Tor verschwunden war, schrie er seine Zuhörer an und verlangte zu wissen, was in Klove vor sich ging. Aus Achtung vor seiner Berufung und weil sie sich die Angst von der Seele reden wollten gehorchten sie. Klove befand sich im Krieg, in gewissem Sinne wenigstens. Im Krieg, Taubenloge gegen Taubenloge, mit den Weißen Reitern von Heruzala. Wie gewöhnlich, war es eine geheime Angelegenheit, aber der Grund war ein Akt der Gnade, den der Großmeister Hulem vor einem Monat vollbracht hatte, als ein Dieb um sein Leben flehte. Davon hatte man in Heruzala erfahren. Die Tat, die man dem Großmeister als fatale Schwäche auslegte, sollte mit Hulems Tod unter dem Schwert eines auserwählten Ritters der Loge gesühnt werden. Diese Assassinen, die durch Magie auf ihre Aufgabe vorbereitet wurden, waren wie denkende Maschinen, und es gab keine Möglichkeit, sie abzulenken. Seit sein Urteil gesprochen worden war, saß der unglückliche Hulem bedrückt in der Festung und erwartete den Rächer mit verschlossenen Toren. -131- Und draußen wartete das Dorf, voller Angst vor einer rücksichtslosen Vergeltung an ihnen selbst. Die Poststationen in dieser Gegend, die Hulem treu ergeben waren, hatten geschworen, ihn zu warnen, indem sie besonders beringte Vögel aussandten, zum Zeichen, daß der Mörder sich näherte. Aber nicht ein einziger Vo gel war eingetroffen. Nach Aussage des Mannes, der am frühen Abend in das Dorf gekommen war, mußte man wohl davon ausgehen, daß alle Stationen niedergebrannt worden waren. Glückliche rweise hatte Klove durch eben diesen Fremden erfahren, daß die Gefahr sich näherte. In der Festung hatte man einen Plan, wie man sich des Assassinen entledigen wollte: Da ein solcher Mann nach dem vorbereitenden Ritual weder Schmerz noch Wunden spürte und deshalb von Schwert, Lanze oder Pfeil nicht aufgehalten werden konnte, hatte man vor, kochendes Pech auf ihn hinabzuschütten. Selbst ein durch das Ritual geschützter Ritter konnte einen solchen Anschlag nicht überleben. Der alte, heilige Mann schien ein Lächeln zu unterdrücken. »Angenommen«, gab er zu bedenken, »der verschlagene Mörder rechnet mit einer solchen Maßnahme. Wird er sich nicht irgendwie davor zu schützen wissen?« »Aber«, protestierten die Leute, »er muß hier herkommen und wird folglich auch gesehen werden. Wie könnte ein solcher Mann unbemerkt bleiben, in seinem Kettenhemd aus Stahl und dem weißen Überwurf; auch wenn er kein Pferd bei sich hat?« »Allerdings, wie könnte er«, meinte der heilige Mann. Das Kinn in seinem zerrissenen Gewand vergraben, verbarg er jetzt ganz eindeutig ein Lächeln. Bald darauf hatte der heilige Mann einen Anfall. Einen recht beeindruckenden. Er fiel auf der Straße, schlug wild um sich und schäumte beträchtlich. Die Leute zogen sich respektvoll zurück und beobachteten in beifälligem Erschrecken dieses Schauspiel heiliger Besessenheit. Schließlich war der Anfall -132- vorbei und der heilige Mann richtete sich auf. »Ich muß in die Festung«, sagte der heilige Mann in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Der Himmel hat mir das Schicksal des Großmeisters Hulem offenbart.« Das Dorf Klove, taumelig und benommen durch viele schlaflose Nächte, Angst und Geschichtenerzählen, beschloß, daß dem Willen des Himmels Folge geleistet werden müsse. Unter dem schwarzen, kalten Himmel einer Wüstennacht, der dicht an dicht mit Sternen betupft war, begleiteten die Dö rfler den heiligen Mann zu den Toren der Burg. Es folgte ein Wortwechsel zwischen Dorfbewohnern und Wächtern. Der heilige Mann saß auf dem Boden und trug Geringschätzung zur Schau, schmutzig, erhaben, schweigend. Mitten in dem Geschrei erschien der Meister Provinzial auf den Zinnen, drängte sich durch Männer und Fackeln und lehnte sich über die Mauer, um einen Blick auf den Weisen zu werfen. Der Meister Provinzial war noch völlig angekleidet; seine nervöse Wachsamkeit hatte ihm den Schlaf auf seiner harten Pritsche versagt. »Der alte Bursche hat eine Vision gehabt, behauptet ihr?« fragte er. Er machte nicht eben den Eindruck eines Mannes, der sich zu umherziehenden Epileptikern hingezogen fühlte, aber vielleicht war er an einem Punkt angelangt, an dem er nach jedem Strohhalm griff. Der heilige Mann jedenfalls fühlte sich bemüßigt, auf die Frage zu antworten. »Mir wurde das Schicksal des Großmeisters Hulem offenbart«, schrie er mit einer Lautstärke, die auf überraschend kräftige Lungen schließen ließ. »Tatsächlich?« Der Meister Provinzial wandte sich an den Hauptmann der Wache. Leise sagte er: »Gütiger Himmel, -133- könnte es sein, daß dieser Greis gesandt wurde, um uns zu helfen? Man hat uns gelehrt, nie ein Zeichen zurückzuweisen, ganz gleich, wie unbedeutend es scheinen mag. Und steht nicht geschrieben: Gott der Herr sieht selbst das Haar, das von deinem Haupte fällt -« Der Hauptmann nickte. Ein Befehl wurde erteilt, die Tore der Festung geöffnet und das Fallgitter aufgezogen. Der Weise schritt hindurch und wurde v Rittern umringt. on Die Dörfler wurden zurückgeschickt und fluchten vor Enttäuschung. Sorgfältig bewacht, was er aber nicht zur Kenntnis nahm, wurde der unappetitliche heilige Mann durch den äußeren Bezirk der Festung geführt, durch das innere Tor, eine Treppe hinauf und stand schließlich in dem Privatzimmer des Meisters Provinzial. Zweifellos mußte dieser Raum auf einen heiligen Mann, der nichts anderes kannte, als die kargen Höhlen und Oasen der Wüste, Eindruck machen. Und um gerecht zu sein, er paßte auc h nicht so recht zu den kahlen Zellen der niederen Ränge. Gobelins und Teppiche hingen an den Wänden. Auf einem Ständer lag aufgeschlagen ein geistliches Buch, herrlich geschmückt mit farbigen Bildern und juwelenbesetzten Spangen, die im Feuerschein glitzerten, wie auch die Schwerter und Schilde in den Regalen. Der Meister Provinzial trank Wein aus einem ziselierten Silberkelch und musterte den zweiten ungeladenen Gast dieses Abends. »Nun gut, Herr. Berichtet mir von Eurer Vision.« Der heilige Mann ließ sic h nicht einschüchtern. Er räusperte sich ungeniert und spie auf die Binsen, mit denen der Boden ausgelegt war. »Ich werde dem Großmeister berichten.« »Ich spreche für den Großmeister.« -134- »Und ich spreche für Gott.« »Tut Ihr das, wahrhaftig?« Das Gesicht des Meisters Provinzial hatte einen nachdenklichen Ausdruck angenommen. »Ihr wollt behaupten, Gottes Sprachrohr zu sein?« »Sprachrohr und Schwert.« Der Meister Provinzial hielt für einen Augenblick den Atem an. Seine Wangen wurden bleich. »Das solltet Ihr besser erklären.« »Das Schwert schlechter Nachrichten für Hulem. Wir sind allein. Ich habe nachgedacht und mich entschlossen, Euch zu vertrauen. Euer Großmeister wird heute nacht sterben, und niemand kann es verhindern. Aber auf Euch warten Ruhm und Macht. Euer Stern erhebt sich, während Hulems untergeht.« »Das sind harte Worte«, sagte der Meister Provinzial. Seine Stimme zitterte ein wenig, aber er hatte sie rasch wieder unter Kontrolle. »Ihr solltet doch besser den Großmeister aufsuchen – ich habe nicht die Autorität, über Euch zu entscheiden.« Mit einer eckigen Bewegung schob er einen Vorhang beiseite und klopfte gegen die dahinter befindliche Mauer. Die Mauer schwang zurück und gab den Blick auf eine schmale Treppe frei. »Diese Stiege verbindet mein Zimmer mit den Gemächern des Großmeisters. Es ist der kürzeste Weg.« »Solltet Ihr nicht«, murmelte der Weise einschmeichelnd, »zuerst nachsehen, ob ich unter meinen Kleidern nicht irgendwelche tödlichen Waffen verberge?« Der Meister Provinzial wand sich bei dem Gedanken, das unerhört schmutzige Gewand des heiligen Mannes zu berühren, und wer wollte ihm das verübeln. »Ich habe viele Eures Glaubens gesehen. Sie tragen keine Waffen.« »Nein, das steht fest. Sie tragen keine Waffen.« Der Meister Provinzial stieg die Treppe hinauf, der Weise -135- schlich hinter ihm her. Eine feste Tür bildete den Abschluß der Treppe. Der Meister schlug dreimal mit der Faust dagegen und rief durch die Balken: »Großmeister, ich bin es, der Meister Provinzial.« Eine metallische Stimme antwortete mit einem einzigen Wort: »Wartet«. Sekunden später wurden drinnen ein Riegel zurückgeschoben, und die schwere Tür schwang auf. Es folgte ein Wirbel dich überschlagender Ereignisse, die erst im Rückblick durchschaubar werden. Es schien, daß der Meister Provinzial versuchte, sich zur Seite zu werfen und gleichzeitig den Weisen in den hinter der Tür liegenden Raum zu schleudern. Das war der Versuch. Was wirklich geschah war, daß der Weise, der sich überraschend beweglich und stark erwies, den Meister Provinzial packte und mit Schwung in das Zimmer beförderte, während er selbst gleich hinterdreinsprang und mit dem Fuß die Tür hinter sich zustieß. Die nächste unerwartete Handlung des Weisen bestand darin, daß er sich wie eine Katze auf den am Boden liegenden Meister stürzte und ihn mit einem genau gezielten Hieb gegen das Kinn bewußtlos schlug. Dann erhob sich der Weise und stand dem Großmeister der Festung Klove gegenüber. Hulem wirkte, nicht ohne Grund, verstört, vielleicht sogar ängstlich. Das lange weiße Gewand mit dem goldenen Kragen, konnte das Kettenhemd darunter nicht verbergen und ein Schwert lag auf dem Tisch – ein deutlicher Hinweis auf seine Streithaftigkeit. Aber das strenge Gesicht und die kalten Augen verrieten Mut und Zorn. Der heilige Mann verbeugte sich anmutig. Mit einem freundlichen Lächeln fügte er dem hinzu: »Spart Euch die Mühe, nach Eurem Schwert zu greifen. Wäre ich der, den Ihr erwartet, würde es mich kaum aufhalten. Außerdem hätte ich mich schon auf Euch stürzen müssen oder nicht?« -136- Hulem starrte immer noch auf dieses ältliche Wrack, das plötzlich mit der angenehmen Stimme eines jungen Mannes sprach. »Also seid Ihr nicht der, den Heruzala geschickt hat, mich zu töten?« fragte Hulem, unerschütterlich wie ein Fels. »Er hat es geglaubt«, sagte der altejunge heilige Mann mit einer Handbewegung in Richtung des bewußtlosen Meisters Provinzial, »und sobald er sich einigermaßen sicher war und es keine Zeugen mehr für seine Missetaten gab, konnte er es kaum erwarten, mich zu Euch zu führen. Eine Schlange an Eurem Busen, Herr?« »Irgend jemand, soviel ich weiß, verriet die Gnade, die ich dem Dieb gewährt hatte, nach Heruzala. Allerdings hätte ich den Stachel nicht so dicht bei mir vermutet. Aber wenn mein Meister Provinzial die Schlange ist, wer seid Ihr ? Und wo, um bei der Sache zu bleiben, ist der Assassine?« Der Weise erzählte es ihm. Als der Weiße Ritter aus der Deckung der verbrannten Hütte der Wasserstelle hervorkam, ahnte Cyrion schon etwas von seinen Absichten. Das Abschlachten der Tauben, die zahm genug waren, dem Schwert entgegenzufliegen, statt die Flucht zu ergreifen, verriet den Wunsch, zu verhindern, daß bestimmte Nachrichten ihr Ziel erreichten. Der Mord an dem Taubenhalter und das Niederbrennen der Hütte verriet eine Gründlichkeit, die auch eine mündliche Übermittlung ausschließen wollte. Cyrion, der an die Quelle kam, um zu trinken, war nur ein weiterer Mund, der geschlossen werden mußte. Deshalb, als der Ritter die Marmorkugel warf, war Cyrion bereit gewesen, allem auszuweichen, was auf ihn zukam, denn es konnte nur den Tod bedeuten. In dem Bruchteil der Sekunde, den das Geschoß brauchte, um ihn zu treffen, hatte Cyrion große Mühe gehabt, wieder in die Feuerlinie zu kommen, da er vermutete, daß das Geschoß doch nicht dazu bestimmt war, ihn zu töten und er sich -137- zu weit zur Seite geworfen hatte. Es gelang ihm, sich so zu wenden, daß die Marmorkugel durch sein Haar streifte und seine Schläfe ritzte. Durch seine Bekanntschaft mit den Nomaden hatte Cyrion schon vor langer Zeit gelernt, wie man seine Muskeln lockern und atmen mußte, um glaubhaft den Anschein der Bewußtlosigkeit zu erwecken. Dieses Wissen wandte er jetzt an, fiel in den Sand und harrte interessiert der Dinge, die da kommen sollten. Interessant waren sie allerdings. Der Ritter stieg vom Pferd und entkleidete Cyrion bis auf die Haut, wobei er auch den Schwertgurt und die Ringe nicht vergaß. Anschließend legte der Ritter sein Kettenhemd ab, Waffe nrock, Helm und Schwert, kurz: alles und zog sich stattdessen Cyrions Kleider an, mit dem einen Unterschied, daß er das Schwert in der roten Hülle unter dem Nomadengewand verbarg. Diese Vorgänge beobachtete Cyrion, sooft seine Lage es erlaubte, unter den gesenkten Wimpern hervor. Er war nicht erstaunt, als der Ritter ihn mit seinem weißen Waffenrock zudeckte, um ihn vor der Sonne zu schützen, und auch nicht, als der Ritter die Marmorkugel vom Boden aufhob und sich damit die Stirn ritzte, bis das Blut floß. Der Mann, der wie alle Engelsritter der westlichen Rasse entstammte, war beinahe so blond wie Cyrion selbst. Das Blut wirkte eindrucksvoll, als es über sein Gesicht strömte, aber offensichtlich spürte er trotz der bösen Wunde, die er sich zugefügt hatte, keine Schmerzen. Das, in Verbindung mit seinem ganzen Gehabe, bewies, daß er das war, was Cyr ion vermutet hatte – einer der berüchtigten, durch Magie geschützten Assassinen – und nach seinen eigenen Angaben auf dem Weg nach Klove. Sobald er außer Sichtweite war, in Cyrions Kleidern, aber auf seinem eigenen weißen Pferd, erwachte Cyrion wieder zum -138- Leben. Er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung von dem, was da vor sich ging. In Klove fürchtete man einen Assassinen und hatte Maßnahmen getroffen, um sich vor ihm zu schützen. Der Ritter, als er einen Mann traf, der ebenso hellhäutig war wie er selbst, hatte beschlossen, ihn leben zu lassen und seine Identität mit ihm zu tauschen. Es war vorauszusehen, was ein Mann tun würde, der nackt und mit schmerzendem Kopf in der Wüste erwachte. Als erstes würde er die einzig schützende Kleidung anlegen, die ihm zur Verfügung stand, Kettenhemd und Waffenrock des Ritters. Und anschließend würde er seinen Feind nach Klove verfolgen und dort einen Aufruhr veranstalten. Woraufhin man ihn für eben diesen Feind halten und auf irgendeine verläßliche Art aus dem Weg räumen würde, zum Beispiel indem man von den Zinnen kochendes Pech auf ihn hinabschüttete. Der perfekte Sündenbock. Der wirkliche Mörder befand sich natürlich längst in Klove. Indem er den Namen des Sündenbocks benutzte und herumerzählte, er sei von einem verrückten Ritter angegriffen worden, konnte er sich Zutritt zur Festung verschaffen. Die Wunde an der Stirn, die ihm angeblich große Beschwerden verursachte, war noch ein zusätzlicher Beweis dafür, daß es sich bei ihm nicht um einen durch Magie unbesiegbar gemachten Assassinen handelte, der keinen Schmerz empfand. Endlich, wenn der falsche Ritter eingetroffen und beseitigt war, würde das Opfer des Meuchelmörders aus seinem Versteck hervorkommen und stracks dem Tod in die Arme laufen. Natürlich hätte Cyrion sich jetzt in der entgegengesetzten Richtung davonmachen können, aber es widerstrebte ihm, eine Sache unvollendet zu lassen. Außerdem hatte der schlaue Ritter etwas übersehen. Seine Kleidungsstücke waren nicht die einzigen, die Cyrion zur Verfügung standen. Da war auch noch das Gewand des toten Taubenhalters. -139- Am Brunnen wusch Cyrion die Blutflecken aus dem Kleid und rieb es dann mit Schlamm, Sand und dem Ruß der verbrannten Hütte ein. Gegen den Riß im Rückenteil, wo das Schwert getroffen hatte, konnte er nichts tun, aber es mochte als weiterer Beweis für fromme Nachlässigkeit durchgehen. Als nächstes behandelte Cyrion sein Gesicht und die Haare mit dem Fett der geschlachteten Tauben und weißer und schwarzer Asche. Binnen kurzem hatte die Sonne sein Gesicht in eine faltige Maske und sein Haar in weißlichgraue Lumpen verwandelt. In der Verkleidung eines heiligen Mannes und nicht eines Weißen Reiters kam Cyrion nach Klove und gewann das Herz des Dorfes mit seinen Geschichten. Die ganze Zeit konnte er sich vorstellen, wie der falsche Cyrion mit nägelkauender Ungeduld die Ankunft des richtigen erwartete. In die Festung zu kommen, war leicht. Ein eindrucksvoller Anfall, die Behauptung, eine Vision gehabt zu haben. Zum Großmeister vorzudringen, hätte sich als schwierig herausstellen können, hätte Cyrion auf dem Weg nicht einen Wurm im Gehäuse entdeckt. Der Weise hatte sich bereits des silbernen Beckens und Eimers des Großmeisters bedient. Der Großmeister saß wie betäubt und sah sich dieser unfaßlichen Gestalt gegenüber, die ihn gelassen betrachtete und so aussah, wie man sich den Engel vorstellte, dem zu Ehren der Orden der Taube gegründet worden war. »Eure Taten sind unglaublich – und Eure Geschichte ist es noch mehr.« »Dann glaubt sie«, empfahl Cyrion. »Ich sehe mich gezwungen. Ihr, ein Fremder, scheint der einzige zu sein, dem ich vertrauen kann.« »Oh, ganz so schlimm ist es nicht. Euer Meister Provinzial fürchtete sich, seinen Verrat offen vor Euren Männer zu üben. -140- Deshalb nehme ich an, daß sie Euch treu sind.« »Und der Meuchelmörder ist in der Festung und gibt sich für Euch aus. Für das heiße Pech ist es zu spät, würde ich sagen. Gewöhnlich bitte ich nicht um Rat, aber dies eine Mal bleibt mir nichts anderes übrig. Sagt mir, was soll ich tun?« »Worauf Euer Möchtegern-Mörder hofft. Ordnet an, daß jemand zu ihm geht und ihm sagt, der fremde Ritter sei gefunden und getötet worden und daß Ihr jetzt mit – Cyrion – sprechen und ihm danken möchtet. Gewährt ihm die Audienz, um die er gebeten hat.« »Aber er wird mich töten. Man kann sie nicht aufhalten, nicht töten, bis die Tat vollbracht ist.« »Ich weiß das. Unverwundbar, unaufhaltsam, verschlagen – und sehr oberflächlich, was Details betrifft. Ich will Euch erklären, was ich meine.« Weniger als eine halbe Stunde später wurde der falsche Cyrion, der seine Einladung mit scheinbarem Gleichmut entgege ngenommen hatte, in das Zimmer des Großmeisters von Klove geführt und hinter ihm schloß sich die Tür. Der Assassine zögerte nicht einen Augenblick. Ein Blick auf die hoch aufgerichtete Gestalt in dem geschnitzten Stuhl genügte. Wortlos und mit gnadenloser Entschlossenheit riß der Mörder das unter dem Nomadengewand verborgene Schwert hervor und stürmte vorwärts. Dann hob er das Schwert mit beiden Händen und führte einen furchtbaren, tödliche n Schlag, der Halssehnen und Luftröhre durchschnitt und beinahe den ganzen Kopf vom Körper trennte. Dann glitt ihm das Schwert aus der Hand, und der Assassine sank zu Boden, mit glasigen Augen, schlaffen Lippen, ein Schwachsinniger, jetzt, wo das Ziel erreicht war. Als er dort kniete, trat von hinten ein anderer an ihn heran und enthauptete ihn. -141- Der Großmeister stand mit dem blutigen Schwert in der Hand über dem Leichnam seines geköpften Gegners. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht. Auch nicht, als er zu der blutigen Leiche in seinen Gewändern und seinen Stuhl aufblickte. Über dem aufgeschlitzten Hals und unter dem Helm mit dem Kamm aus reinem Gold, war das Gesicht des Meisters Provinzial leer. Er hatte die Besinnung nicht wiedererlangt, was in gewisser Weise bedauerlich war; denn er hatte bekommen, wonach er sich gesehnt hatte, wenn auch nur für kurze Zeit und nicht auf die Art, die er sich vorgestellt hatte. Zehn Minuten lang war er der Großmeister von Klove gewesen. Endlich sprach Hulem. »Die erste Schlacht habe ich gewonnen. Obwohl ich immer noch im Krieg mit der Tauben-Loge von Heruzala liege.« Cyrion sah ihn an. »Darüber könnte man streiten. Ich glaube, dies war eine Prüfung für Euch. Sie behaupten, Euch für Eure Schwäche bestrafen zu wollen. Schickt ihnen diese zwei Köpfe in einem hübschen Kasten. Und als Botschaft dazu:›So grüßt der Schwache seine Feinde.‹« Fünftes Zwischenspiel Als die Geschichte über die Engelsritter zu Ende war, war die Brünette auch fertig mit dem Essen. Während sich die übrigen Gäste, einschließlich des wohlbeleibten Priesters, nach und nach um Roilants Tisch versammelt hatten, war sie mit ihrer kleinen Dienerin an ihrem Platz geblieben, umgeben von Hyazinthen und Tigerlilien. Der Wein, den der Gelehrte bezahlt hatte, war ausgetrunken und die Kaufleute sorgten für Nachschub. Man diskutierte die Fähigkeiten Cyrions, der anscheinend nicht nur ein -142- Schwertkämpfer und Rätsellöser war, sondern, bei Luzifael, auch ein Meister der Verkleidung. Roilant, der während der Geschichte stumm vor sich hin gebrütet hatte, beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Irgend etwas wurmte ihn. Er schien sich aber selbst nicht ganz sicher zu sein, was. Der Wein wurde gebracht und auf den Tisch gestellt und dazu noch eine schwarze Flasche, die nicht bestellt worden war. »Was ist das?« Der Wirt eilte herbei. »Das ist unser allerbester Wein. Er ist für den rothaarigen Herrn.« »Ich habe ihn nicht bestellt«, protestierte Roilant unbehaglich. »Nein. Gerade eben war ein Kind an der Küchentür, mit Geld und der Nachricht, daß Euch dieser herrliche Wein serviert werden, sollte.« Die Gesellschaft um und an dem Tisch tat ihre Bewunderung kund. »Wer hat das Kind geschickt?« fragte der Gelehrte. »Er sagte, ein blonder Mann hätte ihn auf der Straße angeha lten und ihm den Auftrag gegeben.« »Ein blonder Narr, einem Straßenjungen Geld anzuvertrauen«, sagte eine der Dirnen weise – vielleicht eine Erinnerung an ihre eigene Jugendzeit. »Anscheinend konnte man dem Kleinen aber tatsächlich vertrauen.« »Aber«, erkundigte sich der Gele hrte weiter, »gehörte zu dem Wein nicht vielleicht auch ein Botschaft?« »Nicht daß ich wüßte«, sagte der Wirt des Honiggartens. Roilant betrachtete die Flasche, als hoffte er, daß sie zu ihm sprechen würde. -143- Es war der juwelenverzierte Kaufmann, der sich als nächster zu Wort meldete: »Kann es sein, daß er gehört hat, daß Ihr nach ihm sucht, und Euch das als Entschädigung bringen ließ. Oder als Scherz?« »Das hört sich nach einem Streich an, den ich ihm zutrauen würde«, bemerkte der Priester gemütlich. »Nach allem, was ich gehört hatte, ist er ein Mann von brillantem, wenn auch nicht immer liebenswertem Verstand.« Roilant faßte den Wirt am Arm. »Ist das Kind noch in der Küche?« »Nein, es ist weggelaufen. Mit einer Pastete, die neben der Tür stand. Dies war ein anstrengender Vormittag, Herr. Der alte Prophet, der seine Rechnung nicht bezahlt hat. Die schrecklichen Soldaten des Königs, die grundsätzlich nichts bezahlen und überall nur Unruhe stiften. Jetzt noch diebische Kinder. Und die verdammten Sklaven beschweren sich -« Der Wirt machte sich eilig davon. Roilant saß unbeweglich wie ein Stein, während seine Freunde die schwarze Weinflasche untersuchten und schließlich für ihn öffneten, wobei sie sich natürlich nicht enthalten konnten, reihum davon zu kosten. Roilant schien es nicht zu merken. Sehr langsam breitete sich ein ungeheuerlicher Verdacht auf seinem pausbäckigen Gesicht aus. Er starrte auf die leere Nische, einmal, zweimal, starrte in die Luft… Aber es war völlig unmöglich – oder etwa nicht? »Der Weise«, brachte er schließlich heraus. »Das stinkende Vieh«, sagte die Dirne mit den violett geschminkten Augen. »Uns Kühe zu nennen.« »Aber«, sagte Roilant. Er wandte sich verzweifelt an den Karawanenbesitzer, der das Garn von den Assassinen erzählt hatte. »Wenn Cyrion sich schon einmal als so ein heiliger Mann verkleidet hat, haltet Ihr es nicht für denkbar -?« -144- Die Erleuchtung kam allen gleichzeitig. Flüche wurden ausgestoßen und rasch wieder verschluckt, als der Priester sich räusperte. Die Stimme des Gelehrten ertönte als letzte. »Die beiden Soldaten schienen ihn aber als das zu erkennen, was er war, Weiser und Unruhestifter. Und ich selbst«, fuhr der Gelehrte fort, »hatte das zweifelhafte Vergnügen einer langen Unterhaltung mit ihm. Seine Bildung war fehlerhaft, aber alles in allem umfassend. Auch war ich ihm so nahe, daß mir bestimmt aufgefallen wäre, wenn etwas mit ihm nicht gestimmt hätte.« »Nicht unbedingt«, gab der Priester zu bedenken. »Cyrion ist der König der Verkleidung und ein unvergleichlicher Schauspieler. Wenn ich mir auch keinen vernünftigen Grund dafür vorstellen kann, könnte er sich doch ohne weiteres in unserer Mitte aufgehalten und uns alle genarrt haben. Anschließend ließ er diesen Wein bringen, um unseren edlen jungen Gönner hier zu necken.« Sogleich drehte sich ein lebhaftes Gespräch um diese Vermutung, bis der edle Gönner aufstand und gleich wieder auf seinen Stuhl gedrückt wurde. »Nein, nein. Bleibt hier. Ihr holt ihn jetzt doch nicht mehr ein.« Sie hielten die Weinflasche, die für ihn gekauft worden war, über seinen Becher und drängten ihn, zu trinken. Mit einer Geste, die zeigte, daß er sich besiegt fühlte, gehorchte Roilant. »In der Tat«, sagte der fette Priester wohlwollend, »beschränkt sich der Streich vielleicht nur auf den Weisen. Cyrion könnte immer noch hier sein. So gut wie jeder hier in diesem Raum ist verdächtigt.« »Außer, natürlich, den Damen«, meinte der Kaufmann mit dem juwelenbesetzten Kopftuch. -145- Der Priester störte sich nicht an dem Wort. Wie es aussah, hatte er sich aus reiner Kameradschaft dazu entschlossen, so zu tun, als ob die›Damen‹wirklich Damen wären. »Selbst darin können wir uns nicht vollkommen sicher sein.« Es folgten die zu erwartenden, spitzen Schreie. »Als ich mich bei den Brüdern in Andriok aufhielt, hörte ich von einem sehr eigenartigen Vorfall. Es betraf den ewigen Kampf des Guten mit dem Bösen, in dem die Unschuld und die Frömmigkeit dazu mißbraucht wurden, dem Teufel zu dienen. Gyrions Name hat einen Platz in der Geschichte.« Roilant leerte seine Flasche und gr iff entschlossen nach dem danebenstehenden Krug. »Es war einmal«, sagte der Priester und faltete seine Kinne, »ein reicher Mann, der eine wunderschöne Tochter hatte…« Gefangen im Bernstein »Es stimmt, man sagt, daß der Ring verflucht ist«, sagte der junge Mann gelassen. »Aber was mich betrifft, so zweifle ich daran. Ich glaube nicht an Dämonen.« »Um so erfreulicher für Euch, solltet Ihr je einem begegnen«, meinte Cyrion mit einem melancholischen Lächeln. »Nun denn, was soll ich tun? Mein ererbtes Vermögen habe ich bei den Ausschweifungen meiner Jugend vergeudet. Falsche Freunde brachten mich vom rechten Weg ab. Doch dann begann ich meine Fehler zu bereuen und mühte mich, mir ein neues Vermögen zu schaffen. In diesen schweren Tagen, als ich eines Morgens durch die Stadt ging, sah ich einen Engel, der in einer Sänfte vorübergetragen wurde, das schönste Mädchen von Andriok: Berdice, die Tochter des Seidenhändlers Sarmur. Sarmur ist reich, ich war zu dieser Zeit ohne einen Pfennig. Aber um meiner Herkunft willen gestattete er mir, sein Kind zu heiraten, und bedachte sie mit einer reichen Mitgift. Und was -146- habe ich zu bieten? Nichts? Natürlich dachte ich an diesen Ring, den einzigen Besitz, den ich nie aus der Hand gegeben hatte. Er befindet sich seit Generationen in unserer Familie. Sollte er in einer Schachtel liegen oder die Hand meiner lieblichen Frau schmücken?« Blond, schön und mit nur einem Hauch höflicher Langeweile, betrachtete Cyrion den fraglichen Ring. Er lag in einem Nest aus azurblauem Samt, auf dem das warme Braun des Steins noch dunkler schimmerte; eine Gemme aus Bernstein in einer Fassung aus schwerem Gold. In den Stein eingraviert waren eine Lilie, eine fliegende Schwalbe und eine Sonne. Ganz sicher war er herrlich. Ebenso sicher hatte Cyrion von ihm gehört. Er hatte einen Spitznamen: Der Abschiedsring. »Was sagt Ihr, Cyrion? Welchen Rat gebt Ihr mir? Die Sage von dem Ring will ich gelten lassen, aber seit hundert Jahren hat niemand mehr durch ihn den Tod gefunden.« »Weil niemand ihn während dieser Zeit getragen hat.« Der junge Mann seufzte. Er hatte ein starkes, anziehendes Gesicht, das durch leuchtend blaue Augen verschönt und durch einen schlaffen Mund entstellt wurde. Volf nannte er sich. Er stammte aus dem Westen, obwohl seine Frau und der Ring östlicher Herkunft waren. Er war Cyrion in einem teuren Gasthaus in der Straße des Himmels begegnet. Es war ein zufälliges Zusammentreffen gewesen, aber Volf schien Cyrion und seinen Beinamen zu kennen. Es war möglich, daß er nach Cyrion gesucht hatte, um ihn um Rat zu fragen, denn hier und da genoß Cyrion den Ruf unbarmherziger Klugheit. »Die Gravur interessiert mich«, sagte Cyrion. »O ja. Die Lilie, Symbol der Seele; die fliegende Schwalbe, Symbol der Freiheit; die Sonne, Symbol des Himmels.« »Ich sehe, Ihr habt darüber nachgedacht«, meinte Cyrion milde. »Aber sagt mir jetzt, was Ihr über den Fluch wißt.« -147- Volf grinste. »Was ich weiß, bestärkt mich noch in der Meinung, daß die Sage eben nur das ist, eine Geschichte, um Diebe abzuschrecken. Angeblich ließ eine Königin aus dem Osten diesen Ring für ihren Gemahl anfertigen. Aber in der Absicht, etwas wirklich Besonderes zu bekommen, wandte sie sich an einen Dämonen. Daher die Symbole, die alle mit Gott in Zusammenhang stehen – Lilie, Schwalbe, Sonne – und die sie den Dämonen in den Stein gravieren hieß, um damit alles Böse abzuwenden, das er vielleicht im Schilde führte. Der Dämon allerdings kümmerte sich nicht um die Symbole. Die Königin schenkte den Ring ihrem Gatten, als er in die Schlacht ritt, und hoffte, er würde ihn beschützen. Aber kaum hatte er seinem Pferd die Sporen gegeben und sein Schwert gegen den Feind erhoben, als der König tot aus dem Sattel stürzte. Es gab keine Wunde an seinem Körper, aber sein Gesicht war zu einer Maske des Entsetzens erstarrt. Die Schlacht ging verloren und der Ring fiel an den Sieger, der dem Zwischenfall keine Bedeutung beimaß. Er trug den Ring drei Jahre lang, obwohl er ein ungläubiger Schuft war. Eines Tages ging er dann in die Wüste auf Löwenjagd. Niemand war bei ihm, als sein Pferd plötzlich stolperte. Im nächsten Augenblick war er tot. Wieder kein sichtbarer Angreifer, keine Wunde und ein vor Entsetzen verzerrtes Gesicht. Aber all das ist eindeutig absurd. Soll ich weitersprechen?« »Wenn es Euch langweilt, besteht nicht die Notwendigkeit«, Cyrion machte Anstalten, sich zu erheben. »Nein, nein. Wartet. Ich brauche Euren Rat, guter Herr. Ich will fortfahren. Der Sohn des Eroberers erbte den Ring, fürchtete sich aber, ihn zu tragen. Ein Jahrhundert später wurde der Ring von einem Magier aus seiner Schatzkammer gestohlen, der von dessen magischen Eigenschaften angetan war. Er trug ihn einige Monate, ohne daß etwas geschehen wäre. Dann zerstörte ein Erdbeben sein Haus, und er starb. Räuber fanden -148- den Ring unter den Trümmern. Ihr Führer trug den Ring nur einen Tag lang. Er wurde von Soldaten des Prinzen dieses Landes gefangengenommen, aber auf dem Weg zu seiner Hinrichtung fiel er tot nieder. Der Ring kam in den Besitz eines der Soldaten, der ihn seiner schwangeren Frau schenkte. Sie starb während der Geburt – das Gesicht vor Entsetzen verzerrt natürlich, und das Kind kam tot zur Welt. Der Ring wurde mit ihr begraben und kam als Beute aus dem geplünderten Grab in den Besitz meiner Familie. Drei meiner Vorfahren fielen ihm angeblich zum Opfer, obwohl ich ihren Tod eher Unglücksfällen zuschreiben würde. Einer fand sein Ende durch einen Sturz von einer Mauer, als die Brüstung einstürzte. Einer starb während eines Unwetters auf See. Der dritte durch einen epileptischen Anfall bei einer Sonnenfinsternis. Seit dieser Zeit wurde der Ring nicht mehr getragen.« »Und habt Ihr ihn nie getragen?« erkundigte Cyrion sich unschuldig. »In meiner Armut habe ich nie daran gedacht. Aber ich fürchte mich nicht davor. Seht.« Volf nahm den Bernsteinring von dem Samtkissen und schob ihn an den kleinen Finger seiner linken Hand. Er lachte ohne das geringste Unbehagen. »Wenn etwas Böses dem Ring innewohnt, soll es mich jetzt niederwerfen. Aber ich glaube nicht daran. Der Tod ist jedem Menschen bestimmt. Das Ableben meiner Vorfahren kann man erklären, ohne Zuflucht zu einem Fluch zu nehmen. Selbst die Todesfälle, von denen in der Sage berichtet wird, sind erklärlich.« »Nichtsdestoweniger«, sagte Cyrion, »gehen Tod und der Ring Hand in Hand.« »Aber ohne irgendeine Regel – Männer, die nach drei Jahren starben, nach drei Monaten, einem Tag oder weniger! Und die Todesarten so verschieden. Ohne ersichtliche Ursache, durch Erdbeben, auf dem Meer – und einmal eine Frau im Kindbett. Nein, Zufall, Cyrion. Ist es keiner, dann werde ich auch sterben. -149- Ich habe mir vorgenommen, diesen Ring nur für einen Tag zu tragen und nicht länger. Wenn es stimmt, daß jeder, der diese Gemme an seiner Hand trägt, durch sie den Tod findet, hat der Dämon keine andere Wahl, als mich während dieses Tages zu töten. Stimmt Ihr mir zu?« »Es ist«, sagte Cyrion, »denkbar.« »Heute um Mitternacht«, verkündete Volf mit leuchtenden Augen, »werde ich den Ring abnehmen. Und ihn meiner Frau zum Geschenk machen. Wollt Ihr uns heute Abend besuchen? Eßt mit uns und bleibt bis Mitternacht. Ich rechne nicht mit irgendeiner Gefahr, aber immerhin sagt man von Euch, daß Ihr Dämonen oder was man dafür hielt, besiegt habt. In Eurer Gegenwart wird Berdice doppelt sicher sein.« Cyrion ging zur Tür. »Also bis heute Abend. Vorausgesetzt, es macht Euch nichts aus, mit dem Dämon des Ringes allein zu sein.« »Ganz und gar nichts«, sagte Volf und lachte wieder. Cyrion ging. Volfs Haus, ein Teil der Mitgift, die Sarmurs Tochter in die Ehe gebracht hatte, war prächtig. Schmiedeeiserne Tore führten von der Straße in einen Hof mit Blumen und Springbrunnen. Dahinter erhoben sich zwei Stockwerke aus weiß und rosa getünchten Steinen, mit Säulen aus Palmholz und den dazu passenden Seidenvorhängen. Aber nirgendwo im Haus gab es so viel Seide wie in Berdices Gemächern. Vorhänge so fein wie Rauch und so schwer wie Sirup schimmerten an Wänden und Fenstern und wurden von ebenfalls seidenen blauen, grünen und purpurnen Schnüren gerafft. Bunte Vögel zwitscherten in kunstvoll geflochtenen Weidenkäfigen. Und in der Mitte des Zimmers zwitscherte Berdice. -150- Unzweifelhaft war sie schön. Jettschwarzes Haar fiel offen bis zu ihrer schmalen Taille. Die makellose Haut schimmerte an Wangen und Lippen in einem zarten Rosa. Die Augen einer Gazelle, zierliche Hände und feste Brüste vervollständigten den Eindruck der Vollkommenheit. Sie war überreich mit Schönheit gesegnet – und seit ihrem dreizehnten Lebensjahr von der zierlichen Taille abwärts gelähmt. Trotz Berdices Charakter, ihrer Schönheit und ihres Reichtums war diese Behinderung ein Hemmnis gewesen, was Freier betraf. Dann war der hübsche Volf, arm, aber von guter Herkunft und brauchbarem westlichen Blut, von Liebe zu Berdice ergriffen worden und als er die Wahrheit erfuhr, hatte er nur an Sarmurs Schulter geweint und gesagt, daß sie ihm deshalb um so teurer sei und daß seine Liebe sie vielleicht heilen könnte. Und daß sie, auch wenn dieses Wunder nicht geschah, die einzige Frau wäre, die er lieben könnte. Glücklicherweise war Berdice einfältig. Es hatte ihr geholfen, ihren Kummer beiseite zu schieben. Sie lispelte die ganze Zeit. Sie hörte kaum jemals auf. Trotz ihrer Anmut und ihrer Tapferkeit hätte es ärgerlich sein können. Es war ärgerlich. Jetzt gab es eine kurze Unterbrechung. Eine Dienerin war eingetreten und sagte: »Da ist eine Frau am Tor. Sie fragt, ob sie Eure Hand lesen darf. Eine wie sie habe ich nie zuvor gesehen, auch nicht eine, die so stattlich war. Soll ich sie wegschicken?« »Fag ihr, fie foll reinkommen«, lispelte Berdice. Sie ließ sich gerne unterhalten, in den langen Stunden, in denen ihr Mann sich in einer Schänke oder an einem ähnlichen Ort aufhielt. Alle Arten von Scharlatanen kamen und gingen in ihrem Haus aus und ein. Jetzt kam eine, die nicht war wie die anderen. Sie war eine sehr große Frau, mit edlen, wie gemeißelt wirkenden Zügen. Geschickt, aber zu dick aufgetragene Schminke konnte nicht verbergen, daß ihr Gesicht viel zu -151- männlich war, um schön zu sein, obwohl sie trotzdem ebenso schön war wie Berdice oder sie vielleicht noch übertraf. Um den Kopf hatte sie einen schwarzen, perlenbestickten Schal gewunden, den Körper verbarg ein sackähnliches Gewand. Emaillearmbänder klirrten an ihren Handgelenken. An ihren großen, aber gut geformten Händen funkelten Ringe. Sie verneigte sich tief vor Sarmurs Tochter, mit der ausfallenden Höflichkeit einer heimlichen Herrscherin. »Bezaubernde Herrin«, wisperte sie mit heiserer und dennoch melodischer Stimme, »gestattet Ihr mir, die Geheimnisse des Universums vor Euch auszubreiten?« »Vielleicht«, sagte Berdice. » Waf verlangt Ihr dafür?« »Sogleich werde ich es Euch sagen, liebliche Henin.« Die hochgewachsene Wahrsagerin setzte sich zu Berdices Füßen nieder und ergriff die Hand des Mädchens. »Ihr leidet«, verkündete die Wahrsagerin. »Nein.« Berdice schaute überrascht. »Doch«, sagte die Frau. »Ihr könnt nicht gehen.« »Wie klug«, staunte Berdice. Einen Augenblick lang waren ihre Gazellenaugen nackt und elend. Dann senkte sich der Schleier wieder, und sie zwitscherte: »Wie habt Ihr daf nur heraufgefunden?« Halb Andriok wußte über Sarmurs Tochter Bescheid. »Durch meine hellseherischen Fähigkeiten«, murmelte die Wahrsagerin bescheiden. »Aber«, zischelte sie, »was kann das Unglück verursacht haben? Ein Unfall -« »Ef war eine – Katfe«, platzte Berdice heraus und wurde blaß. »Ich sehe eine Katze in Eurer Hand«, unterbrach die Wahrsagerin sie rasch. »Ihr habt Angst vor Katzen. Die Katze hat Euch erschreckt.« »Ich flief«, gestand Berdice. »Ich wachte auf und fah die Katfe auf meinem Fuf. Ich frie und frie, aber fie ftarrte mich nur -152- an mit ihren böfen, wilden Augen. Dann hat fie mich gebiffen und lief weg. Feit diefer Zeit kann ich nicht mehr gehen. Ich konnte Katfen nie leiden.« Berdice zitterte und schloß die Augen. »Gott errette mich«, seufzte sie. »Weiß Euer Gatte von Eurer Furcht?« erkundigte sich die Wahrsagerin. »O ja«, erwiderte Berdice. Sie erholte sich wieder. Sie zwitscherte: »Waf wird morgen paffieren?« »Vor dem Tag kommt die Nacht«, sagte die Wahrsagerin. »Versteht mich, Mädchen. Ich habe Eure Sterne gelesen. Ihr befindet Euch in Gefahr, am Randes Eures Grabes.« Die Mägde, aber nicht Berdice, stießen entsetzte Schreie aus. Die Wahrsagerin brachte sie mit einem Blick ihrer funkelnden, mit Kohl umrandeten Augen zum Schweigen. »Schickt diese Fledermäuse hinaus«, befahl sie. Die Fledermäuse wurden hinausgeschickt. »Ich will Euer Leben retten«, sagte die Wahrsagerin zu Berdice. »Gott errette mich«, seufzte Berdice wieder. »Hier habe ich Amulette, die Euch schützen werden«, meinte die Wahrsagerin. »Tragt sie und verratet weder, woher Ihr sie habt, noch weshalb Ihr sie tragt. Mit ihrer Hilfe werdet Ihr überleben.« Berdice betrachtete die Amulette und versuchte zu lispeln. Es ging nicht. »Aber -«, sagte Berdice. »Tut was ich Euch sage«, riet die Wahrsagerin, »oder ich kann keine Verantwortung übernehmen.« Sie küßte Berdice auf die Stirn, wo der Abdruck ihrer kaminrot geschminkten Lippen zurückblieb und stand auf. »Muf ich Euch befahlen?« fragte Berdice. -153- »Ich nehme dies hier«, und indem sie achtlos eine der seidenen Schnüre von einem Vorhang löste, schritt die Wahrsagerin aus dem Zimmer, ohne auf die Masse jetzt haltloser Seide zu achten, die sich über Berdices Kopf senkte. Die Nacht kleidete Andriok in ein düsteres Gewand. Andriok wehrte sich, indem es sich eine Krone aus Lichtern aufsetzte. Volfs Haus war keine Ausnahme. Parfümierte Fackeln brannten duftend, Filigranlampen glommen. Volf begrüßte Cyrion wie einen lange verlorenen Bruder, den er seit zehn Jahren nicht gesehen hatte, nach dessen Anwesenheit er sich aber ständig verzehrte. In dem Satin von Askandris und dem Silber aus Daskirion, nicht zu vergessen seinen ureigensten, unvergleichlichen Glanz, überstrahlte Cyrion mühelos alle Lichter. Als sie das Speisezimmer betraten, hob Volf seine linke Hand. Die Bernsteingemme lag wie ein Honigtropfen auf seinem kleinen Finger. »Schaut her, mein Cyrion. Er und ich sind noch zusammen, und es geht mir gut. Es sind nur noch zwei Stunden bis Mitternacht.« »Meinen Glückwunsch«, sagte Cyrion. »So weit.« »Vergebt mir«, meinte Volf. »Nach Eurem Auftreten vermute ich, daß es Euch nie an Geld gefehlt hat. Ich besitze nur, was meine Frau mitgebracht hat. Und der Wunsch, ihr etwas zu geben, das mir gehört, macht mich ganz krank.« In diesem Augenblick trugen zwei Diener den reich verzierten Stuhl herein, auf dem Volfs Frau saß, und stellten ihn neben dem geöffneten Fenster ab. Sie war hübsch (wenn auch übertrieben) gekleidet. Ein Kleid, das mit Glückszeichen bestickt war, dazu Goldmünzen – mit eigenartiger Prägung – am Hals, Armbänder mit kleinen Anhängern aus Jade und Malachit, Saphirohrringe in der Form von Amuletten, ein Gürtel aus gestreifter Seide, der von einer glücksverheißenden goldenen -154- Schlange gehalten wurde, eine Rose im Haar, die mit einer ebensolchen Schlange festgesteckt war, und ein paar seidene, ziemlich steife Handschuhe. »Hier ist das Licht meines Herzens, Berdice, meine geliebte Frau«, verkündete Volf überschwänglich. »Madame«, sagte Cyrion und verneigte sich. »Ihr scheint Euch vor etwas zu fürchten. Ich hoffe, nicht vor mir.« Berdice, die auffallend blaß gewesen war, schoß das Blut ins Gesicht. Ihre Augen wurden groß und ängstlich. »Mein Täubchen braucht sich nicht zu fürchten«, sagte Volf. »Um Mitternacht werde ich ihr diesen Bernsteinring geben, der sie künftig vor allem Bösen bewahren wird. Ihr seht, Cyrion, ich glaube an Fortunas Lächeln, wenn auch nicht an ihr Stirnrunzeln.« Berdice betrachtete den Ring und wurde wieder blaß. »Daf ift der Ring, den fie den Abfiedsring nennen. O Volf – er wird dich töten!« Volf lachte herzlich und erklärte seinen Plan. Berdice rang die Hände. »Gott errette mich!« jammerte sie. Volf lachte noch lauter. »Hab Vertrauen zu mir, Herzliebste«, säuselte er. »Wir wollen der Welt beweisen, daß Aberglaube dumm ist und alle Dämonen tot sind. Außerdem ist Cyrion hier, um uns zu beschützen. Cyrion ist ein Held von unübertrefflichem Verstand und Mut.« »Ihr bringt mich in Verlegenheit«, wehrte Cyrion ab. Berdice betrachtete ihn mit verwirrtem Mißtrauen. Das Essen wurde aufgetragen. Sie aßen von den verschiedenen Gängen, Berdice wenig, Volf reichlich. Durch das offenen Fenster leuchteten die Sterne, vom Garten wehte der Duft der Blumen herein und das Trillern einer -155- schmollenden Nachtigall. In einer Ecke des Zimmers tropfte die Zeit aus einer vergoldeten Wasseruhr, Minuten, Viertelstunden, eine halbe Stunde, eine Stunde. Und eine neue Stunde verrann, Minute um Minute… Es war beinahe Mitternacht. Plötzlich begann Berdice hastig zu lispeln. »Heute Nachmittag, Volf, ift etwaf eigenartigef paffiert. Eine grofe, kräftige Frau, fie war eine Wahrfagerin und Fterndeuterin, fagte fie. Fie kam in mein Zimmer und behauptete, ich müffe fterben -« Volf zuckte zusammen und ließ seinen Becher fallen. Der Wein rann über die Servietten auf den Mosaiktisch und versickerte in den Fugen. »Aber daf komifte daran ift«, lispelte Berdice durchdringend und mit einem verstörten Blick auf Cyrion, »diefe Frau war -« »Vergebt mir, Madame«, nutzte Cyrion eine Atempause, »aber ich glaube fast, Eure Wasseruhr geht nach. Ist das nicht die Mitternachtsglocke von der Zitadelle?« Volf und seine Frau erstarrten. Ohne Zweifel, die Glocke wurde geläutet. Als der letzte Schlag verklungen war, sprang Volf auf und umfaßte Berdices rechte Hand. »Mein Liebling, ich trage den Ring und lebe. Und jetzt -«, er zog den Bernstein von seinem Finger, »trage ich den Ring nicht mehr. Die Dämonen sind besiegt. Diese Dämonen, die es niemals gab. Hier, mein Engel. Der Ring barg keine Gefahr. Nimm ihn, mit meinem Herzen.« Und mit diesen Worten schob Volf den Ring auf ihren Zeigefinger. Dann warf er die Arme in die Höhe und rief: »Der Himmel sei gepriesen!« Irgendwo in dem dunklen Hof draußen ertönte ein unterdrückter Fluch und ein Rascheln. Etwas flog durch das Fenster. -156- Es zappelte und tobte und trat und spuckte und jaulte. Zappelnd, tobend, tretend, spuckend und jaulend landete es in Berdices Schoß, und zu dem Lärm gesellte sich das Geräusch fetzender Krallen und ein einzelner, furchtbarer Schrei. »Eine – Katfe!« schrie Berdice in wahnsinnigem Entsetzen. »Eine – Katfe – eine – Katfe! Oh – Gott errette mich!« »Berdice!« rief Volf, dessen Freude sich in Schrecken verwandelt hatte. Er stürzte sich auf sie und nahm ihren schlaffen Körper in die Arme. Er weinte hemmungslos. »Cyrion, selbst Ihr konntet sie nicht retten. Ich war ein Narr. Der Fluch ist wirksam. Der Dämon des Rings hat sie getötet, und es ist mein Fehler. Ich bin schuld, in meiner grenzenlosen Dummheit. Ihr habt mich gewarnt. Es gibt Dämonen. Jetzt habe ich nichts mehr.« »Nicht ganz«, meinte Cyrion sanft. »Nach ihrem Tod fällt ihr Vermögen an Euch.« Volf durchbohrte ihn mit einem aschgrauen, tränennassen Blick. »Was nützt mir Reichtum, wenn meine Liebe tot ist? Ich bin ein gebrochener Mann.« Cyrion streichelte die Katze. Anfänglich voller Zorn darüber, durch das Fenster geworfen zu werden, hatte sie sich jetzt in ein schnurrendes Pelzbündel verwandelt. Nachdenklich bemerkte Cyrion: »Euer Trauer ist verfrüht, Volf. Eure Frau ist nicht tot.« »Spottet nicht meiner. Sie ist tot.« »Nein. Sie ist ohnmächtig und wird bald wieder aufwachen. Sehr zu Eurem Mißvergnügen, lieber Volf.« Erschüttert blickte Volf in Berdices Gesicht und ächzte. »Ihr habt recht – sie lebt. Aber -« Die Katze küßte Cyrion auf den Mund. »Euer merkwürdiger Bekannter übrigens«, sagte Cyrion, »der Mann, den Ihr dafür bezahlt habt, Eurer Frau eine Katze in den -157- Schoß zu werfen, ist wahrscheinlich schon in sicherem Gewahrsam. Bevor ich zu Euch kam, ließ ich der Nachtwache eine Warnung zukommen.« Volf ließ Berdice in den Stuhl sinken und richtete sich auf. Sein Blick drückte wachsame Ungläubigkeit aus. »Was sagt Ihr da?« »Was sage ich da?« fragte Cyrion die Katze. »Ihr behauptet, daß ich einen Mann bezahlt habe, meine Frau zu Tode zu erschrecken.« »Um ganz offen zu sein, mein Lieber«, meinte Cyrion mit leichtem Tadel, »da Ihr schlau genug wart, um das Rätsel der Gemme zu lösen, hättet Ihr in der Lage sein sollen, Euch etwas Besseres auszudenken.« »Erklärt mir, was Ihr meint.« »Soll ich? Warum nicht. Es wird uns die Zeit vertreiben, bis die Wache an Eure Tür klopft. Trotz Eurer Beteuerungen war Berdice eine Last, die Ihr nicht vorhattet, lange zu tragen. Ihr wolltet sie heiraten und dann möglichst bald loswerden, um ihr Vermögen zu erben, ganz zu schweigen von dem ihres Vaters, nach seinem Hinscheiden. Euer einziges Problem war ein Plan, ein Werkzeug, das keinen Verdacht auf Euch werfen würde. Es war leicht. Sarmur und seine Tochter sind beide äußerst abergläubisch, während Ihr Euch mit viel Mühe als Zweifler an allen unstofflichen Dingen dargestellt habt. Daher die Bernsteingemme, von der Ihr wußtet, daß sie jeden unter den entsprechenden Umständen töten würde. Die Sage des Rings hat ihre Richtigkeit, denn sie war in der Grabstätte der Frau aufgeschrieben, die Eure Familie geplündert hat, oder etwa nicht? Auch die Todesfälle unter Euren Vorfahren sind schriftlich niedergelegt. Obwohl es kein sichtbares Muster gab, trat der Tod unfehlbar ein. Wie lange habt Ihr gebraucht, um das Rätsel zu lösen? Laßt mich -158- wiederholen. Ein König auf dem Ritt in die Schlacht. Ein Eroberer auf einem stolpernden Pferd. Ein Magier in einem Erdbeben. Ein Räuber auf dem Weg zum Galgen. Eine Frau im Kindbett. Und in Eurer eigenen Familie starb ein Mann bei einem Sturz von einer Mauer, während eines Unwetters auf See, bei einem epileptischen Anfall bei einer Sonnenfinsternis. Und was ist der gemeinsame Nenner? Wie lange, sagtet Ihr, habt Ihr gebraucht, um das Rätsel zu lösen?« Volf knirschte: »Zwei Jahre.« Cyrion unterdrückte ein Lächeln. Er hatte etwas weniger als zwei Minuten dazu gebraucht. »Gefahr ist der Schlüssel«, sagte er. »Gefahr und ihre Schwester, die Angst. Und noch etwas, das mit Gefahr und Angst zusammenhängt.« Cyrion schwieg. »Sprecht weiter.« »Muß ich?« »Ich möchte es hören… ob Ihr es tatsächlich herausgefunden habt. So viel schuldet Ihr mir.« »Ich schulde Euch gar nichts. Betrachtet es als Geschenk. Dieses eine also, das noch dazugehört. Ich denke daran, wie rasch Ihr die Symbole gedeutet habt, die in den Bernstein eingraviert sind – eine Lilie war die Seele, eine Schwalbe die Freiheit, die Sonne der Himmel. Aber wie bei den meisten Symbolen der Bilderschrift, kann man sie auch genauer deuten. Die Seelen-Lilie kann auch die eigene Person bedeuten, also›Ich‹oder›mich‹. Die Schwalbe bedeutet nicht nur Freiheit, sondern Freiheit von Fesseln – Errettung. Was die Sonne betrifft, sie ist ein seit alters gebräuchliches Zeichen nicht nur für den Himmel, sondern auch für Gott. Also bilden die Lilie, die Schwalbe und die Sonne, wie Ihr zugeben werdet, einen Satz in Bilderschrift, den man übersetzen kann mit Gott errette mich. Ein gebräuchlicher Ausdruck in den meisten Sprachen, damals -159- wie heute. Der König auf dem Ritt in die Schlacht flüsterte ein letztes Gebet. Der Mann auf dem stolpernden Pferd stieß einen Schreckensruf aus. Der Magier, der spürte, wie sein Haus unter den Erdstößen erbebte – wer konnte ahnen, daß er tot war, bevor die Mauern ihn unter sich begruben? Der Räuber sagte den traditionellen Spruch auf dem Weg zum Galgen. Die Frau schrie in den Wehen. Und Euer Vorfahr, der von der Mauer stürzte, war tot, bevor er den Boden berührte. Der zweite atmete schon nicht mehr, als das Wasser sich über seinem Kopf schloß. Der dritte in seinem Entsetzen über die Verfinsterung der Sonne – Gott errette mich riefen sie alle. Und der Ring tötete sie augenblicklich, wie die Gravur es verrät. Diese Worte, die von dem Träger gesprochen werden, lösen einen Mechanismus unter dem Stein aus. Eine haarfeine Nadel dringt in die Haut des Fingers. Gift strömt ein. Ein Dämonengift, so stark, daß es im Bruchteil einer Sekunde tötet. Der Opfer fällt, mit dem Ausdruck des Entsetzens auf dem Gesicht und ohne eine sichtbare Wunde. Da Ihr darüber Bescheid wußtet, konntet Ihr den Ring gefahrlos tragen. Aber sollte Eurer Frau eine Katze auf den Schoß springen, würde sie unweigerlich den tödlichen Ausruf tun und augenblicklich sterben. Und ich, der anerkannte Dämonenbezwinger, sollte dieser Szene beiwohnen und Zeugnis ablegen über die Unabwendbarkeit des Schicksals.« »Aber Berdice ist nicht gestorben«, sagte Volf. Er wirkte erschöpft und nicht mehr wütend oder bösartig. Sein schlaffer Mund zitterte, und statt Krokodilstränen für seine Frau vergoß er jetzt echte Tränen für sich selbst. »Zum Glück für die Dame«, meinte Cyrion, »erhielt sie heute Nachmittag Besuch vo n einer Zauberin, die sie dazu überredete, zwei Amulette zu tragen. Diese.« Er deutete auf die seidenen Handschuhe, die Berdice trug und deren zarter Stoff mit dem dünnen, aber undurchdringlichen Stahl aus Daskiriom durchwoben war – den keine vergiftete Nadel durchbohren -160- konnte, wie fein sie auch immer sein mochte. Berdice bewegte sich. Cyrion befreite sich behutsam von der Katze, beugte sich über das Mädchen und faßte sie an den Ellbogen. Mit einem Ruck zog er sie auf die Füße. »Der Schreck über die zweite Katze hat Euch geheilt«, sagte Cyrion streng. »Ihr könnt wieder gehen. Versucht es.« Berdice starrte ihn mit offenem Mund an und tat dann einen unsicheren Schritt. Sie schrie auf und versuchte einen zweiten. Sie schrie weiter und setzte wieder einen Fuß vor den anderen. So führte Cyrion sie aus dem Zimmer. Auf der Schwelle drückte er ihr eine purpurne Seidenschnur in die Hand, aber sie bemerkte es kaum. Volf schien sie auch vergessen zu haben, eine Vergeßlichkeit, die ihr später nur zugute kommen konnte. Als Cyrion in das Speisezimmer zurückkehrte, hämmerten die Wachen schon an die Tür. Volf war auf seinem Stuhl zusammengesunken. Auf den Mosaiktisch neben ihn legte Cyrion den Ring. »Hängen ist eine langwierige und unangenehme Angelege nheit«, murmelte Cyrion leicht angewidert. Als sie in das Speisezimmer stürzten, fanden die Wachen nur einen Mann und der war tot. Volf lag über dem Tisch, die Bernsteingemme an der Hand, einem entsetzten Ausdruck im Gesicht und ohne eine sichtbare Wunde. Sechstes Zwischenspiel Mittlerer Tumult folgte der Geschichte des Priesters. Die meisten der Gäste an Roilants Tisch waren inzwischen leicht berauscht. Selbst der Gelehrte hatte sich mit -161- halbgeschlo ssenen Augen zurückgelehnt, und um seine schön geformten Lippen spielte ein Lächeln. Der dickliche junge Mann mit dem ingwerfarbenen Haar war weder betrunken noch in der Stimmung dazu, obwohl der Wein seine Wangen rot gefärbt hatte. Er wirkte eher bedrückt. Von dem Augenblick an, als die Wahrsagerin in der Geschichte aufgetaucht war, war er auf seinem Stuhl herumgerutscht und hatte um sich geschaut, als hätte er Angst, verrückt zu werden. Als kurz vor dem Ende der Geschichte die katzenhafte Brünette inmitten ihrer Tüllwolken und Perlen von ihrem Tisch aufstand und, gefolgt von ihrer Dienerin, die Treppe am anderen Ende des Raumes hinaufging, war Roilant stumm und zur Untätigkeit verdammt außer sich geraten. Kaum daß die Erzählung beendet war, stand er auf, wehrte protestierende Hände ab und entschuldigte sich mit unaufschiebbaren Geschäften. Aufgrund dieser Geschäfte wurde es ihm gestattet, sich zurückzuziehen und einer der Kaufleute schwankte neben ihm durch den Vorhang, während er sich in den höchsten Tönen über die unglückliche Berdice erging. »Ein Juwel, ein Engel. Was gäbe ich für ein so einfältiges, liebreizendes Eheweib.« »Sie hat mein Mitgefühl«, sagte Roilant. Seine Stimme klang übertrieben ernst. Dann, neben der Quirristatue, sagte Roilant schwitzend: »Die Frau, die vor einigen Minuten den Raum verlassen hat. Habt Ihr sie gesehen?« »Ein appetitliches Paket. Aber, da bin ich sicher, ganz und gar nicht einfältig.« »Aber groß und starkknochig.« »Gewiß, ein begehrenswertes und wollüstiges Geschöpf.« »Ihr mißversteht mich. Könnte sie… könnte sie nicht auch ein Mann gewesen sein?« Der Kaufmann begann zu lachen. Er lachte, bis er gezwungen war, sich an die Quirristatue zu lehnen. Er hielt sich die -162- schmerzenden Seiten und röchelte. Schließlich, da es seine Blase nicht länger aushielt, verschwand er den Gang hinunter, wobei er immer noch vor atemloser Heiterkeit quiekte. Der Verursacher dieses Ausbruchs blieb zurück und fühlte sich sowohl lächerlich als auch unruhig. Wenn die Frau Cyrion war, sollte er, Roilant, ihr folgen? Und wenn sie nicht Cyrion war, wie würde es aussehen, wenn er die Gasthaustreppe hinaufgaloppierte? Außerdem – eine furchtbare Verwirrung ergriff von ihm Besitz – was der Priester gesagt hatte, stimmte. So viele von ihnen konnten Cyrion in Verkleidung sein. Der Karawanenbesitzer, dessen staubige Kleidung nicht recht zu seinem Benehmen passen wollte. Der gutaussehende Gelehrte – waren die Falten in seinem Gesicht eine Folge des Alters oder geschickter Pinselstriche? Oder die drei Kaufleute, von denen einer, wie Roilant jetzt auffiel, ein Gesicht hatte, das viel zu schmal für seinen Leibesumfang war. Polster? Der Priester kam wahrscheinlich nicht in Frage. Er war tatsächlich ein fetter Mann, ohne die geringste Eleganz. Und doch konnte auch das eine unglaublich geschickte Verkleidung sein. Dann waren da noch die Sklaven. Roilant hatte kaum einen Blick auf sie geworfen, aber sie waren gut gekleidet und hatten sich die ganze Zeit in seiner Nähe aufgehalten. Esur, zum Beispiel. Vielleicht war Esur mit den weißen Zähnen Cyrion, und der Wirt steckte mit ihm unter einer Decke. Roilant fing an, hin und her zu wandern. Damit war er immer noch beschäftigt, als der Kaufmann von der Latrine zurückkam und bei seinem Anblick ein vergnügtes Kreischen ausstieß. Roilant bedachte ihn mit einem Fluch und entschuldigte sich anschließend. Der Kaufmann klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Unterdessen öffnete sich die Tür zur Straße und Schnauzbart stolperte die Stufen hinab, der kurzgeratene Soldat mit der braunen Oberlippenzier. -163- »Habt Ihr das alte Ungeheuer, diesen heiligen Mann, eingesperrt?« fragte der Kaufmann. Schnauzbart hickste und nickte nachdrücklich mit dem Kopf. Er torkelte an ihnen vorbei und in den hinteren Raum hinein, wobei er dem Händler und Roilant den Vorhang um die Ohren wirbelte. Für jemanden, der so klein geraten war, verstand er es großartig, die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Roilant blickte auf den Gong in der Hand der Quirri und spürte das Verlangen, wild dagegenzuschlagen und ›Feuer!‹zu brüllen. In dem darauffolgenden Durcheinander gelang es vielleicht, diesen teuflischen Cyrion zu demaskieren. Es war genau die Art Trick, die auch Cyrion anwenden würde. Aber Roilant? Nie. Obwohl er sich wegen seiner Ängstlichkeit und seinem Mangel an Selbstbewußtsein zu hassen begann, sagte Roilant: »Ich muß meine Rechnung bezahle n und gehen. In der Stadt habe ich noch etwas zu erledigen.« »Warum so eilig? Der Nachmittag ist noch jung.« Roilant stellte zu seiner eigenen Überraschung fest, daß er in den Gastraum zurückgeführt wurde. Alles in allem hatte sich nichts verändert. Der zurückkehrende Schnauzbart hatte sich, trotz aller Willkommensgrüße, nicht an den Gemeinschaftstisch niedergelassen. Er hatte sich da breitgemacht, wo die dunkelhaarige Frau gesessen hatte, den Kopf auf die Arme gelegt, und machte Anstalten, geräuschvoll seinen Rausch auszuschlafen. Die Schnarcher, die unter dem braunen Schnurrbart hervorknatterten, wurden so laut, daß die Gesprächspartner sich beinahe anschreien mußten, und senkten sich dann auf ein erträgliches Maß. »Wie ärgerlich«, sagte der Händler mit dem juwelenbestickten Kopftuch. »Ich hatte gehofft, Neuigkeiten über die Gefa ngennahme und – vielleicht auch Folterung – des Alten zu erfahren.« Esur betrat den Raum, betrachtete sie alle mit unverhüllter -164- Abneigung und begann die traurigen Überreste ihres Mittagessens abzuräumen. Zwei andere Sklaven gingen ihm zur Hand. Roilant musterte sie alle. Schlank, jung und dunkel. Was nichts zu bedeuten hatte. Ein allgemeines Seufzen erregte seine Aufmerksamkeit. Er wandte sich um und sah, was alle an seinem Tisch sahen, fasziniert, ungläubig und fassungslos. Auf der Treppe stand, lässig und unverhohlen amüsiert, ein junger Kavalier mittlerer Größe, kräftig gebaut und vornehm gekleidet, von lebendiger Schönheit und mit einem Schwert bewaffnet. Das Schwert allerdings steckte in einer Hülle aus weißem Leder, an der linken Hand funkelten keine Ringe und das schulterlange Haar war nachtschwarz. Eine Stufe höher stand ein zierlicher Page, eine Hyazinthe und eine Tigerlilie hinter dem linken Ohr. Es gab nicht den geringsten Zweifel. Diese Erscheinungen waren niemand anders als die bezaubernde Dame und ihre Dienerin von vor zwanzig Minuten. Die Frage lag auf der Hand, allerdings ohne daß es eine Antwort gegeben hätte. Waren das nun ein Knabe und ein Mann gewesen, in der Verkleidung von Magd und Dame? Oder waren sie Mädchen und Frau in der Verkleidung von Knabe und Kavalier? Dieses? Jenes? Beides? Unter den Blicken vieler weit aufgerissener Augen kamen die beiden die letzten Stufen herunter. Als der Kavalier an Roilant vorbeiging, machte er eine formvollendete Verbeugung. »Guten Tag«, sagte eine Stimme, die sich von einem verführerischen Alt in einen weichen Tenor verwandelt hatte. »Verdammt und zugenäht«, platzte der Priester heraus und wurde dann so rot wie eine Rose, während man ihn schulterklopfend beglückwünschte. Roilant plumpste auf seinen Stuhl. In diesem furchtbaren Gasthaus war nichts das, was es zu sein schien. War er immer noch Roilant? Unglücklicherweise ja. Esur schlich sich an ihn heran, eine Platte mit abgenagten Knochen schützend vor sich -165- haltend. Er hauchte ihm ins Ohr: »Mir ist noch eine Geschichte über Cyrion eingefallen -« »Geh weg«, sagte Roilant. Esur fletschte die Zähne und verschwand. Bahnen aus goldenem Licht fielen durch die Fenster. Der Vogel in dem Käfig hüpfte herum und zwitscherte, und das Schnarchen des Soldaten ertönte jetzt mit der Regelmäßigkeit von Donnerschlägen. Die Gesellschaft, der die Geschichten ausgegangen waren, löste sich in tränenfeuchtem Bedauern auf. Die drei Kaufleute gingen untergehakt mit ihren silbern und violett geschminkten Damen zu ihren Zimmern hinauf. Der Karawanenbesitzer, dessen Rechnung von dem Händler mit dem juwelenbestickten Kopftuch bezahlt worden war, schlenderte gähnend und sich reckend in den warmen Nachmittag hinaus. Auch der Gelehrte zog sich zurück, um seine Schriften und Pergamentrollen zusammenzupacken. Er wollte sich am folgenden Tag einer Karawane nach der Stadt Askandris in Kyros anschließen. Die Sklaven quollen aus der Küche, beschimpften sich gegenseitig und ließen Platten mit Essensresten fallen. Schon bald waren der schnarchende Schnauzbart und der mutlose Roilant allein. Der Wirt eilte herbei. »Eure Schänke«, sagte Roilant, der den Wein ausgetrunken hatte, »ist ein Tollhaus.« »Ihr sagt mir nichts, was ich nicht schon wüßte.« Roilant starrte auf die großen Augen und fragte sich, ob die beginnende Glatze nur vorgetäuscht war. »Übrigens, guter Herr«, meinte der Wirt mit einer Stimme, die auch verstellt sein konnte, »ich habe mich an den Mann erinnert, nach dem Ihr gefragt habt. Ihr habt Euch in dem Namen geirrt.« -166- »Habe ich das?« »Allerdings. Er heißt Cyrion.« Roilant schloß die Augen. Er sagte kalt: »Vergebt mir.« Und widerstand mannhaft der Versuchung, dem Wirt den restlichen Wein ins Gesicht zu schütten. »Und deshalb«, fuhr der Wirt fort, ohne von dem Schicksal zu wissen, dem er entronnen war, »habe ich das Gefühl, ich sollte Euch warnen. Dieser Abenteurer ist gefährlich. Als Feind soll er schrecklich sein, habe ich gehört. Im Vertrauen gesagt -« »Im Vertrauen g esagt, kennt Ihr eine Geschichte, die diesen Makel deutlich macht.« »Nein«, überraschte ihn der Wirt. Und verdarb die Überraschung gleich wieder. »Es gibt da einen alten Mann, der bettelt, und er ist jetzt gerade an der Küchentür. Er kommt manchmal her, und ich gebe ihm etwas zu essen, weil das Glück bringt. Er ist fast blind, aber ein heller Kopf. Er hat einige Zeit bei den Nomaden gelebt und behauptet, daß ihr Blut in seinen welken Adern fließt. Wenn Ihr möchtet -« Roilant wollte ablehnen. Aus dem Obergeschoß perlte ein helles, sinnliches Lachen in den Gastraum. Irgendwie machte es ihn wieder munter. »Also gut. Laßt ihn hereinkommen. Ich werde bezahlen.« Der Wirt nickte und verschwand. Roilant wartete aufgeregt und ungeduldig und fuhr beinahe aus der Haut, als Schnauzbarts Schnarchkonzert einen neuen Höhepunkt erreichte. In der darauf folgenden Stille ertönte das etwas unheimliche Klopfens eines Stockes. Dann trat ein alter, hochgewachsener Mann durch den Vorhang und ertastete sich mit einem Stab den Weg. Die Kapuze seines Nomadenumhangs war tief in die Stirn gezogen, die Augen bedeckte ein dünnes Tuch. Das Gesicht war ausdruckslos, fein geschnitten und vom Alter und der Wüstensonne gezeichnet. -167- Roilant hielt sich zurück, bis der alte Mann sich auf einen Stuhl niedergelassen hatte. Dann beugte er sich schwer atmend über ihn. »Ich habe Gold«, sagte Roilant. »Für dieses Gold verlange ich die Wahrheit. Ich sage Euch, mein Leben ist in höchster Gefahr. Der Grund, aus dem ich herkam, um… um Cyrion zu suchen, ist, daß ich ihn um jeden Preis in meinen Dienst nehmen will, um mich zu schützen. Versteht Ihr?« »Ich verstehe«, sagte die übertrieben alte Stimme. »Dann«, bellte Roilant, »hört mit dieser Maskerade auf und zeigt Euer wahres Gesicht.« »Dies ist mein wahres Gesicht.« »Nein. Das ist es nicht. Ihr seid Cyrion.« Der Bettler lachte. Er hatte nur wenige Zähne und das Innere seines Mundes war ebenso runzlig wie sein Gesicht und seine Hände. »Cyrion? So gut hat es Gott nicht mit mir gemeint. Ich bin der Vater Esurs, der sich eines Tages freikaufen und reich werden wird. Aber ich, ich wurde freigelassen und als unbrauchbar verstoßen und fand nach langer, mühsamer Suche meinen Sohn, der vor vielen Jahren in Heshbel von meiner Seite gerissen wurde. Ich bin frei und arm, er ist ein Sklave und entbehrt nichts. Aber wie soll ein Sklave seinen alten Vater unterstützen? Aus Gutherzigkeit werde ich gespeist, gesegnet sei dieses Haus. Aber ich habe niemals eine Goldmünze in der Hand gehabt -« Der blamierte Edelmann fühlte sich zwischen Verlegenheit, Wut und Mitleid hin und her gerissen. Zwei Goldmünzen wechselten den Besitzer. Dann setzte er sich und unterzog sich der Bestrafung, eine letzte, allerletzte Geschichte über Cyrion anhören zu müssen… Ein Luchs unter Löwen -168- Gegen Mittag, beinahe flachgeklopft von den Hammerschlägen der Sonne, lag die Wüste wie tot. Eine Täuschung. Eine besondere Art von Leben lauerte und gedieh dicht unter der Haut der Wüste. Samenhülsen, Scherben, vergessene Schätze, Wasseradern und Magie. Am Abend dann würde das sterbende Land sich erheben, den Tod abschütteln und sich dem kühlenden Balsam der Sterne entgegenrecken. Karuil- Ysem wandte den von der schwarzen Kapuze verhüllten Kopf und schien mit erhöhter Aufmerksamkeit den Worten des Kundschafters zu lauschen. Seine schwarzen Augen, alt, grausam und von erbarmungsloser Klugheit, waren halb geschlossen. So erweckte er den Eindruck Von Leblosigkeit und Ruhe – wie die Wüste; und der Eindruck war ebenso falsch. »Und du sagst, er folgt uns seit gestern früh?« »Eben dies, Karuil.« »Und er hat weißes Haar?« »Oder sehr helles. Ein Westländer. Weder aus den Städten noch von unserem eigenen Volk. Dennoch wandert er durch den Sand mit dem sicheren Schritt der Nomaden, ebenso achtlos und kundig. Er trägt ein Schwert, aber heute morgen kroch eine Viper zwischen den Steinen hervor, wo er schlief. Sie richtete sich auf, um ihn zu stechen, aber er kam ihr zuvor. Er warf ein Messer, das ihr den Kopf vom Leibe trennte, bevor ich noch Atem holen konnte. Auch fand er die verborgene Wasserstelle, die nur unser Volk kennt. Wer kann es sein, Vater, der unsere Sitten kennt und doch weder zu unserem Volk, noch in dieses Land gehört?« Wie es in letzter Zeit häufig vorkam, verengten sich Karuils adlergleiche Augen bei der Nennung des königlichen Titels,›Vater‹, als überraschte es ihn, immer noch so angesprochen zu werden. Er blickte über die Schulter zu den schwarzen Zelten zwischen den hohen Palmen der Oase zurück, -169- wo das Leben sich nur träge regte, ein Tribut an die gnadenlose Hitze. »Ich glaube ich weiß, wer er ist«, sagte Karuil- Ysem. »Ich werde mit dir zurückreiten. Wir wollen sehen, ob ich immer noch weise bin oder nur mehr ein Narr.« Der Kundschafter stieß seinem Pferd die Fersen in die Weichen, daß es sich herumwarf und in einer Wolke aus rötlichem Sand davonstürmte. Kandis Pferd folgte ebensoschnell. Sie waren verschwunden. Einige der Nomaden, hochgewachsene Männer in ihren langen, schwarzen Gewändern, die Kapuzen zum Schutz vor der Sonne über den Kopf gezogen, saßen in dem spärlichen Schatten der Palmen und schauten Karuil und dem Kundschafter hinterher. »Was hat das zu bedeuten?« fragte einer von ihnen. Ysemid, Karuil-Ysems Sohn, vollführte die bei den Nomaden übliche Geste, die einem Augenzwinkern gleichzusetzen war. »Jemand ist uns gefolgt, behaupten die Kundschafter. Vielleicht einer der Engelsritter, eine Taube, die ihr Nest am falschen Ort gebaut hat.« »Wer die Löwen der Wüste verfolgt, sollte sein Fleisch in acht nehmen«, zitierte sein Nachbar. Ysemid nickte. Er war hübsch, jung und stolz und trug einen Saphir in einem Ohrläppchen. Überall in der schattenbetupften Oase fanden sich weitere Hinweise auf seinen Reichtum. Eine seiner drei schönen Frauen brachte ihm einen Trunk in einem mundgeblasenen Glas auf einem ziselierten Silbertablett. Sie war schwarz gekleidet, wie alle anderen, aber an Gürtel, Handgelenken, Ohren und Stirn funkelten Juwelen und der Schleier, der Mund und Kinn bedeckte, war mit dünnen Goldplättchen bestickt. »Mein Vater, der›Vater‹«, sagte Ysemid, »wird uns seinen -170- Leichnam bringen, so er ein Feind ist. Wenn nicht, so werden wir sehen.« Auf einem Hügel zwischen den Dünen hielten Karuil und der Kundschafter auf ihren Pferden. Der Verfolger, der sich jetzt in Sichtweite befand, näherte sich stetig und unbeirrbar. Wahrscheinlich hatte er sie entdeckt, ließ sich aber nichts anmerken. »Seht wie er die Füße setzt, Vater. Er kennt den Sand.« »Allerdings.« »Und das Haar.« »Ich sehe.« Noch eine Minute und der Gegenstand ihrer Beobachtungen hob den weißblonden Kopf. Ohne stehenzubleiben schaute er zu ihnen hin. Bald war er nahe genug, daß sie die Züge seines leicht gebräunten und atemberaubenden Gesichts erkennen konnten. »Ein Edelstein Gottes«, bemerkte der Kundschafter mit verächtlicher Bewunderung. Es war der Ausdruck für große Schönheit und wurde gewöhnlich als Beleidigung gebraucht. Die Nomaden, ruhelose Wanderer, erbarmungslose Kämpfer, die nach einem starren, manchmal blutigen Kodex lebten, glaubten, die wahrhaft Schönen seien auch die wahrhaft Nutzlosen. »Ein Edelstein«, stimmte der alte Mann zu, »aber in einer Fassung aus Stahl. Ja, er ist der eine, von dem ich annahm, er sei es.« Karuil- Ysem schwang sich aus dem Sattel – er war erstaunlich gelenkig. Er wartete, während der Nicht-Fremde gelassen und mit ausdruckslosem Gesicht das letzte Stück des Hügels hinter sich brachte. Als der junge Mann noch zwanzig Schritte entfernt war, sagte Karuil, noch immer in der Sprache der Nomaden: »Die Wüste -171- blüht unter dem Schritt des ersehnten Gastes.« Daraufhin blieb der Ankömmling stehen und erwiderte fehlerlos in derselben Sprache: »Und Wasser dringt aus dem Felsen bei der Wiederbegegnung mit einem Freund.« Seine Stimme war so schön wie sein Gesicht, und der Kundschafter lauschte mit ärgerlicher Verwunderung. Diese steigerte sich noch, als Karuil ohne weiteres die Arme ausbreitete, der blonde Westländer die letzten Schritte zurücklegte und sich umarmen ließ. »Willkommen, Cyrion«, sagte Karuil. »Euer Willkomm ist willkommen«, antwortete der Edelstein Gottes, dessen Namen Cyrion war. »Wie hast du uns gefunden?« fragte Karuil. »Auf die übliche Weise. Indem ich den Zeichen folgte, die das Volk Karuils für die zurückläßt, die ihm in Freundschaft verbunden sind.« »Mein Kundschafter ist erstaunt.« Cyrion sah den Kundschafter an und bedachte ihn mit einem unerträglich bezaubernden Lächeln. »Es fuhren viele Wege zur Weisheit, und Staunen ist einer davon«, zitierte Cyrion ein nomadisches Sprichwort. Karuil lachte. Es war selten zu hören, dieses dürre, belustigte Krächzen. »Cyrion hat unter uns gelebt. Er ist auch ein Schwertkämpfer und Abenteurer, den man in den Küstenstädten und auch in dem gelb ummauerten Heruzala kennt, das jetzt ein Tummelplatz der Westländer ist.« »Und befolgt er auch«, fragte der Kundschafter, »die Lehren des Propheten Hesuf, wie wir es tun und wie die Westländer zu tun vorgeben?« »Ich leugne nicht Klugheit und Tugend in den Lehren Hesufs«, erwiderte Cyrion liebenswürdig. »Wie vielleicht auch -172- Ihr, stolpere ich manchmal über diesen einen Satz, der verlangt, ich soll es ge nießen, zweimal ins Gesicht geschlagen zu werden.« Der Kundschafter riß die Augen auf und grinste dann. »Du wirst uns zu den Zelten begleiten?« erkundigte sich Karuil. »Es war meine Absicht, wenn es gestattet ist.« »Es ist gestattet.« Karuil stieg nicht wieder in den Sattel, und Cyrion führte das Pferd des Wüstenkönigs an den quastengeschmückten Zügeln. Der Kundschafter trabte ein Stück voraus. Eine Zeitlang herrschte Schweigen, nur unterbrochen von dem leisen, mahlenden Geräusch des nachgebenden Sandes. Schließlich, als sie die letzte Erhebung hinuntergingen und die Oase in Sicht kam, sagte Karuil: »Und dir geht es gut, Cyrion?« »Nicht so gut, wie es einmal war.« »Eine Wende des Schicksals?« »Eine Wende«, die melancholische Stimme zögerte, »in gewisser Weise. Ich bin in die Wüste zurückgekommen, weil ich einige Fähigkeiten neu erlernen muß, die ich einst beherrschte und die mir aus Mangel an Übung wieder entglitten.« »Die Muskeln des Geistes – du warst vollkommen. Was bedrängt dich?« Wieder ein Zögern. Der Mann, der vor ihnen ritt, war nicht so weit entfernt, daß er nicht hätte hören können, was gesprochen wurde. »Mein Kundschafter ist vertrauenswürdig«, sagte Karuil. »Aber wir können auch in meinem Zelt darüber sprechen.« Cyrion murmelte: »Vater, ich habe keinen Grund, irgendeinem Eures Volkes zu mißtrauen. Es ist besser, ich sage es Euch gleich. Ohnehin fürchte ich, daß es schon sehr bald nötig sein wird.« Wieder ein Zögern. Dann, kalt und hart: »Ich -173- leide unter einer Krankheit des Gehirns, die krampfartig auftritt und an sich nicht tödlich ist. Es beginnt mit einer leichten Störung der Sehkraft, steigert sich zu einer vorübergehenden Blindheit und endet mit Schmerzen in einer Kopfseite, die viele Stunden andauern. Die Ursachen sind zahlreich und unerforscht. Drogen lindern im allgemeinen den Schmerz, und für jemanden, der ein friedliches Dasein führt, ist diese Krankheit zwar unangenehm, aber erträglich. Aber Ihr könnt beurteilen, Vater, wie gefährlich sie für einen Mann ist, der von seinem Schwert lebt.« Karuil blieb stehen. Weiter unten glitzerte das Wasser in dem Trinkbecher der Oase. Der Kundschafter hatte sein Pferd gezügelt. Er blickte auf das Lager hinab und lauschte unverhohlen dem Gespräch, das hinter ihm geführt wurde. »Du?« sagte Karuil-Ysem zu Cyrion. »Leider ja, ich. Habt Ihr nie von einer solchen Erkrankung gehört? Die remusanischen Kaiser litten darunter. Ich befinde mich also in bester Gesellschaft. Was meine Lage nicht bessert.« »Die Ursache?« Cyrion zuckte die Schultern und lächelte, als wäre gar nichts. »Ich habe keine Ahnung. Vielleicht ein Schlag auf den Kopf, von denen ich einige hinnehmen mußte. Oder eine Art von Hexerei – auch damit habe ich ein- oder zweimal zu tun gehabt… Mein unstetes Leben. Was immer die Tür öffnete, der Gast kam herein. Und wenn ich auch trotz aller Schmerzen ein Schwert führen kann, könnte es sich als schwierig herausstellen, gegen einen Mann zu kämpfen, den ich nicht sehen kann.« Das Zelt Karuil- Ysems stand abseits, nahe am Wasser, in einem grünen Netz aus Schatten. Im Inneren hing eine parfümierte Bronzelampe an Ketten, die in einem verwirrenden Muster zwischen den Zeltstangen gespannt waren. Diese Vorrichtung war notwendig, weil die Ketten kein Kreuz bilden durften. Vor Hunderten von Jahren wäre der Prophet Hesuf -174- beinahe an einem Kreuz gestorben, hätte ein Aufstand unter dem Volk ihn nicht gerettet. Aus diesem Grund verabscheuten die Nomaden alles, was einem Kreuz ähnlich sah. Dieser Abscheu äußerte sich sogar in der Form ihrer Schwerter, die halbmondförmig gekrümmt waren. Karuil- Ysem saß unter der Lampe, zwischen den seidenen Kissen und sah durch den geöffneten Zelteingang, wie die Sonne unterging. Cyrion hatte er auf den Platz an seiner Seite gewinkt. Man hatte ihnen Wein, Dattelsaft und Zuckerwerk gebracht. Diese Süßigkeiten und den Wein, erklärte Karuil, verdankte er der Großzügigkeit seines Sohnes. Ysemid verbrachte jetzt viel gewinnbringende Zeit in den Städten. Über die schimmernde Wasserfläche hinweg war Ysemids Zelt zu sehen. Als die Hitze des Nachmittags langsam erstarb, vergnügten sich dort schwarzgekleidete Männer mit wilden Pferderennen; Staub und Schreie stiegen in den fahlen Himmel. Nachdem er aus Höflichkeit von den Speisen aus Daskiriom und Heshbel gekostet hatte, saß Cyrion in scheinbar träger Behaglichkeit und stützte das Kinn auf die beringte linke Hand, während Karuil mit unerwartetem Appetit weiter aß und trank. Schließlich meinte Cyrion beiläufig: »Ich nehme an, hier kann uns niemand belauschen?« »Nein«, sagte Karuil und zerteilte eine Pastete. »Während Euer eifriger Kundschafter bereits die traurige Neuigkeit meiner Erkrankung verbreitet.« Karuil blinzelte. Die pergamentdünnen Lider senkten sich halb. Es war ein Zeichen für ungeteilte Aufmerksamkeit. »Der Kundschafter? Ich habe dir gesagt, daß er nichts verraten würde.« »Aus welchem Grund dann habt Ihr mich bewogen, vor ihm zu sprechen?« Karuil legte die Pastete nieder. Auf dem alten Gesicht breitete -175- sich ein Ausdruck verschlagener Spannung aus. Ganz langsam wurden hinter den Lippen die langen Zähne sichtbar. »Was ich dir sagte und die Wahrheit müssen nicht ein und dasselbe sein.« »Ihr entzückt mich. Die Idee, noch mehr Gerüchte in Umlauf zu bringen, erschien mir langweilig, um nicht zu sagen geistlos.« »Also spielst auch du mit der Wahrheit. Deine Krankheit ist eine Lüge.« Cyrion betrachtete Karuil einige Augenblicke lang und ließ den Blick zu dem lauten Treiben auf der anderen Seite des Teiches wandern. »Die Krankheit«, sagte Cyrion ruhig, »war ein nützlicher Zufall. Ich wurde angewiesen, unter einem Vorwand hier aufzutauchen, oder etwa nicht?« »Dann ist es eine Tatsache – diese Blindheit -« »Sie tritt nur in größeren Zeitabständen auf. Die Dinge, die ich bei Eurem Volk gelernt habe, habe ich nicht vergessen und brauche ich nicht neu zu erlernen. Ihr könnt Euch vorstellet, daß ich sie im Falle einer Krankheit angewendet hätte. Ob sie nun helfen würden oder nicht.« »Dann«, sagte Karuil, »bist du nur gekommen -«, es folgte eine lange Pause, und schließlich: »weil ich dich gerufen habe.« »Was ziemlich albern von mir war, da Ihr mir nicht zu trauen scheint.« »Daß ich überhaupt nach dir gerufen habe, beweist, daß ich dir mehr als jedem traue. Wie hast du meine Nachricht erhalten?« »An einem der Orte, die ich gelegentlich aufsuche und an dem Ihr sie hinterlassen hattet. Wie sonst? Wenn ich sie richtig gedeutet habe, wolltet Ihr mich wissen lassen, daß Ihr Euch in Gefahr befindet.« Karuil, der die Pastete wieder zum Mund geführt hatte, legte -176- sie auf das Tablett zurück. Seine Augen nahmen einen täuschend schläfrigen Ausdruck an. »Ah. Ich dachte nur, daß du es so auslegen würdest.« »Ich habe mich geirrt.« »Nein. Er ist mein Feind.« Jetzt kamen die Worte hastig, und seine Stimme hatte einen scharfen, bitteren Klang. »Er will nach Art der Städte leben. Er suhlt sich in ihrer Verderbtheit und dem Luxus. Er behängt seine Frauen mit Gold und sein Zelt mit Juwelen und schickt diese Süßigkeiten, um mir die Zähne zu ziehen.« Karuil schlug nach dem Tablett, und das Konfekt rollte über den Boden wie bunte Würfel. »Einen Ta ttergreis will er aus mir machen. Wie einen alten Löwen will er mich einlullen und dann die Falle zuschnappen lassen.« Cyrion wartete einen Moment, bevor er bemerkte: »In Eurem Volk ist Vatermord das schlimmste Verbrechen und wird mit der grausamsten Strafe geahndet. Wird Ysemid das riskieren?« »Ich weiß es nicht. Aber ich glaube schon. Oh, nicht gleich. Es gibt solche unter uns, die ihn lieben, die seine Pläne bewundern. Er würde unsere Zelte vor den Stadtmauern aufschlagen und uns zu Händlern und Gauklern herabwürdigen und sich mit seinen Frauen auf dem Bett wälzen, während die Knochen unserer Söhne dürr wie Stöcke und unsere Töchter zu Huren werden.« Karuil brach ab. Er hatte die Stimme nicht erhoben. Nur die Worte verrieten seinen Zorn, er selbst saß so still wie ein Adler auf seinem hohen Felsen. »Nur ich«, sagte er, »stehe ihm im Weg. Ja. Er wird mich töten. Also habe ich nach dir geschickt. Nach dir, der einst in meinem Volk lebte und wie ein Sohn für mich war. Du erinnerst dich daran?« Leise erwiderte Cyrion: »Ich erinnere mich. Ohne Karuil- Ysem wäre ich nicht der, der ich bin. Was wollt Ihr, das ich tue, Vater Eures Volkes?« »Im Augenblick nichts. Bleibe hier und warte, wie ich.« Der alte Mann trank Ysemids Wein, genoß ihn, als wäre er -177- das Blut eines Feindes, das die Nomaden wie die Dämonen in früheren Tagen getrunken hatten. »Dann«, nickte Cyrion, »werde ich warten.« »Sie werden dir ein Zelt errichten. Du wirst wieder einer von uns sein. Aber diese Krankheit deiner Augen, sie bereitet mir Kummer.« »Nein. Ich bin es, dem sie Kummer bereitet. Wenn Ihr mich braucht, stehe ich zu Eurer Verfügung.« Ein Schatten fiel in das Zelt, Cyrion und Karuil- Ysem, richteten den Blick darauf. Unvermittelt kam der Mann, den der Schatten angekündigt hatte, um das Zelt herum. Es war unwahrscheinlich, daß er, selbst wenn er gelauscht hatte, viel verstanden hatte. Sie hatten leise gesprochen, und der Lärm von der anderen Seite der Oase, der eben erst nachließ, mußte ihre Worte übertönt haben. Der Mann verneigte sich nach Art der Nomaden vor Karuil. »Der Prinz Ysemid bittet Euch, Vater, auch ihm das Vergnügen zu gewähren, Euren Gast zu begrüßen.« Cyrion erhob sich und betrachtete die Bronzelampe, die sich jetzt auf einer Höhe mit seinem Gesicht befand, während Karuil zu ihm sagte: »Ja, geh zu meinem Sohn, Cyrion. Der junge Löwen muß seinen Willen haben.« Höflich erklärte Cyrion sich einverstanden. Als er mit Ysemids Boten durch die Oase ging, versuchte der Mann ihn auf eine hochtrabende, manchmal verletzende Art auszufragen. »Der Prinz fragt sich, wer Ihr sein könnt – Ihr tragt unsere Kleidung und seid doch von dem blassen westlichen Blut. Es wird behauptet, daß Ihr unter uns gelebt habt. Warum erinnern wir uns nicht an Euch?« »Vielleicht sind wir uns zu der Zeit nicht begegnet oder ich muß zu meiner Schande annehmen, daß ich es nicht wert bin, -178- daß man sich an mich erinnert.« »Ha! Bei uns zu leben – hat Eure eigene Mutter Euch vor Abscheu in der Wüste ausgesetzt und ist davongelaufen?« »Mütter sind notwendigerweise anhänglich. Sie können sich mit fast allem abfinden. So wenige von uns würden sonst überleben.« Sie bewegten sich durch die Herde der schwarzen Zelte. Über kleinen Feuern briet Fleisch. Wo das Wasser sich in einem kleinen Tümpel sammelte, hockten Frauen bei ihren Krügen und klatschten. Als die beiden Männer herankamen, blickten sie auf und kicherten. Bei Cyrions Anblick wurden ihre Augen groß und schmelzend. Da sie immer bei den Zelten bleiben mußten, hatten sie noch nicht oft einen Westländer zu Gesicht bekommen. Er, mit seinem Haar wie der Himmel kurz vor Sonnenaufgang, seiner hellen Haut und Wimpern, die länger waren als ihre eigenen, war ein Wesen aus einer anderen Welt. Am Rand der Oase waren die Pferderennen vorüber. Ysemid saß auf einem Teppich vor seinem Zelt und nippte aus einem gläsernen Becher. Um ihn hatten sich seine Günstlinge versammelt, standen oder saßen herum, scherzten und tranken. Die drei schönen Frauen glitzerten um die Wette. Wenn das Sonnenlicht auf ihre Gesichter fiel, konnte man sehen, daß ihre Schleier so dünn waren wie Rauch, ein Bruch der Tradition. Als er Cyrion herankommen sah, stand Ysemid auf und hob die Arme zu einer Geste der Begrüßung und der Freude. Der Kundschafter war nirgends zu sehen, aber zweifellos war er hier gewesen, bevor er auf seinen Posten vor dem Lager zurückkehrte. »Seht«, verkündete Ysemid, »die weiße Katze ist ein Freund, oder mein Vater, der Vater, hätte ihn getötet. Kommt, Freund von Karuils Volk.« Cyrion trat vor und duldete die Umarmung. Ysemids Gefolgschaft drängte heran, täschelte ihn und strich über sein -179- Haar. Ohrringe und Zähne blitzten, und die tiefstehende Sonne überschüttete das Bild mit einem Fächer aus schräg einfallendem Licht. Ysemid drängte Cyrion einen Becher Wein auf. Cyrion kostete und stellte ihn beiseite. Einer von Ysemids Freunden drückte ihm den Becher wieder in die Hand. »Ist er nicht nach Eurem Geschmack?« Ysemid war besorgt. »Ein wenig steinig. Der Wein aus Andriok ist besser, wenn Ihr schon bereit seid, einen so hohen Preis dafür zu bezahlen.« »Ein Kaufmann! Er kennt meinen Wein und seinen Preis. Was könnt Ihr sonst noch Wunderbares tun, Freund von Karuils Volk?« Cyrion lächelte strahlend. »Ihr solltet mich nicht überschätzen.« »Aber ich wittere ein Genie. Kommt«, Ysemid legte Cyrion einen Arm um die Schultern, »wir haben aus Heshbel Pferde mitgebracht. Kommt und seht. Sagt uns, was Ihr von ihnen haltet.« Die jungen Männer drängten vorwärts, und Cyrion wurde mitgeschoben. Zwei von Ysemids Frauen senkten züchtig den Blick, als er vorüberging. Die dritte schaute ihm nachdenklich hinterher. Der Saphir an Ysemids Ohrläppchen funkelte und blitzte. Wieder und wieder fing er das Sonnenlicht ein und verwandelte es in ein buntes Feuerwerk. Der Anblick schien Cyrion gleichzeitig zu faszinieren und abzustoßen. Die Pferde standen im Schatten von fünf Palmen, bis auf einen Hengst, der von mehreren Knaben festgehalten wurde und doch ausschlug, stampfte und den Kopf warf. »Was«, fragte Ysemid, »glaubt Ihr, stimmt mit diesem Pferd nicht? Es hat zwei meiner besten Reiter abgeworfen. Kaum waren sie oben – da waren sie schon wieder unten.« -180- Cyrion schwieg, während das Gefolge sich vor Lachen ausschüttete. Das Pferd schüttelte den Kopf, als wollte es ihn vom Hals reißen. »Vielleicht hättet Dir, erlauchter Gast meines Vaters, Lust, Euer Können zu beweisen.« »Nein«, erwiderte Cyrion. »Ich bedauere, aber ich habe keine Lust.« Die Fröhlichkeit verschwand aus den lachenden Gesichtern, als hätte man sie mit einem Tuch weggewischt. »Aber soll ich denn glauben, daß Ihr Angst habt?« »Glaubt lieber, daß ich bemerkt habe, daß dieses Tier ein Hengst und kein Wallach ist und daß sich rossige Stuten in der Nähe befinden.« Entzückt schrie Ysemid auf. »Habe ich nicht geahnt, daß er ein Genie ist? Wein, Pferde…« Die helle Stimme eines Knaben m eldete sich außerhalb des vergnügten Kreises. »Ein kleines Stück von den Zelten entfernt, bei der umgestürzten Palme steht eine Unterkunft für den Fremden bereit.« Cyrion bot Ysemid die stolze Ehrenbezeigung des Ostens und bat um Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen. Voller Liebenswürdigkeit winkte Ysemid ihm seine Erlaubnis zu. »Geh, gesegneter Edelstein Gottes.« Zweifellos fiel ihm auf, daß der Westländer sich nur langsam bewegte. Er machte keine Anstalten, sich umzuschauen, und als er das abseits stehende Zelt erreichte, das Karuil ihm zugedacht hatte, bückte er sich sofort hinein und ließ den Türvorhang hinter sich zufallen. Ysemid spuckte in den Sand, eine seltene Geste bei denen, die -181- früh lernen, das Wasser zu achten. Die rote Blume des Sonnenuntergangs öffnete sich, erblühte und verblaßte. An dem klaren schwarzen Himmel gleißten die Sterne der Wüste. Als die Sterne der Feuer in dem Lager der Nomaden erloschen, trat Ysemid aus seinem Zelt, reckte sich und lächelte, als drinnen eine schläfrige Frauenstimme murmelte. Leise wanderte Ysemid durch das Lager und um die Wasserstelle herum und beantwortete unterwegs einen Anruf der Wachen mit einem geflüsterten Scherz, für den er mit einem Kichern belohnt wurde. Wenige Schritte vor dem Zelt Karuils schöpfte der Prinz eine Handvoll Glanz aus der Oase und trank. Neben dem Eingang, der mit einem Tuch verhangen war, blieb der junge Mann stehen und fragte leise: »Mein Vater?« Nach einem Augenblick ertönte von drinnen die alte Stimme. »Was ist?« »Störe ich Euch? Es ist Euer Sohn, Ysemid. Ich habe etwas auf dem Herzen. Darf ich hereinkommen?« »Alte Männer brauchen wenig Schlaf. Tritt ein.« Ysemid schlüpfte in das Zelt. Der Anblick, der sich ihm bot, war recht eigenartig. Auf den Kissen unter der schwach brennenden Bronzelampe saß Karuil- Ysem, Vater seines Volkes, stopfte sich mit süßen Geleefrüchten voll und spülte mit Sorbett und duftenden Weinen nach. Viele Tabletts und viele Becher standen vor ihm, nach denen die klauenartigen Finger sich gierig ausstreckten, auch hörte er bei dem Eintritt seines Sohnes nicht auf zu essen. Immer noch lächelnd und immer noch sehr leise, sagte Ysemid: »Was für ein abstoßendes Geschöpf ist das Schwein.« Karuil, der auch jetzt seine Mahlzeit nicht unterbrach, erwiderte: -182- »Knecht und Mietling, der ich bin, verzehre ich meinen Lohn.« »Ihr steht kein Lohn zu, Schändlicher; denn du bist ein Sklave.« »Und wie lange muß ich noch dein Sklave sein?« »Bis ich mit dir fertig bin.« »Bis du sicher bist?« Die alten Augen glitzerten wie Messerspitzen. »Aber wie kannst du jemals sicher sein, lieber Sohn? Du hast mit uns gespielt; wie sollten wir dich da je vergessen?« »Du vergißt schon. Du vergißt, daß ich eine Sicherheit habe.« »Eines Tages könnte deine Sicherheit verloren gehen.« »Das glaube ich nicht. Und nun berichte mir, was der Westländer dir in diesem Zelt gesagt hat.« Karuil- Ysem schob ein mit Puderzucker bestäubtes Stück Lakritz in seinen Mund und kaute, während der junge Mann die Stirn krauste und unruhig die Fäuste ballte. Schließlich war Karuil fertig und antwortete: »Er sagte, was du erwartest hast, das er sagen würde, nachdem er gekommen war, wie du es erwartet hast. Er sagte, er wüßte, daß ich mich von dir bedroht fühle und daß er mir gegen dich beistehen würde. So bat ich ihn, auf mein Zeichen zu warten. Aber da ist noch etwas.« »Und was?« Karuil hob ein Stück Nougat an die Lippen, und mit einem Fluch trat Ysemid einen Schritt vor. Karuil senkte die Hand mit der Süßigkeit und strahlte ihn hinterhältig an. »Daß die Krankheit, von der er sprach, ihn tatsächlich befallen hat; denn er hat es vor mir zugegeben.« Ysemid vergaß das kleine Ärgernis und nickte. »Das dachte ich, obwohl es sich unglaubhaft anhört. Er verkroch sich in seinem Zelt. Er hat einen Anfall. Einer, den ich nach ihm schickte, fand ihn schlafend wie einen Toten – oder -183- Betäubten. Wie dem auch sein mag, ich habe diese weiße Hauskatze nie gefürchtet.« »Nein, geliebter Sohn?« Ysemid schlug den alten Mann ins Gesicht, so daß er zwischen die Kissen und die Süßigkeiten fiel. Auf dem Boden liegend zischte Karuil: »Geh behutsam mit mir um. Ich bin morsch und könnte zerbrechen. Das würde nicht in deine Pläne passen.« »Und du, widerwärtiger Freund, paß auf! Die Süßigkeiten können für dich ebenso schädlich sein wie meine Faust.« »Es ist ja nur für kurze Zeit«, sagte der gefällte König. »Es gelüstet mich nach dem Ungewohnten. Ich bin dein Sklave. Etwas mußt du mir zugestehen.« »Sehr bald wirst du haben, wonach es dich eigentlich gelüstet.« Karuil richtete sich wieder auf. Die Bewegung war eigenartig flüssig und schlangengleich. »Du meinst die Freiheit? Ja, danach gelüstet es mich. Wie meine Schwester auch. Solche wie uns zu binden, o Bürschchen, heißt, in einem Korb aus trockenen Weiden ein Feuer zu entzünden.« »Tatsächlich? Wir werden sehen.« Ysemid hob den Vorhang vom Eingang. Als er aus dem Zelt trat, blickte er zu den Sternen hinauf und dann über die Schulter auf die unheimliche Gestalt zwischen den Kissen. Laut: »Gottes Segen auf Euch, mein Vater.« Das Gesicht zu einer furchtbaren Fratze verzogen, antwortete Karuil: »Und das Licht des Himmels scheine auf dich, Ysemid.« Ysemid kehrte nicht gleich zu seinem eigenen Zelt zurück. Er schlenderte zum Rand der Oase, wo mit den Palmen auch die Zelte aufhörten. Ein letzter zersplitterter und sterbender Baum erhob sich dort, mit einem letzten Zelt darunter. Leise trat -184- Ysemid heran, hob den Vorhang und blickte hinein. Im Licht der Sterne erkannte er den schlafenden Mann, der sich in das Schwarz der Nomaden gehüllt hatte. Eine Strähne blonden Haares fiel seidig über eine mit funkelnden Ringen geschmückte Hand. Daneben lag griffbereit das Schwert. Aber Cyrion, so schien es, schlief wie der Mond in dieser Nacht. Es wäre ein leichtes gewesen, ihn jetzt zu töten, aber unter diesen Umständen würde sein Tod nicht gut aussehen. Es gab reizvollere Arten. Ysemid ließ den Vorhang fallen und ging. Aus dem Schatten zweier Palmen schaute Cyrion ihm nach. Cyrion, das Haar – von dem er sich vorher eine Strähne abgeschnitten hatte – mit Asche eingerieben und in der schwarzseidenen Kleidung der Westländer, die er unter seinem Nomadengewand trug, war in der mondlosen Nacht kaum zu erkennen. Nicht einmal die Ringe funkelten an seiner linken Hand, denn diese eine Mal hatte er sie abgenommen und an fünf Schilfrohre gesteckt, die nun unter dem abgeschnittenen Haar über dem Schwert neben dem ausgestopften Gewand lagen. Nur das Messer hatte er mitgenommen. Diese aufwendigen Vorbereitungen waren ein voller Erfolg gewesen. Den Freund Ysemids, der vor einer Stunde aufgetaucht war, um Cyrion zu besuchen, hatten sie jedenfalls überzeugt. Vielleicht hatte der schläfrige Seufzer, den Cyrion großzügig beigesteuert hatte, noch dazu beigetragen, die Glaubwürdigkeit des friedlichen Bildes zu erhöhen. Über den Teich hinweg konnte man hören, wie Ysemid wieder mit den Wächtern scherzte. Cyrion glitt wie ein huschender Schatten zwischen den Bäumen und Zelten hindurch, erreichte das Zelt Karuil-Ysems und betrat es ohne weitere Umstände. Der Vater schlang Süßigkeiten in sich hinein, wie schon vorher, nach der – belauschten – Unterhaltung zu urteilen. Jetzt starrte der alte Mann ihn an, den Weinbecher in der einen Hand, -185- Zuckerwerk in der anderen. »Die Wohltaten der Nacht«, sagte Cyrion. »Immer noch hungrig?« Karuil faßte sich langsam. »Ich hörte, du wärest krank.« »Manchmal ist es möglich, einen Anfall hinauszuschieben oder zu verhindern. Im Augenblick habe ich keine Schmerzen und sehe sehr gut.« »Warum bist du hier?« »Ich sah Ysemid zu Eurem Zelt gehen.« »Du hattest Angst um mich?« Cyrion war gelinde erstaunt. »Welch anderen Grund hätte ich haben können?« Karuil sank in die Kissen zurück, stellte den Weinbecher beiseite und langte nach einem Pokal mit Sorbett. Cyrion trat vor, nahm den Pokal und reichte ihn dem alten Mann. Als er sich zu Karuil beugte, geschah etwas, das anscheinend mit Cyrions linker Hand zu tun hatte. Ein matter Blitz fuhr von Karuils Hals bis zu seiner Schärpe hinab. Im gleichen Augenblick flog der Becher durch die Luft, eingehüllt in einen Sprühregen aus duftendem Fruchtsaft und Cyrion sprang zurück, das blinkende Messer in der Hand. Mit aufgerissenem Mund starrte Karuil ihn an. So offen wie sein Mund war auch sein Gewand. Cyrions Messer hatte es vom Kragen bis zur Hüfte aufgetrennt, und zwischen den Stofflappen war die knorrige, dunkle Brust eines sehr starken und sehr alten Mannes zu sehen. Das und noch etwas. Über dem Herzen gab es zwei schwarze Wunden, zackig, tief und blutleer. Tödliche Wunden, die einen Monat oder mehr alt waren. Ob Cyrion blasser war als vorher, war schwer zu sagen. Aber sehr leise machte er eine Bemerkung über Gott, die nicht den Beifall eines Priesters gefunden hätte. -186- Dann griff das untote Ding ihn an, mit einer Behändigkeit, die es nicht hätte haben dürfen, und in der rechten Hand, an der noch Schokolade klebte, hielt es Karuils Krummschwert. Cyrion war nur mit einem Messer bewaffnet. Er duckte sich und kam mit einem Polster wieder hoch, das in seiner Reichweite gelegen hatte. Es fing den ersten Schwerthieb auf, was ihm nicht gut bekam. Der zweite Hieb wurde mit noch mehr Wucht geführt und schnitt das Polster beinahe in zwei Teile. Als die größere Klinge in der Seide steckenblieb, stach Cyrion mit dem Messer nach Karuils Gesicht. Das Schwert kam frei und Karuil sprang zurück – eine Reflexbewegung, denn der Messerstich war nur eine Finte gewesen. Ohne Zweifel konnte Karuil weder verletzt noch getötet werden – beides war bereits geschehen, und doch sprang er hier herum wie eine Heuschrecke. Aber das, das war nicht Karuil. Die Augen dessen, was einmal ein Mensch gewesen war, brannten voller Haß und zorniger Verwirrung. Cyrion sollte jetzt noch nicht sterben und die Zeit seines Todes wollte Ysemid selbst bestimmen, so viel hatte Cyrion herausgefunden. Ysemid, dessen Sklave dieses Ding war Cyrion glitt unter dem dritten Schwerthieb hinweg und schleuderte seinem Gegner die Reste des Polsters entgegen. Der Kissenstapel war die letzte Station seiner Reise. Als er ihn erreicht hatte, wobei er elegant der tiefhängenden Lampe auswich, drehte er sich um und machte eine eindeutig ermunternde Handbewegung in Richtung des lebenden Leichnams. Mit einem hungrigen Knurren warf dieser sich nach vorn. Cyrion sah ihm entgegen. Dann bewegte er sich wie ein Blitz. Seine Hände packten die Bronzelampe und stießen sie durch das Zelt. Den Bruchteil einer Sekunde später und Cyrion lag bäuchlings auf den Kissen. Er schien dort gefällt worden zu sein, aber das Schwert hatte ihn nicht getroffen. Es zerteilte über ihm die Luft, die sichelförmige Klinge schnitt durch den leeren Raum, der von seinem Körper hätte ausgefüllt sein sollen. Dann -187- ertönte ein anderes Geräusch: das unerbittliche, gedämpfte Dröhnen von schwerem Metall, das nachdrücklich mit einem menschlichen Schädel zusammenstieß. Mit einem erstickten Grunzen taumelte das Geschöpf, das Karuil gewesen war, zurück und fiel. Cyrion seinerseits fuhr von den Kissen empor und sprang ihm nach. In weniger als einem Augenblick hatte er den klauenbewehrten Fingern das große Schwert entwunden. Kaum einen Atemzug später schwang die Klinge in die Höhe und erstarrte, als eine Frauenstimme leise und spröde wie ein abgenagter Knochen sagte: »Nein. Tu es nicht -« Cyrion senkte weder das Schwert noch schaute er sich um. Er blickte in die starren und jetzt entsetzten Augen, die in Karuils totem Gesicht lebten. Die Lampe hatte die Augenbrauen versengt. Wäre das Fleisch darüber noch lebendig gewesen, hätte man vielleicht eine blutunterlaufene Stelle gesehen. Genau hinter Karuil war ein Tropfen Öl aus der Lampe gefallen und brannte schwelend. Ohne hinzuschauen, streckte Cyrion den Fuß aus und löschte die Flämmchen. Im Gesprächston bemerkte er: »Enthauptung. Eine der wenigen Todesarten, die ein Dämon wirklich fürchtet.« »Ja«, wisperte die Stimme im Zelteingang. »Wir sind Dämonen, mein Bruder und ich. Bedenke, wenn du über uns und unsere Art Bescheid weißt, daß unsere Macht des Nachts und an dunklen Orten größer ist. Töte ihn, und du hast es mit mir zu tun.« »Nun«, erwiderte Cyrion sanft, »es scheint, daß dein Bruder jemanden ermordet hat, den ich einigermaßen schätzte. Diesen Mann, dessen Körper er jetzt wie einen Handschuh benutzt. Vielleicht bin ich Vernunftgründen nicht zugänglich.« »Keiner von uns, weder er noch ich, hat Karuil- Ysem getötet. Es war sein Sohn, der ihm das antat, viele Tage und viele Nächte bevor du hierher kamst. Es scheint, daß er nach dir -188- geschickt hat, aber du kamst zu spät. Höre die Geschichte, bevor du urteilst.« Einen Moment lang bewegte Cyrion sich nicht. Dann senkte er das Schwert. Er trat einen Schritt von dem Leichnam Karuils zurück, und stieß die Klinge in ein Kissen, hob den Dolch auf, den er hatte fallen lassen, und schob ihn in die Hülle. Erst dann blickte er zum Eingang des Zeltes. Die junge Frau, die dort vor dem geschlossenen Vorhang stand, hatte das Zelt so lautlos betreten wie er selbst, trotz der kostbaren Ziermünzen an ihren Kleidern und der Juwelenschnüre an ihrem Gürtel. Ihr unverschleiertes Gesicht war außerordentlich schön, und wo der Schleier ihr Haar sehen ließ, hatte es die leuchtende, pfirsichgoldene Farbe, wie sie bei weiblichen Dämonen häufig vorkam. Aber ihre langen Fingernägel waren mit Goldfarbe bemalt. Es war Ysemids dritte Frau. Der falsche Karuil versuchte zu ihr hinzukriechen. Die Frau holte zischend Atem und kniete sich nieder, um ihm zu helfen. »Ja«, überlegte Cyrion. »Den Körper eines alten Mannes kann man dazu zwingen, sich mit der Geschmeidigkeit eines Jünglings zu bewegen, aber es hat unangenehme Folgen. Ich bin überrascht, daß so viel Gefühl in den Nerven erhalten bleibt und so viel Erinnerung in dem Gehirn. Sogar der Geschmackssinn. Für jemanden, der sich sonst ausschließlich von rohem Fleisch und Blut ernährt, müssen diese süßen Erfahrungen aus zweiter Hand überwältigend sein.« Die Dämonin drückte den lebenden Leichnam an ihre Brust. »Ich habe von jemandem deines Name ns erzählen gehört«, sagte sie voller Widerwillen. »Und ich habe von euch gehört«, gab er liebenswürdig zurück. »Oder vielmehr von eurer Art.« »Ja. Die Nomaden kennen uns und glauben an unsere Magie.« -189- »Und ich wurde von Nomaden erzogen.« »Du wußtest es sofort.« »Nicht sofort.« Cyrion schien durch sie hindurch ins Leere zu blicken. Aber sie beging nicht den Fehler, ihn für unachtsam zu halten. »Ich vermutete es. Nur ein Dämon, sagt man, hat die Macht, in einen toten Körper zu schlüpfen und zu machen, daß er sich bewegt.« »Sein eigenes Volk glaubt, daß Karuil lebt.« »Wenn er sie umarmt, müßten sie bemerken, daß sein Herz nicht schlägt.« »Das hat dich aufmerksam gemacht?« »Das, und andere Dinge. Das geliehene Hirn machte deinem Bruder die Erinnerung zugänglich, daß ich für Karuil-Ysem einst wie ein Sohn war, aber diese Erinnerung erstreckte sich nicht auf die genauen Umstände. Sein Wissen war lückenhaft. Das hat mich gewarnt. Es gab noch anderes. Zum Beispiel machte Karuil sich nichts aus Zucker und nur wenig aus Wein. Mit dem Alter mochte er solche Gelüste entwickelt haben. Aber diese Dinge von dem Mann anzunehmen, dem er am meisten mißtraute? Der Vater seines Volkes wäre nicht ein solcher Tölpel gewesen.« »Du hast Karuil geliebt und willst Rache«, sagte die Frau und blickte durch den Schleier ihrer rosiggoldenen Haare auf Cyrion. »So? Meinst du?« Sie sagte: »Deine Rache und die unsere könnten Hand in Hand gehen. Er hat Sklaven aus uns gemacht, dieser Ysemid.« Als sie den Namen aussprach, furchten ihre bemalten Krallen den Boden. »Du hast von einer Geschichte gesprochen. Erzähl sie mir.« »Höre also. Es gibt eine heilige Stätte weit von hier in der Wüste, einen verfallenen Schrein. Dorthin kam er, Ysemid. Er war auf der Jagd und schien einem Wild bis zu dem Brunnen im -190- Hof gefolgt zu sein, aber es war ihm entkommen. Statt selber auch fortzureiten, zog er sich Wasser herauf und trank. Es war Mittag. Mein Bruder schlief. Ich sah Ysemid, und seine Schönheit erweckte in mir Lust und Hunger. Ich schuf mir ein Trugbild, das mich in Lumpen zeigte, und ging zu ihm als eine Bettlerin, irgendeine Ausgestoßene, die sich in diesen Schrein geflüchtet hatte. Wir sprachen miteinander, und er bot mir zu essen an, wenn ich mit ihm liegen würde. Ich wußte, daß er nichts zu essen bei sich hatte und mich hintergehen wollte, aber ich willigte freudig ein, denn es paßte in meinen Plan. Wir legten uns in den Schatten der Mauer…« Die Dämonin zeigte wütend ihre Zähne. »Ich muß dir erklären, daß er nicht die Kleidung der Nomaden trug, die klug sind und vor uns auf der Hut. Hätte ich ihn als das erkannt, was er war, wäre ich ihm aus dem Weg gegangen. Aber er trug die Kleidung der Städter – ich hielt ihn für den Sohn irgendeines Händlers, leichte Beute. Und wenn erst die Sonne unterging und mein Bruder erwachte -« Die scharfen Zähne knirschten aufeinander. In ihren Armen flüsterte der Leichnam, der ihren Bruder gefangenhielt, von seinem Haß. »Ysemid hatte ein Amulett«, sagte sie. »Es war von einem Zauber umhüllt, denn ich hatte es gesehen und hielt es für nichts mehr als einen Edelstem. Ich erinnere mich, daß ich es als Spielzeug behalten wollte, wenn wir mit ihm fertig waren. Dann, als er sich auf mich legte, berührte das Ding meine Schulter und – brannte. Sofort richtete er sich auf, und dann lachte er, wie über einen großartigen Scherz. Jetzt benutzte er auch die Sprache der Nomaden. Er sagte:›Du bist genauso, wie ich es erwartet hatte.‹Und er berührte das Amulett und sprach die Worte, und ich war gebunden. Dann suchte er meinen Bruder und band auch ihn. Inzwischen glaube ich, daß Ysemid von Anfang an auf der Jagd nach uns war. Er brauchte uns. Du verstehst die Macht eines solchen Amuletts? Wir können ihn nicht angreifen und müssen ihm in allen Dingen gehorsam sein. -191- Sehr bald erfuhren wir, was er vorhatte. Einen Tag später schlug das Volk Karuils einige Meilen von den Ruinen entfernt sein Lager auf. Eine Jagd wurde veranstaltet, und Ysemid überredete seinen Vater, mit ihm zu reiten. Als es dunkel wurde, lagerte die Jagdgesellschaft bei dem Schrein, und Ysemid führte seinen Vater in den Innenhof, unter dem Vorwand, sich mit ihm aussprechen zu wollen. Es hatte viele Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gegeben. Bei den Nomaden war die Autorität eines jeden Vaters absolut und die eines Königs unantastbar. Ysemid sehnte sich danach, wie ein Städter zu leben und mit dem Reichtum des Wüstenvolkes gewinnbringenden Handel zu treiben. Das wollte Karuil nicht erlauben, noch war anzunehmen, daß er seine Meinung je ändern würde. Ysemids Möglichkeiten waren begrenzt. Entweder er floh mit leeren Händen – das Wüstenvolk berauben hieß, das Wild in einer erbarmungslosen Jagd zu sein, an deren Ende auch auf einen Königssohn die Steinigung wartete – oder er gab nach und lebte nach der Art seiner Vorfahren, bis Karuil schließlich starb. Und Karuil zeigte nicht die mindeste Neigung, diese Welt zu verlassen. Er war stark und bei guter Gesundheit und mochte ohne weiteres noch zehn oder mehr Jahre leben. Ihn zu töten war Ysemids einzige Hoffnung, aber damit riskierte er, daß über ihn eine furchtbare Todesstrafe verhängt wurde. Selbst die, die Ysemid folgten, seine Höflinge, hätten einen Vatermord nicht hingenommen.« Bestimmt ahnte Karuil, daß sich ein Weg gefunden hatte, das Recht zu umgehen, oder weshalb sonst hätte er nach Cyrion geschickt? Trotzdem ging er allein mit seinem Sohn in den Innenhof, und dort stach Ysemid auf ihn ein, zweimal um sicherzugehen. Und dort verlangte er von dem Dämon, der ebenso hilflos war wie seine Schwester, in den frischen Leichnam hineinzuschlüpfen. Sie hatten ihn angefleht, sagte die Dämonin, für den geplanten Betrug ein Trugbild erschaffen zu dürfen, statt diese Abscheulichkeit zu begehen. Aber Ysemid -192- wollte davon nichts wissen. Trugbilder, die über einen zu langen Zeitraum aufrechterhalten wurden, konnten schwächer werden, und außerdem war die Gefahr einer zufälligen Entdeckung zu groß. Am Morgen schien es, daß der König sich von seinem Erben hatte erweichen lassen und bereit war, sich seine Sicht der Dinge zu eigen zu machen. Ysemid hatte die Täuschung gut vorbereitet und statt daß sein Volk sich mißtrauisch und überrascht gezeigt hätte, war es nur froh über diesen Sinneswandel, freute sich auf das fette Leben und glaubte, daß weder seine Traditionen sich dadurch ändern noch seine Stärke sich vermindern würde. Wie als Omen für all dieses künftige Glück und Wohlergehen hatte Ysemid ein liebliches Mädchen gefunden, das gleich einer goldenen Rose in den Ruinen des Heiligtums blühte. Bald machte er sie zu seiner Frau. Seit dieser Zeit, vor mehr als einem Monat, wanderte Karuils Volk mehr und mehr in Richtung der Städte. Ysemid paßte sein Gebaren mehr und mehr dem künftigen Leben an. Es wurde von einem Palast in der Nähe von Heshbel geredet. Karuil, der so plötzlich ein alter Mann geworden war, schien sich darein ergeben zu haben. »Und wenn alles so ist, wie er es haben will«, sagte die Dämonin und leckte sich die Lippen, »wird Ysemid meinem Bruder erlauben, einen friedlichen Tod vorzutäuschen und dann vor der Beerdigung zu entfliehen. Obwohl wir den Leichnam mit einem anderen Zauber belegen müssen, damit er nicht augenblicklich zerfällt. Mir wird er den Scheidebrief schicken. Aber bis zu dieser Stunde müssen wir ihm dienen. Mein Bruder tröstet sich mit Süßigkeiten, an denen er in seiner wahren Gestalt ersticken würde. Aber ich, mit der Ysemid jede Nacht lag und die ich nun in ein anderes Zelt geschickt wurde, weil er meiner müde wurde wie einer Sterblichen – ich sehne mich nach dem Geschmack seines Fleisches und seines rauchenden Blutes.« -193- Ein Schweigen folgte. Bis Cyrion fragte: »Das Amulett ist der Saphir in seinem Ohr?« »Ja«, hauchte sie. »Hättest du«, meinte er mit scheinbarer Gleichgültigkeit, »es ihm nicht stehlen können, wenn er neben dir schlief?« »Es würde meine Finger bis auf die Knochen verbrennen. Dennoch, hätte ich die Möglichkeit gehabt, glaubst du, ich hätte sie nicht genutzt? Aber der Stein ist mit drei goldenen Drähten in seinem Ohrläppchen befestigt. Ich hätte ihn abreißen müssen und die Wunde hätte er sofort gespürt. Und hätte ich das Amulett, so würde es doch deshalb nicht seine Wirkung verlieren, und ich wäre so machtlos wie zuvor. Weißt du nichts von den Eigenschaften solcher Talismane?« »Du«, sagte Cyrion, »wirst es mir erklären.« Aber diesmal war es der in Karuils Körper gefangene Dämon, der ihm antwortete. Mit der dürren, geliehenen Stimme sagte er: »Nimmt nicht Ysemids eigene Hand das Juwel ab und gelangt es nicht durch seine Hand in unseren Besitz, bleibt der Schutzzauber unverändert, und wir sind weiterhin seine Sklaven und müssen jedem seiner Befehle gehorchen. Er genießt dies; denn er ist boshaft. Er liebt es, Katz und Maus zu spielen. So ist die verwerfliche Rohheit mancher Menschen.« »Im Gegensatz zu euren eigenen moralisch einwandfreien und heilbringenden Spielchen? Aber nach dem, was ihr sagt, sehe ich keine Möglichkeit, an ihn heranzukommen.« »Du könntest ihn dazu überreden, uns das Juwel zu geben«, beharrte die Dämonin. »Das bezweifle ich. Ysemid ist ein Sohn seines Volkes, trotz seiner Pläne. Ist er ein Sadist, so kennt er sich in dergleichen Sachen aus. Er wird daher jeden Schmerz, den ich ihm zufüge, den Spielen vorziehen, die eure Rasse mit ihm treiben würde. Andererseits, wenn ich seine Taten ans Licht bringe, wird jeder von euch gezwungen sein, seine Lügen zu unterstützen.« -194- »Dieses Volk weiß, daß Zauberei wie die seine und unsere existiert.« »Sie wissen auch, daß ich ein Fremder bin und daß Fremde immer lügen.« Der Dämon Karuil richtete sich auf. »Geh zurück, meine Schwester. Ysemid könnte in dein Zelt kommen und merken, daß du nicht da bist.« Sie stieß einen Laut des Unwillens aus, erhob sich aber, wobei der Schmuck an ihren Kleidern leise klirrte. Es war anzune hmen, daß die Wachtposten sie gehört hatten, wenn sie sie auch nicht sehen konnten. Als das, was sie war, konnte sie eins werden mit der Nacht. »Ich werde zurückgehen. Und du«, sagte sie zu Cyrion, »Engelhaar, mit deinen, kranken, wunderschönen Augen, du solltest besser weglaufen.« Cyrion zog das Krummschwert aus dem Kissen und warf es vor den beiden auf den Boden. »Oh, und vielleicht tue ich das.« Die Morgendämmerung, Spiegelbild des Sonnenuntergangs, strömte von Osten heran, setzte das Wasser der Oase in Flammen und verwandelte Cyrions nicht länger rußgeschwärztes Haar in silbrig schimmerndes Gold, als er bäuchlings in den Sand geschleudert wurde. Einer von Ysemids Höflingen setzte seinen Fuß auf Cyrions Rücken und hielt ihn nieder. Ein anderer erleichterte den niedergeworfenen Mann um seinen Waffengürtel. Noch andere standen dabei und lächelten, ein grimmiges Lächeln, das absolut nichts mit Lustigkeit zu tun hatte. »Dreht ihn auf den Rücken!« Die befehlende Stimme von Ysemid höchstpersönlich. Hände packten Cyrion an silbrigem Haar und schwarz umhüllten Armen und drehten ihn gehorsam -195- herum. Er landete in einer Wolke aus Sand wieder auf dem Boden, und Ysemid sagte: »Jetzt nehmt ihm das Gewand unseres Volkes ab, die Löwenhaut, in der er sich zu verbergen sucht, dieser Schakal. Sucht nach Beweisen für sein Verbrechen.« Schlaff wie eine Puppe und völlig ausdruckslos, ließ Cyrion die wenig sanfte Behandlung über sich ergehen. Nur Minuten und das Nomadengewand war verschwunden, das Seidenhemd auch, und er lag da in den engen Hose und weichen Lederstiefeln der Westländer – ein Anblick, bei dem Ysemids Männer aus alter Gewohnheit in höhnisches Gelächter ausbrachen. »Oh, halb so wild«, sagte Cyrion. »Wenn euer Herr erst in Heshbel lebt, werdet auch ihr -« Und ein Schlag auf dem Kopf brachte ihn zum Schweigen. Außer dem tödlichen kleinen Dolch hatte die Durchsuchung eine verkorkte Phiole zutage gefördert. Diese zeigte Ysemid vor seinen Gefolgsleute und denen herum, die sich, angelockt von dem Lärm, bei Cyrions Zelt versammelt hatten. »Seht ihr? Das gehörte zu seiner Zauberei.« Er beugte sich zu Cyrion hinab. »Welche Wirkung hat es?« Cyrion sah ihn an und Ysemid, dem der Blick nicht behagte, schlug ihn wieder. »Antworte, Hund.« »Das Fläschchen enthält eine Droge.« »Die du benutzen wolltest, um einen Mord zu begehen.« »Die ich brauche, um Schmerzen zu betäuben.« »Ah, ja. Diese Schmerzen im Kopf und die Blindheit, von der befallen zu sein du vorgibst. Teufel.« Ysemid versetzte Cyrion einen noch härteren Schlag, und Cyrion schloß wie gelangweilt die Augen. Ysemid sprang auf. Wieder hielt er das Fläschchen in die -196- Höhe. In der anderen Hand hielt er noch einen Gegenstand. Langsam drehte er sich um die eigene Achse und das Schweigen, das sich herniedersenkte, war so hart wie der Sand. »Seht ihr?« fragte Ysemid das Volk. »Eine kleine Figur aus Holz und hier eingeritzt der Name meines Vaters, des Vaters. Wir wissen, wofür diese Figuren benutzt werden. Dieser Unrat des Erzfeindes, dieser Auswurf des Teufels, kam zu uns mit Worten der Freundschaft, um Karuil zu töten, unseren König. Und hätte ich nicht dies in seinem Zelt gefunden, vielleicht wäre Karuil gestorben, und wir wären allein gewesen, vaterlos.« Dann, und erst dann kam das. leise, weiche Grollen. Cyrion verschwendete keinen Blick dafür. Wahrscheinlich wußte er, wie sie jetzt aussahen, Brüder der Löwen aus schwarzem Feuer. Es war nicht der beste Plan, aber wirksam. Cyrion war der Fremde und also verdächtig. Außerdem, hier nahte der endgültige Beweis. Der Name wurde gemurmelt: Karuil, Karuil. Dann senkte sich wieder das tödliche Schweigen herab. Und durch das Schweigen schnitt Karuil-Ysems klare Stimme wie ein Messer. »Ich habe einer Schlange vertraut und wäre beinahe an ihrem Gift gestorben. Mein Sohn hat mir das Leben gerettet. Nehmt diese Viper und tötet sie, wie unser Gesetz es befiehlt.« Und abschließend, so echt, als wäre er noch am Leben gewesen: »Ich befehle es.« Cyrion lachte leise. Diesmal brachte der Schlag, mit dem sie ihn belohnten, erlösende Dunkelheit. Die Nacht der Besinnungslosigkeit mündete in einen schmerzerfüllten Sonnenaufgang. Und das Licht kannte keine Gnade. Es war Brauch bei den Nomaden, einen Verurteilten einen Tag lang in der Mitte des Lagers festzubinden, um ihn in der Abenddämmerung aus Gründen der Reinlichkeit eine Viertelmeile weit fortzuschaffen und ihm einen Tod zu geben, -197- den er oft inzwischen schon herbeisehnte. Cyrion hing halb besinnungslos in den Stricken, mit denen sie ihn an einem Pfahl gefesselt hatten. Die Zelte, die kühlen Schattentupfen unter den Palmen, das glitzernde Wasser, so blau wie ein Tropfen Himmel, all das gehörte zu einer anderen Welt. Seine Welt war ein Fleckchen weißglühender Sand und oben ein Stück Himmel, an dem die Sonne pulsierte wie ein feuriges, sterbendes Herz. Hin und wieder fiel ein Schatten über ihn, Erfrischung, die sich schnell wieder ins Gegenteil verkehrte. Ein Stein wurde geworfen – das Blut trocknete rasch in der Hitze – jemand rief, eine Nadel kratzte über seine Haut, eine andere wurde unter einen Nagel seiner beringten linken Hand geschoben – sie waren zu stolz, um ihn zu bestehlen – ein Hagel von Tritten und Schlägen, Sand, der in seine Augen geworfen oder zwischen seine Lippen gerieben wurde. Die Nomaden, die in einem grausamen Land lebten, beherrschten die Kunst der Folter vollkommen. Daß es ihm nicht schlimmer erging, verdankte Cyrion einzig der Tatsache, daß er seinen Tod bei vollem Bewußtsein genießen sollte. So viel wußte er. Tatsächlich erriet er jede Grausamkeit, bevor sie begangen wurde. Einige konnte er voraussehen, die ihm noch bevorstanden Der dünne Rand des Bechers, der durch den erstickenden, pulsierenden Dunstschleier an seine Lippen gehalten wurde, das allein überraschte ihn. »Trink«, sagte eine Frau dicht an seinem Ohr. »Schnell, ehe sie merken, was ich tue.« Cyrion verschwendete keine Zeit mit Fragen. Er trank das Wasser, das sie klug genug gewesen war, vorher anzuwärmen. Dann öffnete er seine Augen, richtete sich ein wenig auf und blickte durch die langen, langen, sandverklebten Wimpern auf sie herab. Dicht verschleiert stand die Dämonin vor ihm. »Ich danke dir«, sagte er. »Und nun? Wirst du mich aus -198- mitleidvollem Herzen befreien?« »Täte ich das, würde er auch mich töten. Er hat dich da, wo er dich haben wollte. Narr!« »Warum dann«, murmelte Cyrion, »das Wasser verschwenden?« »O herrliche Blume«, verhöhnte sie ihn, »um zu sehen wie du wächst und deine Fesseln sprengst.« Cyrions Lippen verzogen sich ein wenig, und sie sagte: »Du hast Macht. Deine Haut ist hell, verbrennt aber nicht -« »Nein. Ich kenne genug von den Künsten der Nomaden, um mir diese Unannehmlichkeit zu ersparen.« »Die Macht des Willens.« Sie flüsterte: »Befreie dich. Töte Ysemid.« »Um augenblicklich von seinen liebenden Anhängern getötet zu werden? Da kann ich auch bis zum Abend warten.« »Hund von einem Feigling.« »Überwältigend schöne -«, Cyrion holte Atem – »atemberaubend herrliche – Trinkerin von -« »Ich werde dich verfluchen«, unterbrach sie ihn. »Wir werden dein Grab finden und es entehren.« »Wie furchtbar.« »Stirb also«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. »Nur eins«, bemerkte er, und sie blieb stehen. »Wird dein Bruder, der König Karuil- Ysem, bei meinem Tod dabeisein?« »Er muß. Das ist das Gesetz. Du weißt das.« »Dann«, seufzte Cyrion und sank wieder in sich zusammen, »folge ihm…« Sofort war sie hellwach. Sie packte seinen Arm und drückte ihre Krallen in die nackte, makellose Haut. »Warum? Was hast du vor?« »Um Gottes unerforschlichen Willen«, flüsterte Cyrion, -199- »kratze oder schlag mich. Fünf Männer beobachten dich.« Sie knurrte vor Wut. »Wenigstens werde ich dich in deinem Blut sterben sehen, wenn ich auch nicht trinken kann. Das wird meinen Hunger lindern.« Ihr Zorn vergrößerte sich noch, als er nicht einmal zuckte, als sie ihm die Brust zerkratzte. Dann, den Glasbecher in ihren Kleidern verborgen, lief sie davon. Als der erste kühle Luftzug dem brennendroten Abendhimmel trotzte, hob der gefesselte Mann nur einmal den Blick und senkte dann wieder den Kopf. Die Kühle war eine Gnade und gleichzeitig das Läuten der Glocke, die seinen Tod ankündigte. Mit dem Schatten kamen seine Henker. Ohne ihm die Fesseln abzunehmen, machten sie ihn von dem Pfahl los und zerrten ihn hinter sich her aus dem Lager. Die Augen der Frauen, die vorher bei seinem Anblick weich geworden waren, waren jetzt so hart wie die Steine, die sie nach ihm geworfen hatten. Obwohl es ihnen erlaubt war, ihn zu foltern, durften sie nicht zusehen, wie er starb. Aber sie beklagten sich nicht. Bestimmt konnten sie sich vorstellen, wie es sein würde. Ein Ende, wie der Brauch es vorschrieb, und das würde ziemlich widerwärtig sein. Die meisten Männer verließen das Lager. Sie wirkten wie eine Schafherde, die ihrem Hirten folgte. Karuil-Ysem ritt auf seinem Pferd, Ysemid ging neben ihm her, ein stolzer Sohn, der seinen Vater vor einem heimtückischen Mörder gerettet hatte. Die ersten Sterne erschienen an dem roten Himmel, als sie den vorhergesehenen Ort erreichten. Obwohl er sich in nichts von seiner Umgebung unterschied, einfach nur Sand unter einem Sonnenuntergang. Die Männer bildeten einen großen Kreis, in dessen Mitte Cyrion geführt wurde. Den größten Teil des Wegs ging er aufrecht. Manc hmal stürzte er, dann halfen ihm Fäuste und Stiefel seiner Bewacher wieder auf die Beine. Sie hatten auch -200- den Pfahl mitgebracht, rammten ihn in den Sand und banden Cyrion wieder daran fest. Karuil saß auf seinem Pferd und schaute zu. Wind kam auf. Die Sonne war fast verschwunden und bald würde es dunkel sein. Und dann für immer Nacht. Aber noch nicht jetzt gleich. Ysemid gab einen Befehl, und es wurden Fackeln angezündet und am Rand des Kreises in den Boden gesteckt. Schließlich wollten sie sehen, was als nächstes geschah, und das Licht war ausgezeichnet. Ysemid kam heran. Er betrachtete Cyrions gesenkten Kopf und den wie gemeißelt wirkenden Oberkörper, dessen goldene Haut trotz aller Willenskraft jetzt doch einen Anflug von Sonnenbrand zeigte. »Nun«, sagte Ysemid. Seine Stimme war leise, nur für Cyrion bestimmt. »Ich nehme an, daß du mich hörst, mein Schmusekätzchen.« »Ich«, erwiderte Cyrion, »höre dich.« »Gut, mein Kätzchen. Gut.« »Hast du nie die Geschichte gehört«, sagte Cyrion – seine eigene Stimme war brüchig, aber verständlich, fesselnd; Ysemid lauschte aufmerksam – »die Geschichte von dem Luchs, der sich in der Gesellschaft von Löwen wiederfand.« »Wirst du sie mir erzählen, kleiner Luchs?« »Sie ist nur kurz. Es scheint, daß der Luchs den Löwen erklärte, er sei ein seltenes und schmackhaftes Tier und nur der Beste von ihnen hätte es verdient, ihn zu verspeisen. Woraufhin die Löwen darüber in Streit gerieten, wer von ihnen denn der Beste sei, erst mit Worten und dann mit Zähnen und Klauen. Da sie alle mutig und stark waren, blieb keiner von ihnen am Leben. Die Moral der Geschichte ist, daß der Luchs nicht verspeist wurde.« -201- »Aber die Moral deiner Geschichte ist, daß wir uns nicht deinetwegen streiten, sondern dich ganz einfach töten werden.« Ysemid drängte sich noch näher heran. Der Saphir in seinem Ohrläppchen funkelte. »Siehst du, du legendärer Schwertkämpfer?« sagte Ysemid. »Mach die Augen auf, und sieh mich an. Ich kann mich erinnern, daß mein Vater von dir erzählte, nicht oft, aber eindrucksvoll. Schau her und sieh, wie gut wir zusammenpassen, jetzt.« Ungeduldig faßte Ysemid Cyrion am Kinn und hob seinen Kopf hoch. Irgend etwas stimmte nicht, Ysemid merkte es sofort. Das Gesicht drückte nicht so viel Verzweiflung aus, wie er erwartet hatte, und die Augen – was war mit den Augen? »Sieh mich an«, wiederholte Ysemid. »Ich bedaure«, sagte Cyrion. »Ich kann nicht.« Ysemid starrte ihn an. Dann fluchte er, voll ungläubiger Freude. »Dann ist es also wahr. Diese Krankheit der Augen. Du hast sie jetzt.« »Ich habe sie jetzt.« »Und wie lange wird der Anfall dauern?« »Eine Stunde, vielleicht ein wenig länger.« »Dann stirbst du vielleicht blind.« »Ich kann mir nicht denken, daß das etwas ausmacht. Und solltest du jemals Nachforschungen über diese Krankheit anstellen, wirst du herausfinden, daß man sich bei diesen Kopfschmerzen oft den Tod wünscht. Du wirst mir einen Gefallen tun.« »Es gäbe da noch einen Gefallen«, meinte Ysemid. Hätte Cyrion ihn sehen können, wäre ihm die strahlende Freude aufgefa llen, die den Prinzen beinahe greifbar umgab. Das grausame und eigentlich vorhersehbare Spiel, das da in seinem Kopf Gestalt annahm, war unwiderstehlich. »Man hat mir von -202- deinen Fähigkeiten als Schwertkämpfer erzählt. Immer und immer wieder. Und der Kundschafter hat mir zugetragen, was du sagtest, als du ins Lager geführt wurdest. Wie sagtest du noch? Es könnte sich als schwierig herausstellen, gegen einen Mann zu kämpfen, den ich nicht sehen kann.« Tonlos sagte Cyrion: »Bei der Ehre deines eigenen Volkes, was immer du mit mir tun willst, erspare mir das.« »Mein Volk, Katze-Luchs-Schakal. Meines. Nicht deines. Und mein Vater, nicht dein Vater. Und mein Wille, nicht deiner.« Ysemid straffte sich. »Ich werde ihnen sagen, du hättest geprahlt, ungefesselt und bewaffnet könntest du mich töten. Ich werde ihnen sagen, daß ich diese Herausforderung annehmen muß. Meine Ehre steht auf dem Spiel, und ich muß dich demütigen, bevor du auf die althergebrachte Art getötet wirst. Sie werden mir zustimmen und dann sehen, wie ich dich in die Schranken weise, während du wie ein Blinder hin und her stolperst.« »Jeder Mann in diesem Kreis ist nahe genug, um zu erkennen, daß ich aus ebendiesen Grund nicht kämpfen kann.« »Dann werde ich sie weiter wegschicken. Ich werde sagen, daß du eine Hinterlist befürchtest. Daß ich dich allein und ohne List schlagen kann.« Hastig sagte Cyrion: »Und Karuil-Ysem auch. Er soll so weit zurückgehen wie die anderen auch.« Ysemid runzelte die Stirn. Er musterte Cyrions ausdrucksloses Gesicht, den hassenswerten Glanz, der selbst jetzt noch wie eine Maske über den Zügen lag, die suchenden, hoffnungslosen Augen. »Warum? Was hast du dir ausgedacht? Da ist doch ein Trick - « Ysemid nickte. »Nein. Der alte Mann soll näher kommen und zuschauen. Aber nur er. Du wirst merken, daß er nic ht versuchen wird, dir zu helfen. Oder weißt du das und fürchtest etwas anderes? Du brauchst nur Ysemid zu fürchten. Armer -203- kranker Meister des Schwertes.« Ysemid drehte sich um, entfernte sich ein Stück und rief seinen Stammesgenossen zu, was er sich ausgedacht hatte. Cyrion hörte seine Stimme und die zögernden Antworten, die aber bald in allgemeine Zustimmung mündeten. Es folgten die Geräusche, wenn auch nicht die Bilder, die verrieten, daß der Ring sich ausweitete. Als die Geräusche verstummten, konnte man abschätzen, wie weit die Zuschauer sich zurückgezogen hatten. Wenn jemand aus dem Kreis das Verlangen verspürt haben sollte, dem Mann in der Mitte zu Hilfe zu kommen, hätte er ihn kaum rechtzeitig erreicht. Aber wer wollte das schon? Nur Karuil war vom Pferd gestiegen und kam näher, wobei er sich auf die Schulter eines Knaben stützte. Karuil, der Dämon. Ein Messer zerschnitt die Seile, und ohne ihren Halt stolperte Cyrion nach vorn. Mit einem Fluch fing Ysemid ihn auf und stieß ihn dann wieder von sich. Etwas wurde in Cyrions rechte Hand geschoben. Es war ihm vertraut – ein kreuzförmiges Schwert aus dem Westen. Als Cyrion es hob, zum ersten Mal unbeholfen, seit er gelernt hatte, damit umzugehen, griff Ysemid ihn an. Träge, tänzelnd, äffte er Cyrions Ungeschicklichkeit nach. Das Knirschen des Sandes unter seinen Füßen war auch für einen Blinden Hinweis genug – Cyrion wich aus. Sein Arm flog in die Höhe, in plumper Abwehr glitt sein Schwert an der feindlichen Klinge entlang. Die heftige Bewegung brachte ihn aus dem Gleichgewicht und wie ein Betrunkener torkelte er zur Seite. Mit der freien Hand tastete er in der dunklen, von Fackelschein erhellten Luft nach einem Halt. Diesmal kam Ysemid schneller auf ihn zu. Seine Schritte auf dem Sand verursachten nur ein kaum hörbares, reibendes Geräusch. Cyrion horchte auf und sprang zurück, wobei er beinahe stürzte. Ysemids übermütiges Schwert sah sich um Haaresbreite um sein Opfer betrogen. Während Cyrion immer weiter zurückwich und dabei den Kopf von einer Seite zu -204- anderen drehte, um jedes Geräusch des Sandes aufzufangen, der sein einziger Verbündeter war, begann Ysemid darin herumzustampfen und zu trampeln und amüsierte sich lautlos über Cyrions ratlose Verzweiflung. Plötzlich warf Cyrion sich gegen ihn. Ysemid tat fein säuberlich einen Schritt zur Seite und vollführte dann, wütend über diese Kühnheit, einen Schlag, der Cyrions linke Seite treffen sollte. Der Hieb hätte sein Ziel getroffen. Nur Cyrions Unbeho lfenheit rettete ihn, denn er fiel der Länge nach hin, bevor die Klinge ihn erreichte. Als er sich aufzurichten versuchte, hätte er beinahe in den gekrümmten Stahl gegriffen, der seine Hand bis auf die Knochen zerschnitten hätte. Ein glücklicher Zufall bewahrte ihn auch davor, ein Sandhügel, der unter ihm nachgab, als das Schwert des Nomaden über ihn hinwegglitt. Jetzt amüsierte er sich nicht mehr lautlos. Cyrion merkte, daß er Platz hatte, um aufzustehen, schien seinem Glück nicht zu trauen und sprang auf die Füße. Ysemid sah ihn an, das blonde, weit offene, verzweifelte Gesicht, das alles aus der Nacht herauszulesen versuchte, was nutzlose Augen ihm verweigerten. Ysemids Ekstase war unübersehbar. Er machte einen Ausfall, verfehlte absichtlich die hilflose Gestalt vor sich, sein Krummschwert wurde zu einem Kreisel aus Fackellicht und singendem Metall. Es sah lächerlich aus, wie Cyrion sich ohne Grund zusammenduckte. Irgend etwas in Ysemid sprudelte über. Mit einem Schrei reinster, unbeherrschter Bösartigkeit, warf Karuils Erbe sich nach vorn und schle uderte Cyrion noch einmal zu Boden. Auch die Katze wird der Maus schließlich das Rückgrat zermalmen. Ysemid beugte sich über Cyrion, packte ihn mit der linken Hand bei den Haaren und faßte mit der rechten das Schwert kürzer für den ersten Schritt in der Vollstreckung des Todesurteils: Kastration. Irgendwo in dem Wirbel aus Sand zwischen den beiden -205- Männern flammten zwei Feuer auf, zwei Sterne, Augen wie brennendes Eis. Und ein beinahe ebenso grelles Schwert schob sich aus dem Sand. Ein Schwert aus Feuer, und es brannte. Ysemid bemerkte, daß er die Entmannung nicht ausgeführt hatte. In verwirrtem Nichtbegreifen schaute er nach unten, um den Grund dafür herauszufinden. Und sah seine eigene Hand verloren und blutend unter der Schneide von Cyrions Schwert liegen. Noch bevor der Schrei sich einen Weg aus Ysemids Kehle bahnen konnte, rammte eine ringgeschmückte Faust gegen sein Kinn. In Ysemids Zunge trafen seine Zähne mit der Gewalt einer zuschnappenden Falle aufeinander. Er sank vornüber in eine tosende, lohfarbene Dunkelheit. Der nächste Schmerz begann in weiter Feme, dieser furchtbare Schmerz in seinem Ohrläppchen Cyrion, der Ysemids abgeschlagene Hand aufgehoben hatte, bog die Finger wie eine Zange um den Saphir und riß das Amulett los. Mit einer raschen Drehung, wobei ihm die Golddrähte, die den Stein in Ysemids Ohr gehalten hatten, zupaß kamen, befestigte er das Juwel an den ausgeborgten Fingern. Das alles hatte nur Sekunden gedauert. Jetzt erhob Cyrion sich mühelos und schleuderte Hand samt Juwel vor Karuil-Ysem auf den Boden. Dieser bückte sich langsam danach und erstarrte. Von allen Seiten stürzten die Männer des Volkes herbei. Ihr Geheul und das Sirren ihrer Schwerter erfüllte die Nacht. Cyrion, dessen Stimme brüchig und erschöpft klang, schrie Karuil an: »Abgenommen von seiner eigenen Hand und euch gegeben von seiner eigenen Hand. Heb es auf, verdammt noch mal, und benutze es.« Aber es war der Knabe, auf den Karuil sich gestützt hatte, der sich bückte und die Hand aufhob. Als der Junge sich wieder aufrichtete, schlängelte sich goldenes Haar unter seiner Kapuze hervor. Das Gesicht ungeschminkt, in gestohlener oder durch -206- Magie vorgetäuschter Männerkleidung, hob die Dämonin das tote Fleisch an ihre Lippen und hielt dann inne. »Also bist du nicht blind«, sagte sie zu Gyrion. »Nein. Allerdings werde ich in wenigen Augenblick tot sein.« »Und wir sollen dich retten, indem wir jetzt und hier die Wahrheit enthüllen?« Cyrion hob die Schultern. Seine Augen waren klar und ruhig. »Sklavenehre. Wenn ihr so freundlich sein möchtet.« »Für deine Schönheit dann«, sagte sie. Und neben ihr öffnete Karuil- Ysem den Mund zu einem furchterregenden Gähnen. Die vordersten der Nomaden waren nur noch ein paar Schritte entfernt, als sie plötzlich stehenblieben. Über dem Gebrüll und dem Schrei nach Vergeltung schien ein dünner, hoher Ton zu schweben, und dann erstarb jedes Geräusch. Sie standen in der Haltung derer, die Bescheid wußten über die Dinge der Nacht, sie respektierten und verabscheuten. Keine Furcht stand in ihren Augen, nur der Ekel, der mit dem Wissen kommt. Karuil- Ysem, der Vater seines Volkes, riß langsam in zwei Teile, wie sein Gewand unter Cyrions suchendem Messer zerrissen war. Jetzt zerplatzten Haut und Sehnen, und der Stoff des Umhangs glitt unbeschädigt von dem zerfallenden Körper. Es floß kein Blut. Etwas bewegte sich in dem geborstenen Leichnam, ein schmerzliches Stöhnen erklang, und dann wurde die Puppenhülle des Todes endgültig abgestreift. Ein nackter, schöner Mann, der sogar noch jünger wirkte als Cyrion, neigte sich bis fast zum Boden. Er hatte die Arme um den Leib geschlungen und sein Haar, das so schwarz war wie der nächtliche Himmel, umgab ihn wie ein Wasserfall. Cyrion sprach zu Karuil- Ysems Volk, während die Dämonin ihren Bruder umarmte und die leblose Hand ihres Peinigers in diese Umarmung mit einbezog, so daß sie beide das Funkeln des Edelsteins sehen und das warme Blut riechen konnten. Die Geschichte, die Cyrion jetzt erzählte, wurde geglaubt, und als er -207- fertig war, standen die Männer statuengleich um ihn herum, mieden die Dämone n mit Augen und Worten und warteten nur auf das, was noch gesagt werden mußte. Auch Cyrion hatte gewartet, auf die Bewegungen hinter ihm auf dem Boden und die leisen, wimmernden Laute, die verkündeten, daß Ysemid wieder zu Bewußtsein kam. »Er machte Dämone n zu seinen Sklave«, sagte Cyrion. »Wir kennen ihre Bräuche. Vielleicht ist dieser Tod dem Vatermord, den er begangen hat, noch angemessener als das, was ihr mit ihm tun würdet. Überlaßt ihn den Dämonen.« Die Antwort wurde nicht in Worte gefaßt. Aber nach und nach wandten sie sich ab, selbst die, die ihn geliebt hatten; einer nach dem anderen gingen sie davon und nahmen die Fackeln mit sich. Den Leichnam des Königs ließen sie zurück. Sie hatten keine andere Wahl. Er war eins geworden mit dem Staub. Cyrion hörte die Dämonen wispern, über das Juwel, die Hand und das Fest dieser Nacht. Auch er hatte sich abgewandt. Er hob das Gewand Karuil- Ysems vom Boden auf und klopfte mit ruhigen, gelassenen Bewegungen das geruchlose Pulver ab, das einmal ein Mensch gewesen war. Schließlich legte Cyrion den Umhang an und zog ihn unter dem roten Gürtel zusammen, in dem sein Schwert jetzt wieder steckte. Derweil schien er nicht auf das schluchzende Stöhnen und Flehen zu hören, auf das schrille, ansteigende Winseln unermeßlichen Grauens, noch auf das gellende Kreischen des Verdammten. Unter den kalten, mitleidlosen Sternen wanderte Cyrion davon. Er war eine Meile entfernt, als das Kreischen verstummte. Was auf keinen Fall bedeutete, daß der Tod schon eingetreten war. Später ging der junge Mond auf, und sein Licht schien immer und immer wieder die Worte von Karuil- Ysems letzter -208- Botschaft in den Sand zu schreiben. Cyrions klare Augen, die nie von irgendeiner Krankheit getrübt gewesen waren, folgten diesen Trugbildern des Mondes, suc hten sie, lasen sie ein über das andere Mal. Das hatte Karuil geschrieben: Dies kommt zu dir durch die Hand eines anderen Volkes als des meinen oder des deinen, doch der Mann ist mein Bote. Gedenkst du noch meiner, dann lies. Ein Leiden hat mich befallen, das kein Leiden des Alters ist. Ich bin das Opfer eines höllischen Spuks, der mir bei jedem Anfall für eine Stunde das Augenlicht nimmt und dann einen langandauernden und peinige nden Schmerz bewirkt, der sich über eine Kopfseite erstreckt. Meine Fähigkeiten bleiben unbeeinflußt, und ich lasse mir nichts von dieser Krankheit anmerken, aber ich glaube, daß jemand mich quält, durch eine Puppe oder ähnliches Hexenwerk. Und ich glaube, daß jener mir ein Siechtum bereiten will, das ich nicht kenne und für das keine Ursache und auch keine Heilung gibt, es sei denn, du findest sie und bringst sie mir. Denn fürwahr, ich ahne, wer mein Feind ist. Seine plötzliche Sorge um meine Gesundheit und, wenn es stimmt, daß er auf mich einwirkt, auch die Ziellosigkeit seine Versuche haben mich zum Nachdenken gebracht; denn es scheint, daß er meine Beschwerden erwartet, ohne zu wissen, wie sie sich äußern werden. Ich habe einen Plan, um mir Gewißheit zu verschaffen und ihn zu überführen. Wenn du dich meiner erinnerst, wirst du dic h auch an das Saphiramulett erinnern, das ich immer unter dem Umhang um den Hals trug und das solche Macht über Dämonen und ähnliche Erscheinungen hatte. Du wußtest von diesem Talisman, du und noch jemand, eine Lieblingsfrau, die bereits tot ist, aber ihr Wissen weitergegeben haben muß. Ich habe vor, diesen Talisman zu verlieren, und zwar so, daß er ihn finden muß; denn nur er weiß, wie er damit die Dämonen auf mich hetzen kann. Nur er. Ich bezweifle, ob er ihn in der Öffentlichkeit herzeigen -209- wird, solange ich lebe, aber sollte er einen Weg finden, mich zu töten oder zu binden, wird er sich damit brüsten, als geheimer Scherz. So wirst du Bescheid wissen. Dies eine aber sage ich dir: Wenn er es ist, der mich so haßt, dann werde ich voller Bitterkeit mein Leben in seine Hände legen und auf Gottes Gnade vertrauen. Aber sollte es denn so sein, und du bist immer noch im Herzen, wenn auch nicht im Blute, mein Sohn – RÄCHE MICH! Siebentes Zwischenspiel »Eine gespenstische Erzählung«, sagte Roilant schließlich. »Aber sie entbehrt nicht der Gerechtigkeit.« »Ihr werdet natürlich schwören, daß sie wahr ist.« »Ich weiß nicht, ob sie wahr ist.« »Und was ist mit Cyrions Verbindung zu den Nomaden?« »Die Geschichte geht nicht näher darauf ein.« »Leider nicht.« Verdrießlich stand Roilant auf. Der alte Bettler, Esurs Vater, blieb sitzen und betrachtete die zwei Goldmünzen, die er angeblich nicht sehen konnte. Das Schnarchen des schnauzbärtigen Soldaten war wieder abgeflaut, nachdem es ausgerechnet während des spannendsten Teils der Geschichte einen neuen Höhepunkt erreicht hatte. Etwas in seiner Haltung vermittelte den Eindruck, daß seine Beine viel länger waren, als in Wirklichkeit. Vielleicht war das etwas, was er auch in betrunkenem Zustand unterbewußt vorzutäuschen verstand. So waren die Menschen; immer versuchten sie andere zu betrügen oder auch sich selbst. Erbittert rief der junge Edelmann sich zur Ordnung. Dieses sinnlose Philosophieren war ein Beweis dafür, daß für ihn das Leben im Moment tintenschwarz aussah. -210- Unter Zurücklassung einer weiteren Goldmünze (schon bald würde Roilant ohnehin nichts mehr mit seinem Vermögen anfangen können, warum also mit einer Münze knausern?) ging der dickliche junge Mann zum Vorhang. Als er draußen den Wirt entdeckte, der einen murrenden Sklaven beim Polieren der Quirristatue beaufsichtigte, beglich Roilant seine Rechnung. »Sollte Cyrion morgen hier herkommen«, meinte Roilant, »richtet ihm aus, er möge sich zum Teufel scheren.« »Ich bezweifle, daß ich ihm das sagen werde oder daß er Euch den Gefallen tut«, erwiderte der Wirt und steckte mit einer Verbeugung das Geld ein. Roilant ging die drei Stufen hinauf – natürlich stolperte er wieder, aber mit weniger dramatischen Folgen als beim erstenmal – und trat aus der Tür. Die Straße lag dösend in der Nachmittagshitze. Über einigen Türen und Fenstern in den weißgelben Mauern spendeten Markisen wohltuenden Schatten, und nicht eine Franse oder Quaste bewegte sich. Aus einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite ertönte das schwermütige Spiel einer Leier, und in einem nahe gelegenen Garten schrie ein Pfau. In der Ferne drängte sich ein Gewirr von Häusern um den Fuß der Burg von Heruzala, wo Malbans blaugoldene Banner so leblos wie welke Blumen vor dem wolkenlosen Himmel hingen. Nirgendwo ein Lüftchen und alles, womit man noch rechnen konnte, war der heiße Wind der Wüste, der in einigen Stunden durch die Stadt fegen würde. Während in Cassiereia jetzt erfrischende Kühle vom Meer her über die bewaldeten Hügel zog… Roilant versank in Erinnerungen an die Landschaft, die er nur dreimal in seinem Leben gesehen und die doch in den letzten Wochen eine so verhängnisvolle Bedeutung für ihn angeno mmen hatte. Die geschwungene Linie der Obstbäume, durchsetzt mit den dunklen Wipfeln der Zypressen. Dann die -211- zerfa llene Außenmauer einer remusischen Festung, von der sonst nichts übriggeblieben war bis auf das wiederaufgebaute Badehaus im Innenhof. Hinter der Mauer dann der grüne Hügel und das Haus. Es war im Stil des Ostens erbaut. Wenn sich die Torflügel öffneten, betrat man den mit Malereien ausgeschmückten äußeren Hof, wo schlanke Säulen und zehn mächtige Palmen sich in einem schmalen Bächlein spiegelten. Dahinter wiederum, als Zeichen dafür, wie viele Völker – vergangene und junge – sich in diesem Lande vermischt hatten, erhob sich am Rande der Klippen der viereckige Turm, die aus Stein erbaute Verteidigungsanlage der Westländer. Und dahinter erstreckte sich das Meer. Aber die Klippen waren gefährlich – Valia hatte das erfahren müssen. Und der Turm zerfiel. Und Ziegel bröckelten wie Regentropfen von den Hausmauern, und das Wasser war sumpfig »Hat Euch der Wein geschmeckt?« Roilant zuckte zusammen, sein Herz setzte einen Schlag aus. Eine hochgewachsene, schlanke Gestalt war aus dem baumbestandenen Weg weiter vorne aufgetaucht und lehnte sich jetzt an einer Hausmauer auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Wein?« »Der Wein in der schwarzen Flasche, den ich Euch bezahlt habe. Wollt Ihr etwa sagen, daß dieser Bengel doch mit dem Geld durchgebrannt ist? Es scheint, daß die Soldaten des Königs verlernt haben, wie man kleine Kinder erschreckt.« Roilant hatte sich erholt und erkannte jetzt seinen früheren Tischnachbarn, den blonden Soldaten Foy, der so überzeugend den Betrunkenen gespielt hatte. »Ihr habt mir den Wein bringen lassen? Ja, ich habe ihn bekommen. Vielen Dank«, sagte er vorsichtig. Foy lächelte. »Wir haben den übelriechenden Unruhestifter auf frischer Tat -212- ertappt und ihn in sicheren Gewahrsam gebracht, obwohl er sich wand wie ein Aal. Ich war der Ansicht, daß ich Euch etwas schuldete. Schnauzbart war bei der ganzen Sache keine Hilfe, wie immer, und schläft jetzt seinen Rausch aus. Offiziell befragt er Zeugen.« »Und Ihr seid«, fragte Roilant, »ein Soldat?« »Ich? Was sonst?« »Damit«, seufzte Roilant, »ist meine letzte Hoffnung dahin. Ich hatte gehofft, Cyrion hätte den Wein geschickt.« Roilant ergab sich mit einem Kopfnicken dem unfreundlichen Geist, von dem er sich verfolgt fühlte. »Euer Freund schläft übrigens im Honiggarten.« »Tatsächlich?« Foy wirkte belustigt. »Hatte wohl noch nicht genug, das kriegerische Bürschchen. Als ich ihn verließ, lag er unter der Markise des Süßwarenhändlers in der Süßen Straße. Und er vertraute mir ein schreckliches Geheimnis an, bevor er entschlummerte.« Foy grinste. »Der verabscheuungswürdige Barbier hatte ihm den halben Schnurrbart abrasiert. Schnauzbart, dem armen Wicht, blieb nicht anderes übrig, als sich von der zweiten Hälfte auch zu trennen. Dann zwang er den Barbier, ihm beide Hälften wieder anzukleben. Ich sah den Beweis mit meinen eigenen Augen, da Schnauzbart das Ding abriß und damit herumwedelte, um den Süßwarenhändler und seine gesamte Sippschaft in Angst und Schrecken zu versetzen.« Roilant bezeigte höfliches Erstaunen. Dabei scherte er sich keinen Deut um Schnauzbarts Gesichtszier, ob nun abgeschnitten, angeklebt, abgerissen oder wieder angeklebt. Roilant dankte Foy noch einmal für den Wein und ging weiter die Straße entlang. Als er in den von Mauern gesäumten Weg am Ende der Straße einbog, beschleunigte Roilant seinen Schritt. Zwar war auf das Gesetz, bei Tage und in den besseren Vierteln Heruzalas, einigermaßen Verlaß, aber mit Dieben mußte man immer -213- rechnen. Roilant, der um seinen baldigen Tod wußte, fand seine unwillkürliche Vorsicht lachhaft. Hatte er sich nicht in letzter Zeit angewöhnt, ohne Leibwächter und in seinen prächtigsten Gewändern auszugehen? Denn wenn ihm jemand einen Dolch zwischen den Rippen stach, was machte es aus? Genaugeno mmen, würde es eine gewisse Genugtuung bedeuten, auf diese Art zu sterben und damit Die Schritte hinter ihm waren sehr bestimmt, als sollten sie gehört werden. Es konnte ein Zufall sein oder auch nicht. Er hatte die Wahl, entweder wegzulaufen oder sich umzudrehen und sich dem zu stellen, der ihm folgte. Der Weg war noch lang. Und wenn er mit dem modischen Dolch, den er trug, auch nicht umgehen konnte, konnte Roilant ihn immer noch zur Hand nehmen und damit drohen. Resigniert drehte er sich um. Und trotz aller Resignation, aller Schicksalsschläge und vergeblichen Hoffnungen, seufzte er erleichtert auf. Was ihm da auf dem schmalen Weg zwischen den Mauern entgegenkam, war niemand anders als der zu kurz geratene Soldat. Abzüglich seines Schnurrbarts. Fasziniert von dieser Veränderung, konnte Roilant den Blick nicht von dem breiten, feingezeichneten Mund lösen, den der Haarvorhang verborgen hatte. Erst als der Soldat nur noch zwei Meter von ihm entfernt war, bemerkte Roilant, daß noch etwas sich verändert hatte. Der so außerordentlich kleine Schnauzbart war jetzt etliche Zentimeter größer als Roilant selbst. Roilant gab ein fragendes Geräusch von sich, das man unglücklicherweise auch als Hustenanfall interpretieren konnte. Trotzdem blieb der Soldat stehen, lächelte engelsgleich und nahm mit einer schmalen beweglichen linken Hand, an deren Fingern mindestens sieben Ringe funkelten, die leichte Stahlkappe vom Kopf. Das Haar war unverkennbar. Mehr als nur einfach blond, war -214- es beinahe weiß, weißer Satin mit goldenen Fäden durchwoben. Jetzt, ohne die Kappe, reichte es bis auf seine Schultern und überstrahlte ein Kettenhemd von weit besserer Qualität als das des glücklosen Schnauzbarts. In dem Rahmen der überirdischen Haare ein überirdisches Gesicht, einschüchternd, unverwechselbar; denn welcher andere hätte so aussehen können? Einer der gefallenen Engel Lucefaels, hatte der Baumeister in seiner Geschichte gesagt. Einwandfrei die einzig passende Beschreibung. Die Augen waren groß, klar, wunderschön und erinnerten in der Farbe an den Stahl aus Daskiriom. Sie hielten Roilant in ihrem Bann und ließen ihn nicht los. Roilant ermannte sich und sagte einfach: »Diesmal ist es Cyrion.« »Diesmal«, erwiderte die melodische Stimme, so vertraut, als hätte er sie schon einmal gehört, »ist er es.« »Und ich hoffe, Ihr habt Eure List genossen. Sehr schlau.« »Vielen Dank. Vielleicht sollte ich Euch sagen, daß es mehr als eine war.« »Überrascht mich«, sagte Roilant. Er wurde mit einem weichen Lachen belohnt. »Ich habe«, erklärte Cyrion, »dieses Spiel nicht nur gespielt, um Euch zu kränken. Wenn ich höre, daß ein Mann sich in ganz Heruzala nach mir erkundigt, werde ich neugierig.« »Und mißtrauisch?« »Vielleicht.« »Und dann stolpere ich in den Honiggarten und biete Gold. Ich gebe zu, an Eurer Stelle wäre ich auch mißtrauisch geworden. Darf ich annehmen, daß der Baumeister entweder Euer Komplize oder Euer Spion ist und nach Beendigung seiner Geschichte die Schänke verließ, um Euch zu benachrichtigen?« »Natürlich könnt Ihr das annehmen. Aber es hätte auch der -215- Wirt sein können. Oder einer seiner Sklaven. Oder die Dame, die das Gasthaus verließ, gleich nachdem Ihr es betreten hattet – die Dame, die manchmal Männerkleidung trägt. Oder vielmehr der Herr, der sich manchmal als Dame kleidet und das mit so atemberaubender Wirkung?« »Darüber nachzudenken, bin ich nicht mehr in der Lage. Ich begreife aber, daß Ihr in der Kleidung dieses Schnauzbarts zurückgekommen seid und mit seinem – Schnauzbart. Ich nehme an, Ihr habt ihm diese Kostbarkeit geraubt?« »Aber gar nicht. Ich schlug ihm eine Rasur vor und bot den gängigen Preis für abgeschnit tene Schnurrbärte. Unser Freund nahm an. Der Rest der Ausstattung gehörte mir.« »Und ich, der ich überall nach Euch Ausschau hielt, glaubte, genau das zu sehen, was ich vorher auch gesehen hatte.« »Ein häufiger Irrtum. Aber Ihr habt mich davor schon übersehen.« »Der Gelehrte.« »Weit weniger bedeutend.« »Der Karawanenbesitzer.« »Liebe Güte. Das wird ja tatsächlich zu einem Ratespiel. Ich habe Euch das Essen serviert. Meine einzige Verkleidung bestand in einem Kopftuch und einem Hemd über der Rüstung. Ihr habt es nicht bemerkt, nicht einmal, als ich mich für Euer Lob über meine Taten in Teboras bedankte.« Roilant dachte zurück und verzog das Gesicht. »Ich schließe daraus, daß die Sklaven der Schänke von Euch bestochen waren.« »Nicht doch. Denen ist auch nichts aufgefallen. Sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich zu streiten, welcher ihrer zahllosen Schößhündchen einen Knochen bekommen sollte.« Roilant erkundigte sich ziemlich angriffslustig: »Und jede dieser Geschichten ist wahr? Sogar die remusischen Geister?« -216- »Oh, ich denke, Ihr glaubt einen beträchtlichen Teil dieser Geschichten und all der anderen, die Ihr gehört habt. Oder würdet Ihr mich sonst so verzweifelt gesucht haben? Inzwischen glaube ich übrigens an Eure Aufrichtigkeit, was Euch vielleicht freut zu hören.« »Die Freude zwingt mich in die Knie«, bemerkte Roilant grimmig. »Knien kann auf die Dauer langweilig sein. Kommt mit zu dem Gasthaus, in dem ich logiere. Es erwartet Euch ein schattiger Hof, wo man gekühlten Wein serviert.« »Der›Adler‹?« fragte Roilant mit wenig Hoffnung. Zweites Vorwort: Der Olivenbaum Das Gasthaus›Der Olivenbaum‹lag an einem Hügel, ungefähr eine halbe Meile außerhalb der alten Stadtmauern. Sie ließen sich von einem Karren mitnehmen, der zu den Olivenhainen unterwegs war, die das Gasthaus von allen Seiten umgaben. Roilant, der sich wohl bewußt war, daß Cyrion genauso gut hätte zu Fuß gehen können, und sich freute, daß ihm das erspart geblieben war, schwieg die ganze Zeit. Dafür studierte er den Gegenstand seiner nun doch noch erfolgreichen Suche mit betäubter und eher mißbilligender Neugier. Cyrion, der sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen an die Säcke gelehnt hatte und in den Himmel schaute, dessen Blau es bei weitem nicht mit seinen Augen aufnehmen konnte, wirkte so entspannt wie eine Katze. Inzwischen wußte Roilant, daß diese Haltung sich, wie bei einer Katze, innerhalb eines Lidschlags ändern konnte. Außerdem fiel ihm an Cyrions sonnengebräuntem linken Unterarm ein Metallreif auf, der in den Geschichten nicht erwähnt worden war. Oder vielleicht doch? Er bestand zu einem -217- Drittel der Länge und halber Breite aus einem alt anmutenden, grünlich angelaufenem Gold – der Rest des Armbands war aus Silber. Je länger Roilant es betrachtete, desto mehr erinnerte es ihn an das Schmuckstück einer Frau, das für einen Mann passend gemacht worden war. War das kleinere Stück also der Reif, der Sabaras schmales Handgelenk geschmückt hatte? Das Gasthaus, weißgetüncht und von täuschender Einfachheit, konnte sich eines efeuüberrankten Innenhofs rühmen. Der Wein kam in einem kühlenden Mantel aus Schnee. Roilant trank und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Er hatte so viel Zeit damit verbracht, zu erklären, wie dringend er dieses Abenteurers bedurfte, daß es jetzt schwierig war, zusammenhängend zu sprechen. Hier saß die Legende ihm gegenüber, so märchenhaft strahlend, wie es bei Sagengestalten aus Fleisch und Blut nur selten der Fall war. Cyrion selbst, wenn er ihn auch in keiner Weise entmutigte, war ihm auch keine Hilfe. Nach einiger Zeit tauchte von irgendwoher eine braune Katze auf und rieb sich schnurrend an Cyrions Stiefel. Cyrion neigte sich zu ihr hinab und schien bald ganz in seine Beschäftigung versunken zu sein. Roilant mußte an die Geschichte von Berdice denken. Sie mußte der Wahrheit ziemlich nahe kommen. »Es ist wohl an der Zeit«, meinte Roilant, »daß ich Euch erkläre, warum ich nach Euch gesucht habe.« Entwaffnend inmitten der Katzenpfoten: »Ich bin ganz Ohr.« »Laßt mich zuerst sagen, daß ich bereit bin zu zahlen – was immer Ihr wollt. Mit Münzen, Juwelen, anderen Waren – guten Taten. Was immer. Laßt mich auch noch erwähnen, daß meine Familie Verbindungen zum Königshaus hat. Verschwiegenheit würden wir zu schätzen wissen.« Cyrion, der noch immer die Katze streichelte, blickte zu ihm auf. -218- »Ihr befürchtet, selbst zu einer Hauptperson in einer neuen Geschichte zu werden?« »Vielleicht. Was ich wirklich meine, ist, daß die Hilfe, die Ihr mir gewährt, durchaus den Beifall König Malbans finden könnte, wenn ich auch von ihm selbst keine zu erwarten hatte.« »Ihr hättet bei der Königinmutter vorsprechen sollen.« »Die den jungen König beherrscht, während der König nur scheinbar die Stadt und das Reich Heruzala regiert. Das heißt, falls die berüchtigten, fanatischen Engelsritter nicht die eigentlichen Herrscher sind. Ja. Ich kenne die Gerüchte. Ich werde über Eure Ansichten hinwegsehen. Ohnehin hat mein Fall nichts mit Staatsangelegenheiten zu tun. Um es kurz zu machen, ich sehe mich zu einer teuflischen Heirat genötigt -« Roilant verstummte. Cyrion wartete. »Ich will alles der Reihe nach erzählen. Von Anfang an.« Angefangen hatte es mit Eliset. Der wunderschönen Cousine Eliset. Mit ihr hatte es angefangen und sehr wahrscheinlich würde es auch mit ihr enden. Es waren einmal (wie der Priester g esagt hatte) drei Brüder aus dem berühmten Haus Beucelair. Roilants Vater und Roilants zwei Onkel. Und die beiden Onkel hatten sich unbedacht an einer Hofintrige hier in Heruzala beteiligt, die von dem damaligen König, Malbans Vater, aufgedeckt wurde. Die Angelege nheit wurde gütlich geregelt. Die Verschwörer wurden begnadigt und legten einen neuen Treueeid ab. (Wenige Jahre später war der alte König in der Schlacht gestorben, während des letzten Krieges zwischen Heruzala und Kyros, bevor Malban auf Betreiben der Königin Frieden schloß.) Aber trotz Begnadigung und Treueschwur fielen die beiden Brüder in Ungnade, und daran änderte sich auch nichts, als der alte König starb. Ihr Vermögen schrumpfte, und auf der Rangleiter sanken sie immer tiefer. Nur der dritte Bruder, Roilants Vater – der sich an der -219- Verschwörung nicht beteiligt hatte – genoß weiterhin die Gunst des Königshauses und mehrte seinen Reichtum. Als Eliset geboren wurde, war Roilant ein Jahr alt. Eliset war die legitime Tochter seines Onkels Gerris von Flor. Man mußte die Legitimität betonen, weil es da noch eine zwei Jahre ältere Tochter gab, die Frucht einer Liebschaft Gerris’ mit einer Dienerin. Diese Frau brachte er in einem kleinen Haus in dem nahen Cassireia unter – aber in dem Maße, wie seine Schulden wuchsen, verkam das Haus immer mehr zu einer kaum noch menschenwürdigen Behausung. Die Tochter wurde auf den aristokratischen Namen Valia getauft, legitimiert und in das Herrenhaus in Flor aufgenommen. Dort wuchs sie zusammen mit Eliset auf, die möglicherweise eifersüchtig auf diesen Eindringling gewesen war, den ihr Vater scheinbar bevorzugte. Auch was das Äußere betraf, gab es zwischen den beiden Mädchen keine Ähnlichkeit. Valias östliches Blut offenbarte sich in ihrer olivfarbenen Haut, den dunklen Zöpfen und einem frühreifen Körper. Eliset dagegen hatte Haare so gelb wie Narzissen, schneeweiße Haut und war knabenhaft schlank. Trotz dieser Unähnlichkeit standen beide in dem Ruf großer Schönheit. Dann gab es plötzlich keine Vergleichsmöglichkeit me hr. Als Valia elf war und Eliset neun, verschwand Valia spurlos. Man war allgemein der Ansicht, daß sie von den Klippen hinter dem Haus gestürzt war, obwohl natürlich auch die Gerüchte aufkamen, die oft das Verschwinden eines Kindes oder jungen Mädchens begleiteten – Geister, Dämonen oder wandernde Zauberer hätten sie als Opfer oder Sklavin verschleppt. Allerdings hatten Diener sie auf den Klippen spielen sehen und kurz vorher noch ermahnt. Die Stelle war nicht sicher, das hatte man ihr immer wieder gesagt, und das Meer am Fuß des Felsen sehr tief. Auch Eliset hatte man gewarnt, und zu der fraglichen Zeit befand sie sich auch nicht in der Nähe der Klippen, sondern spielte mit ihrer Amme unten der -220- Buche im Garten. Valia wurde betrauert, wenigstens von ihrer Mutter, die kurz darauf vor Kummer starb, und von Gerris, der selbst Elisets vierzehnten Geburtstag nicht mehr erlebte. Inzwischen war ihm außer dem Gut Flor nichts mehr geblieben, sein Vermögen war zerronnen und königliche Gunst eine Sage aus fernen Zeiten. Das unaufhaltsam verfallende Gut in der Nähe von Cassireia war dann an Roilants zweiten Onkel, Gerris’ Bruder Mervary, übergegangen. Obwohl so gering an Wert, war es doch mehr, als Mervary selbst geblieben war. Er wurde Elisets Vormund und sein Sohn, der ebenfalls Mervary hieß, ihr Bruder. Sie waren gleich alt und verstanden sich gut. Beide gingen sie geistigen Anstrengungen aus dem Weg und unternahmen wilde Ritte über die Hügel – solange es auf Flor noch Pferde gab. Es war schade, daß diese beiden, die sich so gut ergänzten – er braunhaarig, sie blond; er stark, sie zerbrechlich – nicht heiraten konnten. Aber das hätte keinen Sinn ergeben. Sein Mangel an Geld machte ihn nicht gerade zu einer guten Partie. Ihre eigene Armut verwehrte es ihr, innerhalb ihrer eigenen Kreise zu heiraten, und etwas anderes kam nicht in Frage. Es sei denn – es gab noch einen anderen Ausweg. Schon Gerris hatte, bevor er starb, Roilants Vater diesen Vorschlag gemacht. Der einzige noch vermögende Beucelair sollte sich seinen armen Verwandten gegenüber großzügig verhalten und hatte doch bestimmt Mitleid mit der unschuldigen, jungfräulichen Tochter, wenn schon nicht mit Gerris und Mervary, den irregegangenen Brüdern. Roilant war als Kind zweimal in Flor gewesen. Jeweils nur für kurze Zeit, und Valia war damals schon tot. Eliset, die ein Jahr jünger war als er, hielt er für ein langweiliges kleines Mädchen, in deren Gegenwart er sich aus einem Grund, den er nicht recht fassen konnte, nie ganz wohl fühlte. Das Haus aber und der verwilderte Garten hatten ihn -221- fasziniert. Sie hatten einen eigenen Zauber für einen plumpen kleinen Jungen, der in jedem der üblichen Knabenspiele versagte und lieber in einer Ecke hockte und las. Selbst als Kind wußte Ro ilant schon, daß er für jedermann eine Enttäuschung war, sogar für sich selbst. Niemals würde er ein Kriegsheld sein oder ein Staatsmann, nicht einmal für geschäftliche Angelegenheiten hatte er einen besonders guten Kopf. Und im Gegensatz zu Cousin und Cousine, war er dicklich und hatte lächerliches ingwerfarbenes Haar – oder zumindest wurde immer darüber gelacht. Als Gerris tot war, hatte Mervary die Sache mit der Heirat noch einmal zur Sprache gebracht. Roilants Vater hatte seinen unnützen Sohn mit den Worten abgefertigt: »Geh und sieh dir das Mädchen an. Wenn sie dir gefällt, kannst du sie haben. Wir brauchen keine Mitgift.« Also stattete Roilant Flor einen dritten Besuch ab, und diesmal roch er das schale Wasser in den Zisternen, sah den Tod an den Wurzeln der Palmen nagen und wie die Obstgärten verwilderten. Er war nicht mehr der Knabe, der sich vorstellte, ein remusischer Tribun zu sein, als er auf der verfallenen Mauer stand und sich eingestehen mußte, daß der Festungsturm auf den Klippen auch nicht viel besser aussah. Beim Abendessen dann traf er Onkel Mervary und Mervarys Sohn Mervary und haßte sie sofort, alle beide. Mervary I war abstoßend und verschlagen. Mervary II war hübsch, heldenhaft und unerträglich. Er war fünfzehn und verwandte große Sorgfalt darauf, daß Roilant sich wie ein dummer Bengel von acht Jahren vorkam. Dann kam Eliset. Eliset war wie ein Sonnenaufgang, Sie wischte seinen Kummer beiseite und verwandelte alles. Während Mervary I über den Mangel an den guten Dingen des Lebens auf Flor jammerte und immer mal wieder bemerkte: »Zweifellos vermißt du die Annehmlichkeiten deines Elternha uses«, und Mervary II Roilant zu einem Brettspiel›Ritter und Burg‹überredete, um ihn dann fünfmal zu -222- schlagen, war Eliset freundlich und rücksichtsvoll. In den folgenden zwei Tagen erfand sie eine Aus rede nach der anderen, um Roilant aus der Gesellschaft von Onkel und Cousin zu befreien und mit ihm allein zu sein. Sogar ihre Dienerin schickte sie unter irgendeinem Vorwand zum Haus zurück. Eigentlich war es unschicklich, und Roilant, der sehr auf Anstand hielt, fühlte. sich manchmal unbehaglich. Aber Eliset war ein Muster an Zurückhaltung. Sie deutete an, daß sie auf seine Ritterlichkeit vertraute. Sie brachte es zustande, daß er sich selbst ritterlich vorkam, ein für ihn so überwältigend neues Gefühl, daß er gar nicht recht wußte, was es denn war. Sie gab ihm den Glauben, klug zu sein, und einmal, als er eine Wespe tötete, die sie boshafterweise verfolgte, mutig. Er hatte sie für langweilig gehalten? Sie blendete ihn. Sie lachte glockenhell, wenn er einen Scherz versuchte. Sie gestand, daß sie unglücklich war und noch immer um ihren Vater trauerte. Sie war tapfer. Sie war ein Juwel. Sie war makellos. Und als er ging, weinte sie, ohne ihm gegenüber von der vorgesehenen Heirat erwähnt zu haben. Roilant kehrte nach Hause zurück und verkündete, daß er sie mit Vergnügen nehmen wollte. Und verbrachte die nächsten drei Monate damit, im stillen Kämmerlein grausliche Gedichte über ihr schimmerndes Haar und ihre geheimnisvollen Augen zu verfassen. Ihre Verlobung erfolgte auf brieflichem Wege. Wie es schien, war sie so feinfühlend erzogen worden, daß es das beste war, noch ein oder zwei Jahre zu warten. Roilant, am Boden zerstört und gleichzeitig erleichtert – seine große Liebe zu heiraten war eine erschreckende Aussicht -, war mit der Abmachung einverstanden. Ein Jahr verging. Ein zweites. Sie sandte ihm ein paar gepreßte Blumen mit einem kurzen Briefchen. Und einmal ein Paar billige Handschuhe, die nicht paßten. Er wußte, wie sie gestellt war, und hielt sie in Ehren. Dann wurde Roilant nach Westen geschickt, um seine lückenhafte Bildung zu vervollständigen, vertiefte sich in die Kultur jener kalten Länder -223- und blieb geraume Zeit dem Königreich, das seine Vorfahren im Osten erobert hatten, fern. Als er auf die Besitzungen seines Vaters in Heruzala zurückkehrte, fühlte er sich welterfahren und sah seiner Vermählung mit Ungeduld entgegen. Die wenigen Frauen, die ähnliche Gefühle in ihm erweckt hatten, hatten nur die Erinnerung an Elisets Reize verstärkt. Es gab Neuigkeiten. Der alte Mervary war gestorben. Der junge Mervary war eifrig damit beschäftigt, das wenige (sehr wenige), das aus Flor noch herauszuholen war, zu verschwenden. Als er sich gerade aufmachen wollte, um zu retten, was noch zu retten war, sah er seine Pläne durchkreuzt. Sein eigener Vater, der gerade am Hof des jungen Königs weilte, hatte sich an einer eigentlich gar nicht ungewöhnlichen Jagdgesellschaft beteiligt. Diesmal aber stürzte er vom Pferd und schwebte in Lebensgefahr. Da er ein ausgezeichneter Reiter war, löste dieser Unfall einiges Erstaunen aus. Roilant eilte zu der Stadt, wo sein Vater im Sterben lag, aber die rechte Trauer wollte sich nicht einstellen. Es gab keine Liebe zwischen Vater und Sohn und keine Bindung. Aber in einer solchen Stunde war es angemessen, so zu tun als ob, und beide gaben sich Mühe. In einem abgedunkelten Zimmer des Palastes sprachen sie eine Zeitlang miteinander. Dann gab es eine überraschende Enthüllung. »Hör zu, Junge«, sagte Roilants Vater, rückte sich schmerze rfüllt in dem weichen Bett zurecht und unterdrückte einen Fluch, »du bist mein Erbe, und ich möchte dir einen guten Rat geben.« »Ja, Vater?« »Du erinnerst dich an deine Verlobung mit deiner Cousine Eliset?« »Natürlich, ja, Vater. Ich wollte -« -224- »Tu es nicht.« Verblüfft starrte Roilant ihn an. »Tu es nicht?« stotterte er. »Habe ich einen Papagei aufgezogen? Ich sage dir, tu es nicht. Es wurde noch nichts festgelegt. Eine kleine Bestechung hier und da, und die Sache ist vergessen.« »Aber sie ist eine Beucelair und arm. Und du hast ihrem Vater und ihrem Onkel versprochen -« »Und ich selbst habe ihr letzten Monat eine Nachricht geschickt und ihr mitgeteilt, daß ich dir von der Verbindung abraten werde.« »Warum?« »Warum?« Roilants Vater zog ein finsteres Gesicht. »Du hast etwas Besseres verdient. Einiges ist mir zu Ohren gekommen, und manches habe ich selbst herausgefunden. Du bist ein junger Mann mit festem Charakter. Im Herzen haben wir uns immer verstanden. Vertraue mir. Such dir ein nettes, häusliches Mädchen, das dich zu schätzen weiß. Eine mit einer ordentlichen Mitgift.« Roilant öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber sein Vater unterbrach ihn erneut. »Verdammt seien diese Schmerzen«, sagte er und starb. Roilant vergoß zwei oder drei Tränen, hauptsächlich, weil es sich schickte, und teils, weil es oft niederschmetternder ist, jemanden zu verlieren, den man nie richtig kennen gelernt hat, als einen guten Freund. Sohnespflicht war etwas anderes. Aus Pflichtgefühl seinem Vater gegenüber, verzichtete Roilant in diesem Sommer darauf, seine Cousine Eliset zu besuchen. Als ein mit minderwertigen Steinen besetztes, billiges Amulett bei ihm eintraf, »um ihn in seinem Verlust zu trösten«, antwortete er höflich, aber zurückhaltend. -225- Erst in dem Winter nach seinem neunzehnten Geburtstag erfuhr er von den Gerüchten über die junge Dame, die seine Braut hatte werden sollen und über das Leben, das man jetzt auf Flor führte. Der Mann, der ihm die Augen öffnete, stand am Hof des Königs in hohem Ansehen und der Brief, in dem er ihm von den Gerüchten Mitteilung machte, wurde von seinem eigenen Diener überbracht. Der Brief selbst war nicht unterzeichnet. Scheinbar verhielt es sich so, daß Eliset weder lieblich noch keusch war; denn sie war das Liebchen ihres braungelockten Vetters und auch noch anderer. Aber das war gar nichts im Vergleich zu ihren anderen Gewohnheiten. Roilants Informant drückte sich in dieser Hinsicht nicht besonders deutlich aus, sprach hin und wieder von›Aberglauben der Unwissenden‹, ohne gesagt zu haben, worum es denn eigentlich ging. Was Roilant schließlich zwischen den Zeilen herauslas, besagte, daß es auf Flor spukte und Eliset einer geheimen Schwesternschaft von Hexen angehörte, in die sie von ihrer alten Amme eingeführt worden war. Es wurde erzählt (o oft wiederholte und nichtssagende Redewendung!), daß Eliset schon im Alter von neun Jahren durch Zauberei den Tod ihrer Halbschwester Valia herbeigeführt hätte. Und daß sie auch für den Tod von Valias Mutter und ihres eigenen Vaters und Onkels verantwortlich sei. Sogar der Tod von Roilants Vater kam in Frage. Er, ein unübertroffener Reiter, war abgeworfen worden – kurze Zeit nachdem er dem Mädchen die Einheirat in den wohlhabenden Zweig der Familie Beucelair verweigert hatte. Wie nicht anders zu erwarten, endete der Brief mit der Bemerkung, daß jeder reiche Mann, der Eliset heiratete, damit rechnen mußte, schnell und ohne Nachkommen zu sterben und sein Vermögen seiner Frau zu hinterlassen. Damals hatte Roilant noch nicht so ganz an Zauberei geglaubt. Und dennoch wuchs ein nagender, unerklärlicher Zweifel in ihm, ein Zweifel, den er, wie er sich eingestand, seit dem Tode seines Vaters mit sich herumtrug. Roilant zerbrach -226- sich nicht übermäßig lange den Kopf über die Angelegenheit, aber über drei Dinge war er sich im klaren. Erstens, daß er Eliset noch nicht mitteilen würde, daß er nicht länger die Absicht hatte, sie zu heiraten, zweitens, daß er sie nicht heiraten würde, und drittens, daß er ihr eine Apanage zukommen lassen wollte, um sein Gewissen zu beruhigen. Gesagt, getan oder vielmehr nicht getan, je nachdem. Eliset schickte einen Brief, worin sie sich herzlich für die Apanage bedankte. Nur ein einziger kleiner Satz störte, in dem sie schrieb, daß sie sich auf ihr nächstes Zusammentreffen freute. Aber wieder vergingen Jahre. Roilant kam zu der Erkenntnis, daß er Frauen bevorzugte, die nicht übermäßig schön waren und keine übermäßigen Ansprüche stellten, und fand immer größeres Gefallen an weiblicher Gesellschaft. Schließlich entdeckte er eine ideale Partnerin. Sie stammte aus gutem Hause, hatte ein schlichtes Äußeres und nur eine spärliche Mitgift, dafür aber einen gesunden Menschenverstand, ein stilles und doch lebha ftes Wesen und eine bezaubernde Neigung zur Fröhlichkeit, die Roilants Herz wärmte, denn sie richtete sich nie gegen ihn. Zwar verspürte er niemals das Bedürfnis, Gedichte für sie zu schreiben, aber trotzdem ertappte Roilant sich eines Tages dabei, wie er in ihres Vaters verwildertem Garten zu dieser jungen Dame sagte – sie hatten sich gerade über einen hypothetischen Wanderer unterhalten, der sich in der Wüste verirrte - : »Wenn ich mich in der Wüste verirren würde, würde ich alles daransetzen, wieder zurückzufinden. Ich würde Euch vermissen -« Das und das unerwartete, aber erfreuliche Erröten der betreffenden Dame, brachten Roilant zu der Überzeugung, daß es an der Zeit war, gewisse Schritte zu unternehmen. Deshalb machte er die Bekanntschaft von einigen Anwälten und war auf dem besten Wege, die vor neuneinhalb Jahren geschlossene Verlobung zu lösen, als Er verstummte. Die braune Katze saß kerzengerade auf Cyrions Schulter und starrte Roilant an. Cyrion starrte nicht, aber er wandte auch nicht -227- den Blick ab. »- als«, fuhr Roilant schließlich fort, »Dinge geschahen, von denen ich nur ungern sprechen würde, wenn Ihr mit dem Okkulten nicht so vertraut wäret.« Erstens wurde der Brief, den die Anwälte aufgesetzt und nach Flor gesandt hatten, von einem Boten, den niemand beschreiben konnte, zu Roilants Haus in der Nähe von Heruzala zurückgebracht. Als er den Brief öffnete, merkte Roilant, daß das Schriftstück sich einigermaßen verändert hatte. Es war in viele kleine Schnipsel zerrissen und als diese zu Boden flatterten, gerieten sie in Brand. Nur ein Augenblick, und außer Asche war nichts mehr davon übrig. »Ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet«, sagte Roilant. »Was jeder gedacht hätte.« »Tatsächlich?« »Ich jedenfalls dachte es damals.« Als nächstes befreite sich der schäbige Talisman, den er nach dem Tod seines Vaters erhalten hatte, aus einer von Roilants Truhen, flog ihm durch ein offenes Fenster ins Gesicht und verursachte eine schmerzhafte Prellung. Als er das Ding vom Boden aufhob, verbrannte er sich die Hand. Daraufhin flüchtete er aus dem Zimmer und brauchte eine Stunde, um sich einzureden, daß jemand den Talisman gestohlen, über einem Feuer erhitzt und dann durch das Fenster geworfen hatte. Bei seiner Rückkehr fand er den unglückbringenden Glücksbringer zerbrochen vor, ließ die Reste aufkehren und versuchte, den Vorfall aus seinen Gedanken zu verbannen. Was sic h als recht einfach herausstellte, da in derselben Nacht etwas viel Schlimmeres geschah. Als er gegen Mitternacht erwachte, glaubte er erst von dem draußen tobenden Unwetter geweckt worden zu sein. Aber dann wurde er sich eines abscheulichen Gefühls bewußt, als krabbelte ein ganzer Schwarm von Insekten über sein Gesicht und streiften ihn mit ihren Flügeln. Er fuhr -228- hoch und rieb sich das Gesicht und war sie schließlich losgeworden – nur um beim Schein einer hastig entzündeten Kerze festzustellen, daß die Insekten nichts anderes waren, als die gepreßten Blumen, die Eliset ihm nach ihrem zweiten Zusammentreffen übersandt hatte und die jetzt vor Alter ganz braun und mürbe wie Mottenflügel waren. Während Roilant noch dastand und sie verstört betrachtete, wirbelten sie durch die Luft und zerfielen zu Staub. Als der Staub sich herabsenkte, wurde eine Gestalt dahinter sichtbar. Sie war nur gerade eben sichtbar. Das Flackern der Kerze, das Toben des Sturmes und seine eigene Furcht machten es für Roilant noch schwerer, Einzelheiten zu erkennen. Aber sie war dagewesen, eine halb durchsichtige Erscheinung wie Dunst auf einem Spiegel. Schmal und blaß, das Gesicht ein leerer Fleck, umrahmt von Haaren so gelb wie Narzissen. Dann sprach sie zu ihm. Nicht hörbar, sondern die Worte erschienen langsam und deutlich in der Dunkelheit hinter der Kerzenflamme. Sie lauteten: Der Bund ist geschlossen und darf nicht gelöst werden. Du bist mein und mußt zu mir kommen, bevor der Monat herum ist. »Am Morgen«, sagte Roilant, »hielt ich es für einen Alptraum.« »Natürlich«, pflichtete Cyrion ihm freundlich bei. Und zum erstenmal in seinem Leben kam Roilant sich wie ein Narr vor, weil er nicht an das Übernatürliche glaubte. Eingeschüchtert fuhr er fort: »Sieben Nächte lang kam die Erscheinung immer wieder. Dann glaubte ich an Magie. Ich hatte – hatte Angst, gebe ich zu. Und das trübe Wetter, der endlose Regen, bedrückte mich in einem nie gekannten Maße. Ich rief einen Mann, der in dem nahe gelegenen Dorf für sein magisches Wissen berühmt war. Er untersuchte mein Schlafzimmer und behauptete, er könne die Zauberei förmlich riechen. Ich roch nur noch den Regen. Aber ich fragte, was ich -229- tun sollte, und er machte sich erbötig, in seinen Büchern nachzulesen. Er ging, und ich sah ihn niemals wieder, auch dann nicht, als ich ihn in seinem Dorf suchte. Mir kam es so vor, als hätte er ebensoviel Angst wie ich selbst. Was dann geschah? Nach sieben Tagen hörten die nächtlichen Heimsuchungen auf, und es trat auch nichts anderes an ihre Stelle. Obwohl ich inzwischen ständig darauf wartete, daß etwas passiert. Aber was sollte ich tun? Reiste ich nach Flor, würde man dieselben magischen Kräfte, die mich gerufen hatten, vermutlich dazu benutzen, mich zu töten. Es schien mir sicherer, zu Hause zu bleiben. Doch dann erreichten mich Nachrichten aus der Stadt.« Die Dame in Heruzala, zu der Roilant sich hingezogen fühlte, hatte ruhig auf der Terrasse ihres Vaterhauses gesessen, als ein Teil des Daches über ihr nachgab und zu Boden polterte. Sie war unverletzt, war aber nur um Haaresbreite dem Tod entronnen. Der Vorfall war äußerst eigenartig, da an dem Mauerwerk kein Anzeichen von Verfall sichtbar gewesen war. Ihr Vater, der Roilant die Nachricht angeblich geschickt hatte, um ihn zu beruhigen, falls Roilant etwas anderes gehört haben sollte, in Wahrheit aber den zögernden Verehrer etwas in Schwung bringen wollte, war tief gekränkt, als er Roilants Antwort erhielt. Roilant drückte seine Erleichterung darüber aus, daß der jungen Frau nichts passiert war, und bedauerte, daß er in der nächsten Zeit nicht dazu kommen werde, sie zu besuchen; bei der nächsten Gelegenheit hoffe er, ihnen seine neue Frau vorstellen zu können. »Was mich betraf, so blieb es sich gleich. Wenn es in ihrer Absicht lag, konnte Eliset mich durch Hexerei töten, ob ich sie heiratete oder nicht. Aber als meine liebe – als die Dame, der ich den Hof machte, gleichfalls in Gefahr geriet, wagte ich es nicht, noch länger zu zögern. Noch an jenem Abend schrieb ich einen Brief an Eliset und überredete den Boten mit G eld, in größter Eile nach Flor zu reiten.« »Und was stand in dem Brief?« -230- »Nun, daß ich am letzten Tag des Monats an ihrer Seite sein würde.« »Womit Euch kaum noch so viel Zeit bleibt, wie Ihr für den Weg benötigt.« »Ich war auf der Suche nach Euch.« »Und hier bin ich«, sagte Cyrion. Roilant runzelte die Stirn. »Ich bin kein Märtyrer. Ich will nicht sterben. Oder betrogen werden. Aber ich würde nie das Leben einer Dame aufs Spiel setzen. Und seit ich versprochen habe, meine Cousine aufzusuchen, ist alles ruhig geblieben.« »Gehe ich recht in der Annahme«, sagte Cyrion und hielt still, als die braune Katze ihren Kopf an seiner Wange rieb, »daß Ihr Eure Dame auch in dem Brief erwähnt habt, der Eure Cousine von der Auflösung des Verlöbnisses unterrichtete?« »Ja. Eine Unbedachtsamkeit. Ich hoffte, dieser Grund würde die Zurückweisung für sie erträglicher machen. Außerdem fügte ich hinzu, dadurch, daß ich Eliset seit neun Jahren nicht gesehen hätte, wäre meine Erinnerung an ihre Schönheit verblaßt.« »Äußerst taktvoll«, bemerkte Cyrion. Roilant betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen und ahnte, daß sein Gesprächspartner genau das Gegenteil meinte, wie es ihm selbst auch schon in den Sinn gekommen war. »Zumindest«, sprach Cyrion weiter, »erfuhr Eliset nicht durch Zauberei von Eurer neuen Liebe. Wäre das der Fall gewesen, hätte sie nämlich auf demselben Wege erfahren können, daß Ihr nach mir gesucht habt.« »Gott bewahre uns.« »Eben. Allerdings glaube ich, daß diese Kräfte anderer Art sind. Der Verstand wird benutzt, um die Kraft des Willens zu unterstützen. Der Zauber wirkt nur durch das, was auf gewöhnlichem Wege in Erfahrung gebracht wurde.« Der dickliche Herr breitete erleichtert die Arme aus und stieß -231- seinen Weinbecher um. Angewidert betrachtete er sich die Folgen seiner Ungeschicklichkeit. Die braune Katze allerdings, sprang hocherfreut auf den Tisch und begann sich an der Weinpfütze gütlich zu tun. »Ihr seht, wie es mit mir ist«, sagte Roilant treuherzig. »Ich bin kein gewandter Mann der Tat und habe keinen scharfen und schnellen Verstand. Aber bis man mich ausraubt, bin ich reich. Werdet Ihr mir helfen?« »Wie«, fragte Cyrion, »sollte diese Hilfe Eurer Meinung nach aussehen?« Roilant kannte derartige Fragen aus den Geschichten und weigerte sich, darauf einzugehe n. »Ihr seid die Legende. Deshalb liegt die Entscheidung bei Euch«, sagte er fest. Die Katze hatte den Wein aufgeleckt. Auf unsicheren Beinen tappte sie über den Tisch und fiel Cyrion in die Arme. »Drei Trankopfer sollten Glück bringen«, meinte Cyrion. »Trotzdem kann ich Euch prophezeien, daß Ihr morgen nach Flor reisen müßt. Und zwar so schnell Ihr könnt.« Cyrion in Stein 1. Kapitel Wo die Straße nach Cassireia eine Biegung machte, zweigte ein schmaler Pfad ab, der in vielen Windungen bergauf führte, an Wäldern und Felsen vorbei, und schließlich ohne besondere Absicht zwei planlos angelegte Dörfer berührte. In dem zweiten Dorf endete der Pfad, des Abenteuers überdrüssig. Eine Meile voraus, durch eine Lücke zwischen zwei Bergen, waren die Obsthaine Flors zu sehen und dahinter die grasbewachsene Anhöhe mit dem Herrenhaus und dem Turm auf den Klippen. -232- In früheren Zeiten hatten die Dörfer ganz in der Nähe des Anwesens gelegen. Als die remusische Festung noch den Landstrich beherrschte, hatte es ein Dorf am Fuß ihrer Mauern gegeben. Aber jetzt schienen die kleinen Ansiedlungen sich davongeschlichen zu haben; die Schafe und roten Kühe weideten tiefer am Hang, und am Markttag ritt man in die Stadt, wo einst für einen cassianischen Kaiser ein Palast über dem tiefblauen Wasser der Bucht erbaut worden war. Für jemanden, der kein Kaiser war, mochte die Reise nach Cassireia unangenehm sein. Dem Seitenpfad zu folgen, sich in den zwei Dörfern anstarren zu lassen, die Lücke zwischen den beiden Bergen zu erreichen und auf Flor erst hinab- und dann hinaufzublicken – vielleicht noch unangenehmer. Mögliche rweise aber auch ein Grund zur Freude, wenn dieser Reisende Roilant von Beucelair war, der kam, um seine Braut zu holen. Denn mit der Braut erhielt er Flor, ihre einzige Mitgift. Und es brauchte nur ein wenig Mühe und Geld, um das verwilderte Anwesen wieder in alter Schönheit erstrahlen zu lassen. Falls der Ankömmling solche Gedanken gehegt haben sollte, waren die toten Feigenbäume am Rand der Obsthaine durchaus dazu geeignet, sie im Keim zu ersticken. Als wäre ein Pesthauch darüber hinweggegangen, so gründlich war hier alles Leben ausgelöscht. Als nächstes bot sich das niederschmetternde Bild einer Zypresse, die schon vor langen Jahren von einem Blitzschlag gefällt worden war. Und danach eine wahre Flut gesunder Bäume mit wild wuchernden Trieben, Ästen, die sich bis zur Erde neigten, haltsuchend ineinander verschlungenen Ästen, deren Früchte ganze Insektenschwärme anlockten, welche das stickige grüne Licht mit einem nervzermürbenden Summen und Surren erfüllten. Sich auf dem Rücken eines Maultiers durch diesen geräuschvollen Dschungel einen Weg zu erkämpfen, war weder leicht noch besonders unterhaltsam. Kam man endlich unter den letzten Bäumen hervor und erreichte den Fuß des Abhangs, stand man vor der -233- remusischen Mauer, die ungerechterweise noch beinahe genauso aussah wie vor neun Jahren. Während das Herrenhaus kaum noch diese Bezeichnung verdiente. Die Tore, an denen die meisten Metallbeschläge fehlten, standen offen und erweckten den Eindruck, als könnten sie niemals wieder geschlossen werden. Und der Vorhof mit der Zisterne, den Säulen und Palmen war wie eine welkende Rose, deren Blütenblätter eins nach dem anderen zu Boden schwebten. Zerbrochene Ziegel, die vom Dach herabgefallen waren, lagen in dem ausgetrockneten Trog, in dessen klarem Wasser sich einst der Himmel gespiegelt hatte. Steinerne Löwen, über und über mit blauem Moos bewachsen, standen verloren an den vier Ecken. Die Löwen, die Mauern, die Säulen, die Bäume, alles war von Verfall gezeichnet. Unter einer abgestorbenen Palme schlief zusammengerollt ein zerlumpter Junge, und einige aus den Obstgärten abgewanderte Wespen und Fliegen surrten mißbilligend herum. Sonst war kein lebendes Wesen zu entdecken. Der Ankömmling saß unter dem Torbogen auf seinem Maultier und schaute sich um; die untergehende Sonne leuchtete auf seinem lohfarbenen Haar. Seine Haltung drückte ungläubigen Widerwillen aus. Etwas zu wissen, war eine Sache, es zu sehen, eine andere. Hinter ihm hockten die beiden Diener aus Heruzala auf ihren Maultieren. Schließlich erkundigte sich einer von ihnen: »Das ist Flor, Herr?« »Leider.« Der andere schnaufte verächtlich. »Soll ich den Nichtsnutz aufwecken?« »Es scheint unumgänglich zu sein.« Der erste Mann, massiger als Roilant, aber muskulös, schwang sich aus dem Sattel und trat zu dem schlafenden -234- Jungen. Er packte ihn an einer Schulter und zog ihn hoch. Der Junge wachte auf und schlug und trat um sich, schließlich verbiß er sich in den Ärmel seines Angreifers und ließ nicht mehr los. Der zweite Diener sprang aus dem Sattel und eilte seinem Kameraden zur Hilfe. Der Vorfall artete zu einer Prügelei aus, als zwei weitere ungekämmte Burschen von den dürren Bäumen sprangen und sich heulend auf die Fremden stürzten. Der dickliche junge Mann saß auf seinem Reittier, verbreitete den Eindruck äußerster Hilflosigkeit und hätte vielleicht noch bis in alle Ewigkeit dagesessen, während die Prügelei endlos weiterging. Endlich aber öffnete sich mit hörbarem Widerwillen einer der Flügel des Haupttores hinter den Säulen, und dann trat eine Gestalt aus dem Schatten ins Licht. Zwei weiße Hände schimmerten, als sie fest gegeneinandergeschlagen wurden. »Hört auf! Harmul – Dassin – Zimir, sofort!« Zwei der Jungen sprangen beiseite und fielen auf den geborstenen Steinen hinter der Zisterne aufs Gesicht. Der dritte schien unentschlossen, dann machte er sich davon und verschwand in einem engen Bogengang am Ende des Hofes. Zurück blieben die fluchenden und zerzausten Diener aus Heruzala. Es war offensichtlich, daß es sich bei dem Mädchen mit den weißen Händen um die Herrin des Hauses handelte. Und es schien, das man sie respektierte; denn der eine der unbotmäßigen Diener war geflohen, und die beiden anderen lagen regungslos vor ihr am Boden. Als sie wieder sprach, klang ihre junge Stimme messerscharf. »Schande über euch. Ihr verdient Prügel. Wäre mein Vater noch am Leben, würde er euch auspeitschen lassen. Steht auf! Geht zu dem Herrn und seinen Begleitern. Bittet um Verzeihung.« Der Junge, der die Prügelei angefangen hatte, hob den Kopf -235- und berührte ihr Kleid. Es war aus schimmernder Seide und hatte dieselbe Farbe wie ihr Haar. »Einer hat mich geschlagen«, beteuerte der Junge. Das Mädchen mit dem topasfarbenen Haar sagte nichts, sondern schaute ihn nur an. Langsam erhob sich der Junge, und sein Freund tat es ihm gleich. Sie drückten sich um die leere Zisterne herum und warfen sich jetzt vor dem rothaarigen Mann auf dem Maultier zu Boden. »Vergebung, Herr!« »Vergebt uns!« Der Rotschopf war eindeutig verwirrt. »Gewährt«, murmelte er. »Jetzt steht auf und verschwindet.« »Das geht leider nicht«, rief das Mädchen. »Zimir ist davongelaufen, aber diese beiden müssen sich um Eure Tiere kümmern. Sie sind die einzigen Diener, die wir haben.« Der dickliche junge Mann kletterte steif und unbeholfen von seinem Reittier und übergab es mit offensichtlicher Besorgnis den beiden dienstbaren Geistern. »Aber laßt das Gepäck hier. Meine beiden Diener werden sich darum kümmern.« Während Roilants muskulöser Begleiter den zwei Burschen und drei Maultieren in Richtung des schmalen Bogenganges folgte, beschäftigte sich der andere damit, das Lasttier abzuladen. Ihr Herr wandte sich um und betrachtete das Mädchen, eine schlanke Narzisse vor dem Hintergrund sonnendurchglühten Verfalls. Er schien keine Worte zu finden, und sie war es, die auf ihn zutrat, wobei sie sich so anmutig und geschmeidig bewegte wie eine Tänzerin. »Roilant«, sagte sie leise. »Bist du es wirklich?« »O ja«, versicherte er überflüssigerweise. Sie lächelte zu seinem runden Gesicht hinauf. »Wie du gewachsen bist. Als ich dich das letzte Mal sah, warst du ein Knabe, und jetzt bist du ein Mann. Und ich, habe -236- ich mich verändert?« Er wurde rot und wußte immer noch nicht, was er sagen sollte, und schien jetzt erst die fadenscheinigen Stellen an ihrem Kleid zu bemerken, das aus der Entfernung neu und kostbar ausgesehen hatte. Die jährliche Geldsumme aus Heruzala schien also anderweitig verwendet worden zu sein. »Du bist«, bemerkte er mit einiger Anstrengung, »so schön wie immer.« Ihre Augen weiteten sich, vielleicht wegen seiner Ungeschicklichkeit, aber sie lächelte immer noch. »Wenn ich es bin«, sagte sie, »dann nur aus Freude darüber, dich zu sehen. Ich dachte, du hättest mich vergessen. Ich bin so froh, daß ich mich geirrt habe.« Seine Augen waren so müde, verquollen und verwirrt. Bestimmt wäre es nicht besonders klug gewesen, zu antworten:›Aber du weißt doch, daß du nach mir geschickt hast, eine Aufforderung, der ich nicht widerstehen konnte. Überredung durch Schwarze Magie.‹So sagte er nur: »Die Reise war fürchterlich.« »Verzeih mir. Ich werde jemanden schicken, um das Badehaus zu heizen – auf die Art der Remusaner, erinnerst du dich? Und erinnerst du dich auch an die Geschichte? Daß eine remusische Legion dort einen Schatz vergrub… Du und ich, wir haben danach gesucht. Aber leider fanden wir kein Gold.« Sie streckte eine ihrer weißen Hände aus, um ihn am Arm zu berühren, zog sie aber verschämt wieder zurück. Sie besaß keinen Schmuck, außer ihren Augen, dem Haar, den perlweißen Zähnen, der weißen, makellosen Haut. »Deine Gastgeberin fürchtet, daß sie zuviel schwatzt. Aber sie ist so froh – oh, Roilant, es ist so wunderbar, daß du gekommen bist. Bitte. Tritt ein. Und -«, sie senkte die goldenen Wimpern – »sieh über das Unabänderliche hinweg. Es ist nicht mehr so, wie zur Zeit von Fürst Gerris. Nicht einmal wie zur Zeit meines Onkels.« -237- »Wenn du mich heiratest, brauchst du dir darüber keine Sorgen mehr zu machen«, bemerkte er überaus zartfühlend. »Nein«, erwiderte sie sehr leise. Sie war das Abbild unterwü rfiger Demut und flehte ihn nur stumm an, ihr sein Mitleid und seine Hilfe nicht allzu unverblümt anzubieten. Selbst jemand wie Roilant hätte in diesem Moment den Drang verspüren können, sie zu schlagen. Aber so etwas riskierte man nicht bei einer Hexe, wenn man noch alle seine Sinne beisammenhatte. Er faltete die Hände hinter dem Rücken und folgte ihr ins Haus, während der Diener mit dem Gepäck hinter ihnen herkeuchte. Der Eingang – eine Art Tunnel, an dessen von Graswurzeln zersprengtem Mauerwerk keine Spur mehr von den früheren Wandmalereien zu erkennen war, und in den der Wind Sand und allerlei anderen Unrat hineingetragen hatte – führte geradewegs in den zweiten, inneren Hof, der von Haupthaus und Seitenflügel eingefaßt wurde. Als Roilant im Alter von fünfzehn Jahren Flor besucht hatte, waren die Springbrunnen noch tätig gewesen, wenn auch nur zeitweilig. Jetzt war in den Bassins ein Sumpf aus brackigem Wasser und wucherndem Moos. Jeder Windhauch wirbelte raschelnd das dürre Laub auf, das den Boden bedeckte, und ein einzelner, kümmerlicher Orangenbaum wuchs neben der Steintreppe, die zum oberen Stockwerk und von dort zum Dach hinaufführte. Pfosten aus geschnitztem Elfenbein hatten einst das Dach der Veranda gestützt, die das obere Stockwerk umlief. Jetzt waren viele davon zerbrochen oder fehlten ganz. »Sieh nicht hin«, sagte sie. »Ich tue es auch nie. Ich habe versucht, es so in Erinnerung zu behalten, wie es einmal war.« Ein dicker und ältlicher Mann, wahrscheinlich ein Sklave, kam aus dem Durchgang gewatschelt, der zur Küche und den Sklavenunterkünften führte. Bei seinem Anblick drängte sich die Frage auf, wie es ihm gelungen war, sein stattliches -238- Bäuchlein zu behalten. »Jobel«, rief Eliset, »richte ein Bad für Fürst Roilant. Danach bringst du den Wein.« Der fette Sklave grunzte unbehaglich und setzte sich zögernd in die angegebene Richtung in Bewegung, dabei schaute er aber immer wieder über die Schulter zurück, als hoffte er, von diesem Auftrag entbunden zu werden. »Ich nehme an, es wird eine Zeitlang dauern?« erkundigte sich der Verursacher dieses unwillkommenen Aufwands. »Ich fürchte schon. Die du gesehen hast, sind die einzigen Diener, die wir haben, die Jungen, der Sklave. Und ich habe eine Zofe – ein Luxus, den Mervary für mich beschafft hat; ich brauche sie nur selten. Sie muß ein schweres Leben gehabt haben.« »Mervary hat sie beschafft -«, der angefangene Satz – er endete: beschafft womit? – war heraus, bevor er es noch recht merkte. Roilant schaute verstört, oder vielleicht fühlte er sich auch unbehaglich. Eliset öffnete den Mund zu einer Antwort, als eine harte Männerstimme von oben auf sie herniederfiel wie ein loser Dachziegel. »Was für ein Kleinigkeitskrämer du noch immer bist, Cousin Pudding. Ich hab’ sie nicht mit Geld beschafft. Ich gewann sie beim Würfeln einem Maultiertreiber ab, der sie sich als Dienerin hielt und sie peitschte wie seine Maultiere, wenn er darauf reiten wollte.« Der Kopf mit dem rötlichgelben Haar hob sich augenblicklich, und die vorstehenden Augen musterten den jungen Mann, der sich einigermaßen leichtsinnig auf ein Stück des verbliebenen Balkongeländers stützte und im wahrsten Sinne des Wortes auf ihn herabsah. Mevary von Beucelair und Flor konnte sich eines sehnigen, -239- kraftvollen Körpers rühmen und sonnte sich in dem Glanz seiner gesunden Sonnenbräune, seiner walnußbraunen Haare und gelben Wolfsaugen. Auch seine Kleider hatten einen gesunden Glanz. Jetzt wurde ersichtlich, wofür ein Teil von Roilants jährlicher Zuwendung ausgegeben worden war. Eliset lachte. »Mevary, komm herunter und sei höflich. Die Entfernung hat deinen Blick getrübt. Unser Cousin ist kein kleiner Junge mehr, sondern ein großer, starker Mann.« »Für mich sieht er so aus wie immer«, antwortete Mevary. Er schlenderte lässig zu einer Stelle, wo das Geländer schon vor längerer Zeit seinen Abschied genommen hatte und sprang zu Boden wie eine große, braune Felskatze, geschmeidig und mühelos. Eliset schlug die Hände zusammen und lachte hell. »Oh, ist er nicht klug?« fragte sie den Dritten im Bunde, der sich unzweifelhaft in seinem ganzen Leben nie an solchen Kunststückchen versucht hatte – wozu man ihn nur beglückwünschen konnte, denn er hätte sich doch nur den Hals gebrochen. »Sehr.« »Und du«, bemerkte Mevary herausfordernd, »bist du klug, Cousin Pudding?« »Ich denke«, erwiderte der andere langsam, »daß ich kein völliger Narr bin.« »Aber ein fülliger Pudding. So eine Menge schönes saftiges Fleisch, sollte er jemals einem Raubtier zwischen die Tatzen geraten.« »Mevary!« ermahnte sie ihn in scharfem Ton. Aber er schaute ihr in die Augen und lächelte. Sie liebten sich, und er hatte keinen Grund, ihren übernatürlichen Zorn zu fürchten, wie es die drei Burschen zu tun schienen, nicht solange er sie befriedigte. Und offenbar befriedigte er sie. Sogar ohne daß sie -240- es beabsichtigten, flossen ihre Körper aufeinander zu, wie Pflanzen unter Wasser. Dann hoben sich die gelben Augen und er sagte: »Ich nehme an, der Bursche da ist dein Diener.« Der Kopf mit der rötlichgelben Haarpracht fuhr herum. Roilants Diener stand tatsächlich neben einem der trockenen Springbrunnen und hatte das Gepäck vor sich auf dem Boden liegen. »Zwei Männer haben mich begleitet.« »Dann können sie gleich wieder verschwinden. Wir können sie hier nicht unterbringen. Sie sollen zusehen, daß sie im Dorf Platz finden, und du kannst das bezahlen, was sie verzehren. Glaubst du wirklich, daß wir es uns leisten können, dich und deine erbärmlichen Fächerschwinger durchzufüttern?« »Schon gut.« Roilant hatte Mevary angestarrt und dabei die Luft angehalten, bis sein Gesicht knallrot wurde. »Und wird man mir die Gnade eines Zimmers erweisen oder übernachte ich in der Zisterne?« »In der Zisterne logiert schon eine stattliche Anzahl von Eidechsen. Du kannst das Zimmer haben, in dem mein Vater gewohnt hat. Ich hoffe, es wird dir gefallen«, meinte Mevary zuckersüß. »Es wird behauptet, daß er nachts hier herumspukt.« Roilant genoß das Bad nach Art der Remusaner, wenn das Wasser auch nur noch lauwarm war. Es gab nur einen wirklich unangenehmen Zwischenfall. Von plötzlicher Sorge um das Wohlbefinden seines Cousins getrieben, nahte Mevary, so leise wie eben möglich. Aber wie es schien, hatte der ingwerhaarige Trottel zumindest ein gutes Gehör, denn er hatte sich bereits von Kopf bis Fuß in ein weites Gewand gehüllt, das erfolgreich alles verdeckte, was er nicht preisgeben wollte. Mevarys offensichtlicher Versuch, ihn in all seiner schwammigen Nacktheit zu überraschen, war fehlgeschlagen. Sich ermorden zu lassen war eine Sache, gedemütigt werden eine andere. -241- »Jobel hätte kommen und dich abschaben sollen. Aber wahrscheinlich gab es ohnehin nicht genügend Dampf«, sagte Mevary. »Was für ein erbärmliches Haus dies ist. Wir essen bei Sonnenuntergang auf der Dachterrasse. Wie mir aufgefallen ist, hast du gar nichts von deinem Wein getrunken. Hast du Angst, daß wir dich vergiften wollen?« Der verhüllte Badbenutzer bedachte ihn mit einem düsteren Blick. »Ja.« »Oh. Dann sollst du einen Vorkoster haben. Dassin wird das übernehmen. Wenn du nicht aufpaßt, ißt er dir alles weg. Aber wirklich, geschätzter Cousin, es hätte auch Gift im Badewasser sein können. Oder in dem Gewand. Vielleicht wurde es auch auf die Delphine am Boden gesprüht und wartet nur darauf, daß du mit deinen formlosen, kleinen rosigen Füßchen darübertrippelst.« Besagte Füße, obwohl weder klein noch formlos oder rosig, verharrten unbeirrt auf den Delphinen aus verwaschenen grünen Mosaiksteinen. »Meine Verlobte«, sagte der Besitzer der Füße. »Warum hat sie ihre Apanage nicht darauf verwendet, das Haus instandzusetzen oder sich selbst ordentlich zu kleiden?« »Glaubst du wirklich, das rührende Sümmchen, das du ihr jedes Jahr zukommen läßt, würde so weit reichen?« »Es hat gereicht, um dich auszustaffieren.« »Schon. Aber sie mag mich.« Mevary glitt wie eine unheimliche Mischung aus Wolf und Katze um das Becken herum und umkreiste das verkrampfte Stoffbündel, das seinen Cousin beinhaltete. »Es ist schade, daß du immer noch vorhast, Cousine Eliset zu heiraten. Sonst hätte ich -« Mevary machte eine bedeutungsvolle Pause – »sie vielleicht genommen. Du weißt natürlich, daß du nach der Eheschließung mit ihr hier leben mußt? Hier, mit Eliset und mit mir, herzliebster Cousin -242- Roilant.« Der herzliebste Cousin Roilant erklärte, daß er nichts dergleichen wisse. »Du würdest sie töten, wenn du sie mitnimmst. Ihr das Herz brechen. Gerris liegt hier begraben, ganz zu schweigen von meinem eigenen betrauerten Vater. Lebende Verwandte, tote Verwandte – wie könnte sie es über sich bringen, sich von uns allen zu trennen?« Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, schritt Mevary davon. Auf halbem Weg in dem steinernen Gang blieb er allerdings noch einmal stehen, wie in Gedanken versunken. Der Gang, ein teilweise überdachter Weg, der früher einmal ein schmaler Hof gewesen war, führte in den inneren Hof mit den ausgetrockneten Springbrunnen. In der Mitte des Ganges, an einer Wand, stand ein alter Brunnen, älter als das Haus, ein beeindruckendes Prachtstück mit gedrehten Säulen und einer Einfassung aus Mosaik. Mevary schien in den Anblick der Blumen und Fische in diesem Mosaik versunken zu sein. Der Brunnen selbst war lange trocken, tot, wie so vieles auf Flor. Was genau Mevary zu einem Grinsen veranlaßte, war nicht zu erkennen. Mit dem Ende des Tages strömte ein wisperndes Feuer vom Meer heran, wo die Sonne auf der Linie des Horizonts dahintrieb. Purpurne Wolken sammelten sich wie eine Flotte über dem Wasser. Das Meer selbst glühte kirschrot, und dieser Glanz überzog auch die Oberfläche aller anderen Dinge: die Mauern des Hauses, den schiefen Turm, die steilen Klippen. Selbst über der Gestalt Elisets lag ein rötlicher Schimmer. Ihre Gestalt erinnerte in nichts mehr an einen Knaben. Sie hatte sich umgezogen. Mevary beobachtete sie, während er unruhig von einer Tür des Dachpavillons zur anderen wanderte. Der Pavillon, ein -243- Achteck, besaß acht Türöffnungen, zu denen einmal acht Türen gehört hatten. Nur noch fünf waren übrig, Türen aus dünnem, fleckigem Elfenbein, und diese standen offen, um den Sonnenuntergang und die Kühle der Nacht hereinzulassen. »Was denkst du von ihm, nach zehn Jahren?« fragte Mevary schließlich. »Er sieht besser aus. Er ist größer, als ich geglaubt hatte.« »Groß?« »Ich dachte nicht, daß er so groß werden würde, wie er es jetzt ist. Er hat schöne Hände. Und sein Kinn ist fester geworden.« »Im Gegensatz zu seinem Wanst.« »Nun«, sagte sie und drehte sich in einem Wirbel aus Stoff und losem Haar, »nicht alle Männer können so schön sein wie du.« Mevary lächelte. Er trat aus dem Pavillon und schritt über die Dachterrasse. Erst als ihre Körper sich berührten, blieb er stehen und legte eine Hand an ihre Hüfte, die andere an ihre Brust. »Er wird«, mahnte sie, »heraufkommen und könnte uns sehen.« »Der Schock würde ihn auf der Stelle umbringen.« Eliset lachte ein weiches, sinnliches Lachen und legte ihre Hände um seinen Nacken. »Aber zuerst muß er mich doch heiraten oder nicht? Aber oh -«, murmelte sie, »wie soll ich nach dir mit einem anderen liegen können? Wie?« »Bedenke, was wir dadurch gewinnen. Du wirst es tun.« »Für dich. Für dich werde ich mich überwinden. Du bist mein einziger Gott, Mevary.« Langsam, langsam neigte er den Kopf und noch langsamer genoß er den Kuß, den er von ihren Lippen nahm. Als sein Mund sich von dem ihren löste, war die Sonne untergegangen und ein durchscheinend blauer Wind vom Meer strich auf -244- seinem Weg ins Landesinnere über das Dach. Aus dem Dämmerlicht ertönten stolpernde Schritte. Mevary und Eliset glitten auseinander. Eine lose Stufe löste sich polternd, und dann erschien ihr Gast taumelnd und keuchend am Kopf der Treppe. »Diese Treppe ist gefährlich.« »Leider, ja -« Eliset. »Oh, leider ja, tatsächlich -« Mevary. »Aber sie hat einen Vorteil; durch den Lärm hört man, wenn jemand kommt.« Dann, nach den Geräuschen zu urteilen, war noch jemand im Anmarsch. Kaum stand der erste Treppensteiger auf dem Dach, als Harmul auftauchte. Er wirbelte in dem Pavillon herum, brachte die niedrigen Tische durcheinander und entzündete unter beträchtlicher Qualmentwicklung die Kerzen. Während die zwei Jungen und der fette Jobel mit Schüsseln und Tellern die Treppe erklommen, hatte Roilant Gelegenheit, Elisets Kleid zu betrachten. Die cremefarbene Seide war mit Perlmutt und Chalzedonen bestickt, der Gürtel, der sich dreimal um ihre Taille schlang und dann noch bis zu ihren Füßen reichte, bestand aus Perlen und purpurner Seide. Eliset sagte leise: »Dieses Kleid verdanke ich deiner Güte, Roilant. Ich trage es, um dir zu danken und dich zu ehren.« Zimir hob den Deckel von einer riesigen, aber kaum halb gefüllten Schüssel, und eine große Motte stürzte sich aus der Dunkelheit in eine der Lampen. Das Essen war interessant, nicht aufgrund der Speisen, sondern wegen der Begleitumstände. Dassin, den Mevary als Roilants Vorkoster bestellt hatte, stopfte alles in sich hinein, was ihm in die Hände viel. Eliset schien bedrückt, sowohl wegen Mevarys geschmacklosem Scherz, als auch wegen der sich anbietenden Schlußfolgerung. Aber je mehr ihr ingwerhaariger -245- Gast die Notwendigkeit eines Vorkosters bestritt, desto nachdrücklicher winkte Mevary Dassin an den Tisch. Dassin gehorchte bereitwillig. Bis sein unfreiwilliger Arbeitgeber alle Gegenwehr aufgab und ihm eigenhändig den Weinbecher reichte. »Womit jedem klar sein dürfte«, bemerkte Mevary, »daß wir den Plan, ihn durch Gift loszuwerden, fallen lassen müssen. Oder aber wir verlieren außerdem noch einen unserer kostbaren Diener.« Eliset schwankte zwischen Lächeln und offensichtlicher Verzweiflung. »Denkst du wirklich so schlecht von uns?« fragte sie. »Daß wir, deine Blutsverwandten, versuchen würden, dir ein Leid anzutun?« »Ich wurde gewarnt, daß so etwas möglich sein könnte.« »Wer hat dich gewarnt?« rief sie. Sie schien sich getroffen zu fühlen und wirkte plötzlich sehr wachsam. »Aber«, sagte der unattraktive Gast und wusch seine so wider Erwarten bewunderten Hände in der Fingerschale aus blindem Metall, »ich hörte nicht auf dieses Geschwätz. Wäre ich sonst hier hergekommen? Ich habe die Absicht, dich zu meiner Frau zu machen. Es wird dich interessieren zu hören, daß ich oft von dir geträumt habe. Selt same Träume, die mich an die Pflicht – und, äh, natürlich – das Vergnügen erinnerten, den Vertrag einzuhalten, den unsere Väter für uns abschlossen.« »Träume«, meinte Eliset. Ihr Gesicht war so bleich wie ihr seidenes Kleid, ihre Augen so kalt und ausdruckslos wie die Chalzedone, mit denen es bestickt war. »Ich habe dich nie für jemanden gehalten, Roilant, der sich von Träumen beunruhigen läßt.« »Dieser Traum aber war besonders eindeutig. Und er kehrte mehrmals wieder. Irgendwie hing er mit den getrockneten Blumen zusammen, die du mir vor langer Zeit geschickt hattest -246- – und mit dem kleinen Amulett, das nach dem unzeitigen Tod meines Vaters eintraf. Du standest vor mir, bewegungslos und bleich. Der Bund ist geschlossen und darf nicht gelöst werden, hast du gesagt. Komm zu mir, bevor der Monat herum ist.« Eliset lachte gezwungen. Jedenfalls bemerkte ihr Gegenüber, daß es nicht echt war, obwohl es so frisch und perlend klang wie ein über Felsen herabfallender Bach. »War ich tatsächlich so dreist?« Der dickliche Erzähler schien das Unpassende seiner Wortwahl zu erkennen und hüstelte in seine Serviette. Der hagere, sehnige Cousin bemerkte honigsüß: »Vielleicht hat eine uneingestandene Sehnsucht dich veranlaßt, Eliset, ihn im Schlaf zu besuchen und an sein Versprechen zu erinnern«. »Ich glaube nicht an so etwas«, wies sie ihn zurecht. Sie war erregt und suchte sich zu fassen. Die Hexe und ihre Zauberkünste aus der Nähe zu beobachten, war also doch ganz interessant. »Und doch glaubst du daran, daß es in diesem Haus spukt«, sagte Mevary. »Themawechsel? Wir haben mehr Geister hier als lebende Menschen, Roilant. Soll ich sie aufzählen? Mein Vater, behauptet man wenigstens. Elisets alte Amme, Tabbit. Dann gibt es da noch eine ganze Legion Remusaner, die kommen und gehen, Trompete blasen und Militärmärsche singen. Das Badehaus ist auf jeden Fall eine Brutstätte von Gespenstern. Nach Einbruch der Dunkelheit wagen sich die Diener nicht einmal in die Nähe, und auch tagsüber betreten sie es nur ungern. Habe ich recht, Dassin?« Dassin schluckte eine große Feige hinunter und rollte die Augen. »Wir haben Geräusche gehört. Und Lichter gesehen, in dem Gang, der früher mal ein Hof war.« Dassins Entsetzen wirkte echt. Er war blaß geworden, aber das war vielleicht nur eine Folge seiner Gefräßigkeit oder das erste Anzeichen für eine Vergiftung. »Vor einem Monat«, fuhr er aufgeregt fort, »schlief -247- Jobel in der Nähe des Badehauses ein, als er sich vor der Arbeit drücken wollte. Er wachte erst wieder auf, als es dunkel war, und sah ein Licht aus dem Brunnen scheinen. Er ging hin und schaute hinab und sah plötzlich Wasser in dem sonst trockenen Schacht und darauf schwamm ein winziges Schiff, nicht größer als meine Hand, mit kleinen Fackeln und einem kleinen roten Segel -« Mevary johlte vor Vergnügen und rollte über die Kissen, bis sein Kopf in Elisets seidenem Schoß zu liegen kam. »Du sollst dich über solche Erscheinungen nicht lustig machen«, sagte Eliset ruhig. »Die Welt ist voller unbegreiflicher Dinge. Auch ich habe manchmal die Stimmen der Geister und den Klang der Trompeten gehört -« »Kleine Gespensterschiffchen, die in dem Brunnen herumschwimmen -« ächzte Mevary. »Ja, Herr, ja«, bestätigte Dassin eifrig. »Sei still«, sagte Mevary. »Verschwinde. Fürst Roilant braucht dich nicht mehr. Geh und genieße deine Bauchschmerzen, oder stirb an Gift.« Dassin grapschte zwei Händevoll Brot und Früchte und floh aus dem Pavillon und von dem Dach. Seinem Verschwinden folgte eine Stille, die nur von dem Rauschen des Meeres unterbrochen wurde. Auf unerklärliche Weise schien dieses Geräusch nicht nur vom Strand, sondern auch aus dem Inneren des Hauses zu kommen, ein gedämpftes, geheimnisvolles Singen. Und auf dem Festland sang eine Nachtigall; ihr zartes Lied klang in der weit offenen Schale der Nacht, so strahlend und klar, wie das Kristall von Flor es nicht war. »Dieser Ort ist so schön«, sagte Eliset plötzlich wie geistesabwesend. Ihre Augen waren zwei blaue Flammen. »Ich würde alles tun, um Flor zu behalten. Selbst wenn alle Dächer eingestürzt sind, wenn kein Stein mehr auf dem anderen liegt, -248- werde ich hier zwischen den Ruinen leben. Und wenn ich sterbe… ja, auch mein Geist wird hier umherwandern. Ich hätte nicht den Wunsch, im Grab zu ruhen.« »Roilant hat entschieden, daß du in Heruzala wohnen wirst«, unterbrach sie Mevary. Der Glanz in ihren Augen erlosch. Sie betrachtete ihren zukünftigen Gatten nicht mit Abscheu, aber mit einer sachlichen Zärtlichkeit. Er hatte einen ähnlichen Ausdruck auf den Gesichtern von Henkern gesehen, kurz bevor sie das Schert hoben. »Dann werde ich natürlich gehorchen. Meine Worte kamen aus dem Herzen, nicht aus dem Verstand. Hör nicht auf mich, Roilant. Ich werde ohne Widerrede mit dir gehen. Vorausgesetzt, daß sich jemand findet, der das Grab meines Vaters pflegt – er liegt hier begraben, neben dem Turm. Morgen, wenn du erlaubst, werde ich dir die Stelle zeigen.« Diese vergnügliche Aussicht hob seine Stimmung keineswegs. »Habe ich es nicht schon bei meinem letzten Besuch gesehen?« versuchte er abzuwehren. »Damals fehlte noch die Steinfigur.« Das machte natürlich einen Unterschied. Bald danach berief sich der Gast auf die Beschwernisse der Reise und entschuldigte sich. »Wenn mein toter Vater dich aufweckt«, rief Mevary ihm nach, »richte ihm meine besten Grüße aus. Ruhe in Frieden, Roilant.« Um Mitternacht saß Roilant, statt friedlich zu ruhen, unter der Buche zwischen den Obsthainen und dem Herrenhaus von Flor. Der Mond war längst über das Haus hinweggewandert und schwamm über dem Meer; wegen des dazwischenliegenden -249- Gebäudes drang sein Licht nicht mehr bis zu Roilant. Daher war es unter dem Baum dunkel, was Roilant nicht eben begrüßte. Er, der erst vor kurzem zum Aberglauben bekehrt worden war, besaß keine Abwehrkräfte gegen so etwas Unangenehmes wie Angst vor der Dunkelheit. Auch hatte der Anblick von Flor eigenartige Gefühle in ihm geweckt. Während er auf Cyrion wartete, mit dem er sich hier treffen wollte, jagten sich in Roilants Kopf Jugenderinnerungen an Eliset und übermächtige Zweifel. Vielleicht war die Erscheinung gar keine Drohung gewesen, sondern er hatte sie nur als solche angesehen. Und das Dach mochte zufällig eingestürzt sein – an dem Tag hatte es heftig geregnet. Vielleicht war Elisets Hoffnung darauf, aus der Armut erlöst zu werden und wieder in einer standesgemäßen Umgebung zu leben, so stark gewesen, daß sie vor ihm Gestalt angenommen hatte. Also keine Zauberei, sondern nur die Kraft eines starken Willens, der noch von ungestümer Sehnsucht unterstützt wurde. Und vielleicht Roilant schreckte aus seinen Gedanken auf. Eine schattenhafte Gestalt war zwischen den Bäumen hinter ihm zum Vorschein gekommen und setzte sich neben ihm ins Gras. »Eine wunderschöne Nacht«, bemerkte Cyrion. »Ihr seid aus einer anderen Richtung gekommen, als ich angenommen hatte.« »Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Ich habe einen Umweg gemacht.« »Falls Euch jemand beobachtete?« »Ich glaube nicht, daß mich jemand beobachtet hat. Dassin, der Eure Tür bewachen sollte, unterlag dem Pulver, das heute Abend in Euren Wein rieselte. Es machte ihn überaus gesprächig, aber anschließend schlummerte er sanft ein. Was den Umweg betrifft, so habe ich lediglich die Gegend erkundet.« -250- »Wie ist Euch das mit dem Pulver gelungen?« »In einem Ring«, sagte Cyrion. »Erinnert Ihr Euch an Sabara? Ich hatte mir noch etwas ausgedacht, falls Mevary einen der drei anderen als Wache einteilte.« Roilant neigte sich ein wenig zurück. Obwohl er nachts nicht besonders gut sehen konnte, musterte er, Cyrion eingehend. Schließlich bemerkte er: »Und so sehe ich in Euren Augen aus?« »Nein. Ich sehe so aus, wie sie erwartet haben, daß Roilant aussehen würde.« »Eine Übertreibung also. Ich bin kein eitler Mensch, aber -« »Aber das hier ist ziemlich plump, und mit Absicht. Ihr und ich sind uns nicht ähnlich, und sie haben Euch ein- oder zweimal gesehen, wenn auch nur kurz und vor langer Zeit. Daß ich größer bin, als sie erwarteten, ist glaubhaft, denn junge Männer wachsen, obwohl es Mevary nicht gefällt, daß Ihr jetzt fünf Zentimeter größer seid als er selbst. Morgen wird er wahrscheinlich Stiefe l mit hohen Absätzen tragen. Und das übrige, nun, die Polster am Leib sind übertrieben und hätten mich im Badehaus beinahe verraten, wäre ich nicht darauf vorbereitet gewesen, von irgend jemandem überrascht zu werden. Die Polster in meinen Wangen sind auch nicht viel sicherer und eine Plage. Meine eingestandene Furcht vor Gift wurde allerdings noch glaubhafter dadurch, daß ich bei Tisch so lustlos gegessen habe. Die Tränensäcke unter meinen Augen jucken. Ich bin sicher, daß es Euch freut, das zu hören.« »Und Eure Haarfarbe soll wohl einer Orange ähneln?« »Der Karikatur einer Orange, versichere ich Euch.« Roilant lächelte und mußte dann wider Willen lachen. »Wahrscheinlich verdiene ich diesen Schlag gegen mein ohnehin unterentwickeltes Selbstbewußtsein. Ihr wagt Euer Leben für mich.« -251- »Tatsächlich?« Cyrion, der die Polster aus seinen Wangen entfernt hatte, biß in einen der vorzeitigen Pfirsiche Flors. »Und was habt Ihr zu berichten?« »Mein Diener machte den Priester, von dem Ihr gesprochen habt, ausfindig. Alles ist so vorbereitet, wie es vereinbart war.« »Eure beiden Diener wurden in das Dorf zurückgeschickt, wie ich es vorausgesehen hatte. Mevary braucht keine überflüssigen Zeugen bei was immer er auch tut. Sie wurden angewiesen, nach einiger Zeit Langeweile v orzutäuschen und nach Cassireia zu reiten, nicht ohne sich vorher den Dorfklatsch anzuhören.« »Ich habe in beiden Dörfern meine Rolle als vermummter Reisender gespielt. Aber der einzige Klatsch den ich gehört habe, war schiere Phantasterei. Weibliche Dämonen, halb Fisch, halb Frau, die sich singend aus dem Meer vor den Klippen erheben. Sie stehlen Schiffe, wenn es ihnen gelingt, sie in die Irre zu leiten, und auch kleine Kinder, während sie die Männer ihrer Gottheit opfern.« »Ein eintöniger und recht unappetitlicher Lebensunterhalt. Und was ist mit dem Schatz, der auf Flor vergraben sein soll?« »Welcher Schatz?« »Eure Cousine Eliset hat ihn erwähnt. Der Hort einer geisterhaften Legion Remusaner, den sie, wie es sich gehört, in dem Badehaus zurückließen.« »Ich glaube«, meinte Roilant vage, »das war ein Spiel, das ich als Kind spielte, und nicht mehr.« Eine Pause und dann, bestimmter: »Es wird Euch seltsam vorkommen – oder vielleicht auch nicht. Gerade ist mir eingefallen, daß auch ich einmal einen Geist in dem Badehaus gesehen zu haben glaubte, einen Knaben, mit einem Tuch um den Kopf – er verschwand in dem Gang. Ich war auch nur ein Junge und zu Besuch. Ich habe nie davon gesprochen.« Cyrion sagte nichts, bis Roilant, der sich fragte, ob man ihm überhaupt zuhörte, fragte: »Was jetzt?« »Nichts. Noch sind, sie am Zug. Haltet Euch nur bereit. Ihr -252- erinnert Euch doch noch an die Rolle, die Ihr spielen sollt?« »O ja. Sie hat einen gewissen grimmigen Humor. Ihr wollt gehen?« »Ich überlasse Euch der Nacht.« »Wartet -« Cyrion blieb stehen. Seine Haltung war anmutig wie immer, trotz der neuen und nicht sehr ansehnlichen Körperformen, die er der Polsterung verdankte. »Ist sie«, sagte Roilant, »ist Eliset das – wofür ich sie halte?« »Ich hörte einen Teil eines Gesprächs zwischen Euren beiden Cousins auf der Dachterrasse. Sie sagte ihm, er sei ihr einziger Gott, und die darauffolgende Umarmung war nicht rein freundschaftlich. Sie bemerkte auch, daß Ihr nicht sterben dürftet, bevor Ihr sie nicht geheiratet hattet.« »Ah.« Roilant senkte den Kopf. »Nicht, daß ich sie liebte. Aber es bedrückt mich, so von ihr zu denken.« »Dann, mein Freund«, sagte Cyrion, »denkt nicht so von ihr.« Mit nur dem leisesten Rascheln der Grashalme war er verschwunden. Der einfachste Weg, um das Haus zu verlassen, führte durch den kleinen, von einer Mauer umgebenen Garten neben dem Badehaus und über ebendiese Mauer hinweg, wo fehlende und schief übereinandergesetzte Steine guten Halt boten. Auf demselben Weg kehrte Cyrion auch wieder zurück und hielt nur einen Augenblick inne, um den Wachtturm am Rande der Klippen zu betrachten. Vor dem schwindenden Mondlicht hoben sich die Umrisse des Gebäudes scharf ab, die deutliche Schräglage, die zerklüftete Brustwehr, die zwei oder drei schwarzen Fensteröffnungen. Er sah mehr nach einem Spukhaus aus als alles andere, während auf dem Abhang davor eine Ansammlung von Sarkophagen den Friedhof von Flor -253- bezeichnete. Eine perfekte Ergänzung. Die unförmige Gestalt glitt die Mauer empor, schwang sich in den Hof des Badehauses und huschte aus dem fahlen Mondlicht durch einen Seiteneingang in das düstere Innere des Hauses hinein. Der Raum lag völlig im Dunkeln, nur das Wasser in den Becken, das nicht abgelassen worden war, schimmerte geisterhaft unter einem hohen, unverschlossenen Fenster. Cyrion umrundete ein Zierbassin mit dem Relief einer Seeschlange und bog in den Gang ein, der zum Innenhof des Hauses führte. Auf halbem Wege blieb Cyrion, wie auch Mevary es vorher getan hatte, neben dem eindrucksvollen, aber ausgetrockneten Brunnen stehen. Schon am Abend hatte er eine Lampe bemerkt, die an einem Messinghaken über dem Brunnen hing, aber sie anzuzünden war wegen der Öffnung im Dach zu gefährlich. Statt dessen wurden Feuerstein, Zunder und ein Stück Kerze in Gebrauch genommen. In dem matten Lichtschein wurden die Farben des Mosaiks an der hinteren Einfassung des Brunnens sichtbar. Cyrions Untersuchung des oberen Brunnenteils war sorgfältig, aber wenig aufschlußreich. (Mevarys Verhalten, als er neben dem Brunnen stehengeblieben war, hatte Cyrion auch keinen Hinweis darauf gegeben, nach was er suchen sollte.) Die gedrehten Säulen stützten ein Dach, das überflüssig geworden war, als man den gesamten Hof überdachte. Die Ketten, an denen man große Eimer hinablassen konnte, waren verschwunden, aber die bronzenen Befestigungen befanden sich noch an Ort und Stelle: zwei Löwenköpfe mit großen Ringen zwischen den Kiefern. Durch die Ringe führte ein dickes Tau, das dann straff in den Brunnenschacht hing, als wäre es mit einem Gewicht beschwert, aber es endete nutzlos in den Schatten über dem nackten Steinboden, ungefähr fünfzehn Meter weiter unten. Der Boden war in der Mitte sauber, glatt -254- und vollkommen leer. Kein Wasser blinkte geheimnisvoll, kein Geisterschiffchen tauchte auf. Gedankenverloren hob Cyrion eines der dürren Blätter auf, die durch die Löcher im Dach hereingeweht worden waren. Er ließ es in den Brunnen fallen und sah zu, wie es langsam in die Tiefe schwebte. Wenige Augenblicke später löschte er die Kerze. Merkwürdigerweise blieb es trotzdem hell. Ein geisterhafter Lichtschimmer näherte sich tanzend in dem Gang. Dahinter bewegte sich eine dunkle Gestalt. Cyrion schob die Kerze in sein Hemd – zwischen den Polstern konnte er allerlei unterbringen – und schritt auf das neue Licht zu. E hatte beinahe den Bogen erreicht, der zu dem Innenhof r führte, als das Licht und die dunkle Gestalt mit ihm zusammenstießen. Die Gestalt wich zurück und hob einen Flügel. Etwas funkelte. Eine drohende Stimme flüsterte: »Dämon oder Geist, hebe dich hinweg. Ich befehle es dir bei der Macht dieses Amuletts.« Cyrion, ingwerhaarig, eulenhaft, alle Polster an Ort und Stelle, stand regungslos in dem Lichtkreis einer kleinen, antiken Öllampe. Die schmale Hand, die die Lampe hielt, zitterte nicht. Die andere schmale Hand hielt einen großen Skarabäus aus poliertem grünem Stein in die Höhe, in den magische Augen und ähnliche Symbole eingraviert waren: ein Talisman, in dessen Wirksamkeit die Gestalt großes Vertrauen zu setzen schien. Die Gestalt war überdies weiblichen Geschlechts und sehr schön. Cyrion starrte ihr ins Gesicht und machte – in seiner Rolle als Roilant – einen dümmlichen Eindruck. Sie starrte in sein Gesicht und holte tief Atem. Die Hand mit der Lampe begann zu zittern und Öl tropfte auf die trockenen Blätter am Boden. »O Herr – Ihr seid Fürst Roilant, nicht wahr? Vergebt mir, Herr.« -255- »Oh -«, sagte Cyrion verwirrt und immer noch dümmlich starrend. »Herr, ich sah ein Licht, das sich bewegte. Man wird Euch gesagt haben, daß in diesem Teil des Hauses – übernatürliche Dinge geschehen. Ich hatte Angst. Aber da es mir noch schrecklicher erschien, von diesem Ding verfolgt zu werden, lief ich darauf zu und vertraute auf das Amulett, das mich schon früher beschützt hat.« »Ich konnte nicht schlafen«, sagte Cyrion. »Als mir dann einfiel, daß ich ein Kleidungsstück in dem Badehaus liegengelassen hatte, wollte ich es holen. Es war mein Licht, daß Ihr gesehen habt.« Sie musterte ihn eingehend. Ob sie ihm glaubte, war nicht zu erkennen, aber sie machte eine anmutige Verbeugung, bei der, als das Licht ihrer Lampe über sie fiel, ihre Schönheit voll zur Geltung kam. Sie hatte eine zarte, olivfarbene Haut, aber ihre Augen waren von einem kühlen Silbergrau. Dunkles, schimmerndes Haar fiel schwer bis zu ihren Knien hinab und als es bei der Verbeugung über ihre Schultern glitt, verlieh der Lichtschein ihm einen flüchtigen rötlichen Glanz. »Herr«, murmelte sie, »ich bin Jhanna, die Sklavin der Fürstin Eliset. Herr -«, wieder schaute sie ihm ins Gesicht, schloß ihre Augen, wie um zu beten, öffnete sie wieder und fuhr hastig fort: »Ich flehe Euch an, erzählt ihr nicht, daß Ihr mich hier gefunden habt. Ich – habe Angst vor ihr, Herr. Sie wird mich schlagen oder noch Schlimmeres. Viel schlimmer. Ich bitte Euch -«, plötzlich lag sie inmitten trockener Blätter im Staub auf den Knien, ohne dabei etwas von ihrer Würde einzubüßen, das Nachtgewand glitt von einer seidigen Schulter herab, ihre Lider bebten und auch ihre Hände, so daß der Lichtschein über die Wände tanzte. »Ich habe von Eurer Freundlichkeit gehört. Habt Mitleid.« Mit angestrengt gerunzelter Stirn suchte Cyrion nach Worten. -256- Schließlich fand er etwas Passendes. »Steh auf. Es ist nicht nötig, daß du vor mir kniest. Ich werde nichts sagen.« Sie erhob sich wie eine Königin. Ihre Erregung war verschwunden. »Ich glaube Euch, Herr. Ihr werdet eine Frau, die hilflos und allein in einer Schlangengrube lebt, beschützen.« Cyrions Stirnrunzeln wurde noch angestrengter. »Was für Schlangen?« Ihre Zähne blinkten gefährlich weiß, und das Lächeln, das sie enthüllte, war ebenso gefährlich. »Ihr wißt es, Herr. Eure Cousins. Er ist ein grausamer Unhold. Sie eine Hure. Und – eine Hexe.« Dieses letzte kam zischend, wie sie die Beschwörung hinter dem Schild des grünen Skarabäus gezischt hatte. Ihre Augen, kühn wie die eines jungen Kämpfers, blickten in Cyrions dunklere, momentan weniger eindrucksvolle. »Kommt«, sagte sie, »ich bin in Eurer Hand. Ihr könnt offen zu mir sein, die ich weniger bin als nichts. Ihr wäret nicht hierher gekommen, in diesen Pfuhl des Bösen, wenn sie Euch nicht mit ihren bösen Künsten gezwungen hätte. Ich habe von Euch gehört. Von Eurer Anständigkeit, Eurer weisen Erhabenheit. Daß Ihr Euch mit einer anderen vermählen wolltet, einer reinen Jungfrau in Heruzala. Wollt Ihr Euch denn von der Reinheit der Sünde zuwenden? Sie hat Euch mit Ihren Künsten verhext und mit ihrem schönen Körper. Seid Ihr verloren, Herr? Oder könnt Ihr Euch noch befreien? Gibt es einen Weg?« »Ich glaube kaum«, begann Cyrion pompös. Dann zerbrach sein aufgesetztes Gehabe unter ihrem unbeirrbaren Blick. »Dies ist kaum der Ort, um darüber zu sprechen«, endete er lahm. Jhanna senkte die Augen und hob sie wieder. Sie sah aus wie eine Prinzessin. Sie sagte stolz, sogar hochmütig: »Ihr dürft mir zu meiner Kammer folgen, Herr. Ich vertraue darauf, daß Ihr mir -257- kein Leid zufügen werdet. Und wenn doch, was macht es aus? Schon vor langer Zeit fiel meine Keuschheit dem Fürsten Mevary zum Opfer, der mich vergewaltigte und mich jetzt noch gegen meinen Willen als seine Geliebte hält. Einmal versuchte ich ihn zu töten. Das war das Ergebnis -« sie drehte den Kopf und strich sich ihr Haar zurück. Ihr fehlte das rechte Ohrläppchen. Cyrion fluchte leise. »Mit dem Messer«, sagte sie, »mit dem ich ihn töten wollte. Er ist gerecht, Herr, wie Ihr zugeben werdet.« »Zu Eurem Zimmer«, willigte er ein. »Seid beruhigt, ich würde nicht – du hast nichts von mir zu befürchten.« »Kommt also. Ich will Euch jetzt gestehen, daß ich gelogen habe. Ich war auf der Suche nach Euch, und Gott hat mir die Gnade gewährt, Euch zu finden. Ich schwöre, daß ich Euch helfen werde, wo ich nur kann, um Euch zu schützen und jene zu vernichten, die ich hasse.« Ihr Gesicht sagte alles. Kein Mensch mit auch nur ein bißchen Verstand oder Beobachtungsgabe hätte ihre Worte angezweifelt. Selbst Cyrion hatte keinen Zweifel. Ihre Ausstrahlung war wie ein Schlag. Dann berührte sie mit dem Talisman ihre Stirn und löschte die Lampe. »Bleibt dicht hinter mir. Sie werden nichts merken. Sie sind zusammen in ihrem Bett.« Cyrion dankte ihr nicht für diese Enthüllung. Er wußte es bereits. Sehr vorsichtig und leise bewegten sie sich durch den Innenhof, umgingen die Zisterne und hielten sich im Schatten der Mauer. Erst als sie den kurzen Gang hinter sich hatten, der zu dem tiefer liegenden Küchenhof führte, stolperte Cyrion über einen Stein. Selbst das verursachte kaum ein Geräusch. -258- In dem Hof befand sich ein Brunnen, der letzte Brunnen Flors, und darum herum gruppierten sich das Küchengebäude, das Waschhaus und die im Dunkel liegenden Unterkünfte der Diener und Sklaven. Früher einmal war es hier geschäftig zugegangen, selbst nachts, und durch einen anderen Torbogen hatte man die Pferde hören können, aber das war vorbei. Jetzt rasche lte nur noch ein verdorrtes Schlinggewächs an der Mauer. Nirgendwo schien ein Licht. Das Mädchen führte ihn durch eine niedrige Tür in einen Raum, in dem es vollkommen dunkel war. Sie bewegte sich rasch und sicher in der ihr vertrauten Umgebung, rückte einen Wandschirm vor die Tür und zog noch einen Vorhang darüber. Die Lampe wurde wieder entzündet. Es war ein Raum ohne Fenster. Die Kammer einer Sklavin. Sie hatte ein paar Einrichtungsgegenstände zusammengetragen, eine Truhe, eine Waschschüssel und einen Krug, einen Stuhl. Das Bett war das einzige verhältnismäßig prunkvolle Möbelstück, eine Matratze mit Kissen, Teppichen and einem Knäuel von drei oder vier Tüchern, deren oberstes zartgelb schimmerte. Sie deutete auf das Bett und sagte kalt: »Wenn er hier ist, möchte er weich liegen.« Dann machte sie eine Handbewegung zu dem Stuhl. »Ich kann Euch keinen anderen Platz anbieten.« »Ich werde stehen. Außerdem werde ich nicht lange bleiben. Diese Dinge, die du gesagt hast – du brauchst keine Angst zu haben, daß ich dich hintergehe. In gewisser Weise ist es mir genauso ergangen, wie du angedeutet hast. Ich wurde herbefo hlen und konnte nichts dagegen tun. Aber«, sagte er, »immerhin war es tatsächlich meine Pflicht. Ich wollte die Verlobung auflösen. Nun hoffe ich, wenn ich den Vertrag einhalte und sie heirate -« »Dann«, unterbrach Jhanna ihn mitleidig, »wird sie Euch töten. Sie giert nach dem ganzen Reichtum von Beucelair, damit er und sie ihn verschwenden können und alles zugrunde richten, -259- wie sie diesen Besitz zugrunde gerichtet haben. Nach dem Vorbild ihrer ehrenwerten Ahnen.« Cyrion sah sie bedrückt an. »Nun«, stotterte er, »es scheint – scheint, daß ich meinem Schicksal nicht entgehen kann.« Sie atmete heftig. »Ihr könntet sie töten.« »Ich kann nicht -« »Skrupel, trotz ihrer schwarzen Hexenkünste? Habt keine Bedenken, Herr. Sie ist eine Hexe.« »Nun… welche Waffe würde denn gegen ihre Künste helfen? Und wie kann man eine Entdeckung vermeiden?« »Ha«, sagte sie, »Ihr lernt schneller, als ich dachte.« »Ich bin ein verzweifelter Mann«, er zuckte hölzern die Schultern. »Ich wollte Euc h nicht beleidigen, vergebt mir. Aber Ihr begreift schneller, als ich zu hoffen wagte.« Sie war wie Feuer, das im geheimen brannte, aber um so heißer. »Also gut, es könnte eine Möglichkeit geben, sie zu überwinden und zu strafen. Wollt Ihr mir zuhören?« Die rundliche Gestalt bewegte sich zur Tür. Und setzte sich auf den Stuhl dort. »Ich werde zuhören.« 2. Kapitel Es stimmte. Eliset war wie der Morgen. Das reine Gold ihrer Haare, über denen heute ein zarter Schleier lag wie silbern schimmernder Dunst, die weiße, makellose Haut und das weiße Kleid. Ihr erster Auftritt in dem verschlissenen Kleid hatte einen Eindruck erweckt, vor dem Mevary sie gewarnt haben mußte, nach Roilants Bemerkung im Badehaus über den Unterschied in -260- der Kleidung von Cousin und Cousine. Vielleicht hatte sie beim ersten Mal gehofft, an sein Herz zu rühren. (Seltsame Idee – das Herz seines angstvollen Opfers zu rühren – wahrscheinlich gehörte es zu ihrem beiderseitigen Spiel, ihrer Falschheit und seinem Selbstbetrug.) Bei diesem ersten Treffen hatte sie außerdem eine hohlköpfige Koketterie und Albernheit zur Schau getragen, die seither verschwunden waren. Eliset war sich seiner sicherer geworden, ihres gehorsamen Cousins Roilant. Oder das Gegenteil. Jetzt stand sie in dem spärlichen Schatten eines kleinen Baumes mit gelben Blüten und legte ihre Hand, an der kein einziger Ring funkelte, auf den grauen Steinblock. »Hier liegt er begraben, mein Vater Gerris.« »Oh, ja.« »An seiner Seite war ein Platz für meine Mutter vorgesehen. Aber sie starb im Westen, weit von hier entfernt, und liegt dort begraben.« Ernst und schweigend stand er neben ihr vor dem Grab. »Mein Vater wollte eine Kapelle neben dem Turm bauen«, erzählte sie. »Aber er verlor sein Vermögen. Es gab keine Kapelle. Und als ich dreizehn war -« »Ja. Natürlich.« »Dann kam sein Tod«, sagte sie. »Er war unerklärlich und grausam. Wir holten einen Arzt, aus Cassireia. Wir bezahlten ihn in Gold. So viel wir uns leisten konnten. Und mehr. Aber der Mann konnte nichts tun. Nichts. Man sprach sogar von Zauberei, Roilant.« Falls das als Drohung gemeint war, so konnte sie kaum deutlicher sein. In ihrer angenehmen Stimme lag dabei kaum ein Gefühl. Und ja, nach einer taktvollen Pause hob sie den Kopf, schaute ihn an und sagte: »Ich muß das ganz offen zur Sprache bringen. Du hast die Absicht, mich zu heiraten?« -261- Er wurde rot. (Wie viele Frauen beherrschte Cyrion diesen Trick; das I-Tüpfelchen auf seiner exquisiten Verstellung.) »Verzeih mir«, beschwichtigte sie ihn, »es gehört sich nicht, daß ich so zu dir spreche und ich weiß es. Aber in meiner Lage - « »Eliset, meine – Liebe. Ja, ich beabsichtige tatsächlich das Versprechen von damals einzulösen. Trotz des rechtlichen Schreibens, das ich dir schickte und das du mir auf so einziga rtige Weise zurückgesandt hast – und dessentwegen ich einen so seltsamen Traum hatte -« »Ein Brief?« Ihre Verwirrung war bezaubernd unschuldig. »Ich habe keinen Brief von dir erhalten, bis auf den, in dem du mir versprachst, am Ende des Monats hier zu sein.« »Es gab noch einen anderen Brief. Aber das ist nicht mehr wichtig.« »Aber ja doch. Ein rechtliches Schreiben, sagst du? Und daß ich es zurückgeschickt hätte?« »Vielleicht habe ich das auch nur geträumt. Ich habe doch schon gesagt, daß meine Träume in letzter Zeit eigenartig waren, wirr. Ohne Zweifel plagte mich Schuldbewußtsein, weil ich zugelassen hatte, daß sich solch eine Kluft zwischen uns auftat.« »Aber Roilant -«. Plötzlich lächelte sie. Anscheinend war sie bereit, das Spiel für diesmal zu beenden. Sie war zufrieden. »Soll es so sein, wie du wünscht. Wir werden den Brief vergessen.« »Ja.« Er räusperte sich und betrachtete die Steinfigur auf der Grabplatte, die über einem Schwert gekreuzten Hände, das bärtige schlafende Gesicht. Weiter unten breiteten sich feuchte Flecken auf dem Stein aus, und weißliches Moos begann eine Hülle für das Grab zu weben. »Da ist noch etwas. Unsere Vermählung, der ich mit Freuden entgegensehe, muß sich den Umständen anpassen. Ich bedaure, daß es – Gerüchte über dein Leben auf Flor gibt. Allein die Tatsache, daß du nach dem Tod -262- deines Vormunds überhaupt hier geblieben bist, mit Mevary…« Ihre Augen waren nicht länger unschuldig. Sie waren eisig. »Und wo sonst sollte ich leben? Ich habe keine anderen lebenden Verwandten, außer dir.« »Vielleicht in eine m Kloster.« »Kloster? Flor ist an meinen Onkel Mevary übergegangen, aber bei meiner Heirat sollte es an mich fallen. Und sollte ich es der Obhut von Mevarys Sohn überlassen? Niemals!« »Als meine Frau wirst du in Heruzala wohnen.« »Ja«, sagte sie. »Ja, dann werde ich Flor für immer verlieren, nicht wahr? Meine gesetzliche Mitgift, auf der mein Cousin leben wird. Und er wird sie unwiderruflich zugrunde richten.« Sie nahm die Hand von dem Grabstein und legte sie vor die Augen. »Aber was mache ich mir Sorgen.« Ihre schauspielerische Leistung war, wie man zugeben mußte, eindrucksvoll. »Ich muß eines klarstellen, Eliset, obwohl es mich schmerzt, dich zu verletzen«, beharrte er eigensinnig. »Du mußt dich mit einer bescheidenen, sogar heimlichen Hochzeit zufrieden geben. So wie du gelebt hast, ist es nicht anders möglich.« »Nein?« Sie ließ die Hand sinken. Sie lächelte ohne Grund. Natürlich konnte sie als Hexe ihn zu jeder Art Hochzeitszeremonie zwingen, die ihr in den Sinn kam. Aber nein, vielleicht gehörte es zu ihrem Spiel, ihrem Opfer in kleinen Dingen den Willen zu lassen, so daß er sich selbst zum Narren halten konnte, Narr, der er offensichtlich war. Damit er sich selbst einreden konnte, daß der Zauber, der ihn beeinflußte, nichts anderes war als Träume und die Auswirkung eines schlechten Gewissens. Man konnte sich vorstellen, wie sie darüber nachdachte, während sie dastand und ihn dann wieder anblickte. »Ich werde tun«, sagte sie, »was immer du willst. Mit -263- Dankbarkeit. Und ich werde dir eine gute Frau sein. Eine ehrbare Frau. Du wirst keinen Grund zur Klage haben.« Tote Ehemänner beklagen sich allerdings selten. Sie gingen zwischen den verwitterten Grabsteinen umher. Es waren nicht viele, Flor befand sich erst seit einem Jahrhundert in dem Besitz der Familie. Bis zum Turm war es nicht weit, das Sonnenlicht vergoldete die Steine und schimmerte auf den Blumen an seinem Fuß. Jetzt war auch der Grund für die bedrohliche Schräglage zu erkennen: Zwei Mauern hatten sich gesenkt, zwei sich gehoben. Sie gingen daran vorbei und kamen an den Klippenrand. Angeblich war der Boden hier nicht sicher. Man konnte sich das Mädchen vorstellen, die elf Jahre alte Valia, Gerris’ legitimierter Bastard, wie sie von den blauen und gelben Blumen angelockt wurde und von der tiefblauen Weite des Meeres… Vielleicht dachte die Hexe an damals und rief es sich vor Augen. Was hatten ihre Hexenkünste damals heraufbeschworen? Das Trugbild eines Meeresdämonen, der aus der Luft auf das Kind mit seinen Blumen herniederstieß – und mit einem Schrei war sie gefallen, tiefer und tiefer, ihr schwarzes Haar wie verwehender Rauch. Die schauspielernden Cousins blickten über das Meer. Es gab keinen Strand, an dem die Wellen auslaufen konnten, die Bläue reichte unmittelbar bis an den Fuß der Klippen heran. Ein zusätzlich mit Rudern ausgerüstetes Segelschiff kam aus dem Norden, das weiße Segel war gerefft, schimmernd gischtete das Wasser um den Bug. Wahrscheinlich war es nach dem Hafen von Cassireia unterwegs. Es war höchstens eine Achtelmeile von der Küste entfernt, woraus man ersehen konnte, wie tief das Wasser war, und es war klein wie ein Spielzeug, wodurch die Höhe der Klippen erst richtig deutlich wurde. »Träume und Trennungen«, sagte Eliset. »Einmal träumte ich, ein solches Schiff trüge mich hinweg von Flor. Ich streckte die -264- Arme nach dem Land aus, aber das Land segelte fort.« Während sie sprach, tat sie einen Schritt nach vorn, wohl um ihre Vorstellung mit einer Geste abzurunden, wie Cyrion es mit dem Erröten getan hatte. Wo sie jetzt den Fuß aufsetzte, gab der Boden nach. Ein Büschel roter Blumen löste sich mitsamt den Wurzeln aus der Erde und kippte über den Rand, eine Opfergabe an den Ozean. Steine und Erdbrocken folgten ihnen, und es sah ganz so aus, als würde Eliset es ihnen gleichtun. Die plumpe Gestalt Roilants bewegte sich mit einer Schnelligkeit, zu der sie eigentlich gar nicht fähig sein durfte. In dem Augenblick, als sie fiel, wurde sie gepackt, herumgewirbelt und auf festem Boden wieder niedergesetzt. Sie hatte nicht geschrieen, wirkte auch gefaßt und dankte Roilant höflich und ruhig. Dann begann sie in seinen Armen zu zittern, eine Reaktion, die bestimmt nicht gespielt war. Der rothaarige junge Mann, der sie immer noch festhielt, schwieg. Mit bebender Stimme sagte sie: »Die Klippen sind gefährlich, der Boden ist nicht fest – selbst die Gräber wandern. Eines Tages wird der Turm ins Meer stürzen. Wie ist es dir gelungen, mich rechtzeitig aufzufangen -« Er antwortete mit großem, unangemessenem und aufreizendem Nachdruck: »Du sollst meine Frau werden.« Sie lachte ohne Fröhlichkeit. Noch immer zitternd, verächtlich und gleichzeitig belustigt, schaute sie zu ihm auf und er auf sie hinab. Etwas in seinem Gesicht beruhigte sie, und allmählich ließ das krampfhafte Beben nach. Unvermittelt versuchte sie, sich von ihm zu lösen und er, statt sie freizugeben, zog sie noch näher an sich heran. Der rote Kopf senkte sich zu dem blonden hinab. Ihr Körper versteifte sich widerstrebend, besann sich dann auf seine Pflicht und wurde weich und fügsam. Und im nächsten Moment glaubte sie zu zerfließen, sich aufzulösen, von den Wellen des Meeres davongetragen zu werden. -265- Seine Verkleidung reichte nicht bis unter die Haut. Irgendwann in einem Zeitraum von wenigen Sekunden, hatten Elisets Sinne das herausgefunden, ohne daß sie es verstand. Beseligt versunken in einem einzigen Kuß, glaubte sie vielleicht, er oder auch sie selbst sei von Geistern besessen, die sie diesmal nicht gerufen hatte. Als er sich von ihr löste, sah sie vor sich dieselben Pausbacken, verquollenen Augen, ingwerfarbenen Haare. Sie starrte ihn an und bemerkte erschreckt, daß sie schon wieder zitterte, wenn jetzt auch aus einem anderen Grund. Erst als er sichtlich verlegen wurde, gewann sie ihre Beherrschung zurück. Mit wild klopfendem Herzen, aber äußerlich kühl, drehte sie sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen waren. Er beeilte sich, sie einzuholen. »Ich habe«, murmelte er, »einige Vorbereitungen getroffen. Wenn du einverstanden bist, möchte ich dich bitten, mich morgen früh nach Cassireia zu begleiten. Gegen Mittag müßten wir in einem bestimmten Gebäude eingetroffen sein, wo ein Priester und Trauzeugen uns erwarten. Anschließend werden wir, als Mann und Frau, nach Heruzala Weiterreisen.« Es war so, als hätte es nie den Kuß gegeben. Sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, was er gesagt hatte und als sie es begriff, rief sie beinahe unfreiwillig: »Nein!« Etwas wie Panik klang in ihrer Stimme. »Nein?« Er blieb stehen. Sie wartete mit dem Rücken zu ihm, dann wandte sie sich um. Ihr Gesicht war fast noch blasser als nach ihrer glücklichen Rettung vor einem Sturz von den Klippen. »Roilant, ich kann Flor nicht so plötzlich verlassen. In dem Wissen, daß ich vielleicht nie wieder – ich kann es nicht. Du mußt mir etwas Zeit geben, um mich an den Gedanken zu -266- gewöhnen.« »Was sollen wir also tun?« fragte er steif. »Mit allem anderen bin ich einverstanden. Auf diese formlose Art zu heiraten und nachher einfach so auf die Straße geschoben zu werden. Ja, das macht mir kaum etwas aus. Ich sehe ein, daß es nicht anders sein kann. Aber ich muß nach Flor zurückkehren, wenigstens für eine Nacht. Es gibt Dinge, die ich noch mit Mevary besprechen muß. Er wird mein Verwalter sein. Ich hatte gehofft -« »Gehofft?« »Daß du ihm für seine Verwaltertätigkeit eine Art Gehalt aussetze n würdest. Dann würde er sich in meiner Abwesenheit vielleicht nicht ganz so rücksichtslos an Flor schadlos halten. Aber abgesehen davon – Roilant, wir werden dann erst ein paar Stunden verheiratet sein. Die erste Nacht, die wir zusammen verbringen – mir wäre es lieber, es könnte hier auf Flor sein. Wo ich ein Kind war, wo ich zur Frau heranwuchs. Wirst du, in deiner unzweifelhaften Großzügigkeit, mir diese Bitte gewähren?« Es war unterhaltsam darüber nachzudenken, ob sie tatsächlich glaubte, selbst der einfältige Roilant könnte dumm genug sein, sie noch für eine Jungfrau zu halten. Aber vielleicht hielt sie ihn für dumm genug. Cyrion nickte knapp. »Also gut. Eine Nacht.« Ihr Gesicht entspannte sich und zumindest ihre Lippen bekamen wieder etwas Farbe. »Mein Lieber, du bist sehr gut zu mir. Ich verspreche dir nochmals, daß ich dir, obwohl du mich für so minderwertig hältst, keine Schande machen werde.« Er grummelte irgendein plumpes Kompliment. Nebeneina nder gingen sie den Abhang hinunter. Als sie sich -267- zwischen den Zwergtamarisken einen Weg suchten, die an der Hofmauer des Badehauses wuchsen, erregte plötzlich ein unheimliches Geräusch ihre Aufmerksamkeit. Es gab ein Geschrei, das anstieg, verstummte und wieder lauter wurde. Dann folgte ein Klirren, als wäre irgendein tönerner Gegenstand zerbrochen, begleitet von einem dünnen Wimmern. Schließlich ertönten Laute, die sie zuerst gehört hatten, ein furchterregendes Jaulen und Quieken. »O Gott, was hat das zu bedeuten?« flüsterte Eliset. Sie raffte ihre langen Röcke und eilte so leichtfüßig wie eine weiße Flamme um die Mauer herum. Ihr dicklicher Begleiter folgte ihr mit erstaunlicher Schnelligkeit, vergaß aber nicht, gelegentlich zu stolpern. Ein unverschlossenes Tor führte in die alten Ställe. Sie stieß es auf, sprang hindurch, lief über den verlassenen Hof, unter einem zweiten Torbogen hindurch und gelangte schließlich in den Küchenhof. Bei Tageslicht bot dieser Hof genau das staubige, mit dürrem Laub zugewehte Bild, das man sich bei Nacht vorstellte. Zu dem üblichen Unrat gesellten sich noch einige Küchengerätschaften wie Körbe und Töpfe, die sich am Brunnen und dem Hackklotz stapelten. Die Darsteller, die in dieser Kulisse agierten, waren gerade jetzt zur Bewegungslosigkeit erstarrt, als wollten sie den Neuankömmlingen Gelegenheit geben, sich mit der Sachlage vertraut zu machen. In der offenen Küchentür stand der Knabe Harmul, ein langes und tödliches Fleischmesser in der Faust. Nur wenige Schritte entfernt, lag Zimir, der andere Junge, auf dem Gesicht, umgeben vo n ausgelaufenem Öl und den Scherben des Tonkrugs. Der dritte Junge, Dassin, fehlte. Nur noch zwei weitere Personen waren anwesend. Neben der Tür ihrer Sklavenunterkunft hatte Jhanna sich so fest gegen die Mauer gedrückt, als könnte nichts sie davon lösen. Ihre Augen waren -268- weit aufgerissen und ihr langes, langes Haar, das in der Sonne wie Kupfer schimmerte und das sie wohl hochgebunden harte, schien herabgezerrt worden zu sein. Ihr einfaches Kleid hatte am Mieder einen langen Riß, den sie mit beiden Händen zu verdecken suchte. Auf dem Rand der Brunneneinfassung hockte Jobel. Als Cyrion in den Hof trat, war der fette, alte Sklave in einer zusammengekauerten Haltung erstarrt, aber in der nächsten Sekunde sprang er auf, wäre fast in den Brunnen gefallen, brachte aber irgendwie einen wilden Satz zustande und landete wieder im Hof. Sein Bauch wabbelte, er wedelte mit den Armen. Dann gab er wieder diese furchtbaren jaulenden Laute von sich, die sie an der Außenmauer gehört hatten. Hellroter Schaum troff über seine Lippen. Seine Augen waren glasig und blind. Sobald er Elisets ansichtig wurde, kam Harmul herbeigelaufen, das Messer immer noch fest in der Hand. »Herrin – er ist von einem Dämon besessen.« Eliset stand wie eine Statue aus Eis. »Nein«, sagte sie. »Ich habe so etwas schon einmal gesehen. Es ist eine Krankheit, die auch andere anstecken kann. Ich sah einen Hund auf diese Weise sterben und später den Mann, den der Hund gebissen hatte.« »Er hat sie angefallen.« Harmul deutete auf Jhanna. »Er zerriß ihr Kleid und zerrte an ihrem Haar. Aber dann wandte er sich von ihr ab, hob den Ölkrug auf und schleuderte ihn auf Zimir -« Jobel, der alte, dicke Sklave, rannte gegen die Hofmauer an und schlug mit den Fäusten dagegen. »Harmul«, sagte Eliset. »Er wird in jedem Fall sterben, der Ärmste, und stellt für uns alle eine Gefahr dar, bis es soweit ist. Er ist schon nicht mehr bei Verstand und leidet Schmerzen, die nur noch schlimmer werden können. Du mußt ihn töten, -269- Harmul. Wirf das Messer.« Harmul stierte sie mit hervorquellenden Augen an. Dann nickte er. Er hob den mageren Arm, und das Fleischmesser flog durch die Luft. Es traf Jobel in den Rücken, und die Klinge war lang genug, um unter all dem Fett das Herz zu treffen. Mit einem gurgelnden Schrei fiel Jobel zu Boden. Er warf sich zuckend hin und her. Der Schaum, der aus seinem Mund quoll, war jetzt rot. Wie ein Akrobat aus einem Alptraum bog er sich so weit zurück, bis er mit den Fersen seinen Hinterkopf berührte. Und starb. Harmul stieß einen leisen Schrei aus. Jhanna schlug die Hände vors Gesicht. Zimir entfernte sich kriechend von den Trümmern des Ölkrugs. »Seid vorsichtig«, befahl Eliset. »Achtet darauf, daß ihr den Speichel nicht berührt, der aus seinem Mund geflossen ist. Er ist giftig. Wo etwas davon hingetropft ist, gießt Öl aus und zündet es an. Wenn seine Zähne einen von euch verletzt haben, muß die Wunde ausgebrannt werden. Und er, der Bedauernswerte. Um jede Ansteckung zu vermeiden, darf er nicht ausgekleidet oder gewaschen werden. Wickelt ihn so wie er ist in Teppiche oder Säcke. Und begrabt ihn erst morgen.« Ihr Gesicht war weiß und ruhig. Sie legte eine Hand auf Harmuls Schulter. »Du hast deine Sache gut gemacht«, sagte sie, und der Junge wurde so bleich wie sie. Eliset drehte sich um und ging durch den Torbogen in den Hof vor dem Haupteingang. Cyrion folgte ihr. Als sie das leere Becken eines Springbrunnens erreichte, stützte sie sich auf den Rand. Cyrion blickte auf und sah Mevary die Treppe zur Dachterrasse herunterkommen, wobei er ein gedämpftes -270- Klopfen hervorrief. Der Grund dafür waren die hochhackigen Stiefel, die er heute trug. Diese Art Fußbekleidung war in Auxia gebräuchlich, und Mevary wirkte dadurch zwei Zentimeter größer. Trotz der hohen Absätze gelang es ihm, Eliset zu erreichen und aufzufangen, bevor sie in einem der am perfektesten vorgetäuschten Ohnmachtsanfälle, die Cyrion je zu beobachten das Vergnügen gehabt hatte, zu Boden sank. »Sie hat mich hiermit zu Euch geschickt.« Cyrion betrachtete zweifelnd die bernsteinfarbene Rose in Jhannas schmaler brauner Hand. An dem Stiel der Rose, die er nur zögernd entgegennahm, war ein Papier befestigt. Auf dem stand: Mein Lieber, vergib mir. Ich werde heute Abend nicht mit dir speisen. Um für die Reise nach Cassireia frisch und ausgeruht zu sein, muß ich mich heute Abend früh zur Ruhe begeben. Bis morgen. Eliset. Nachdem er den Zettel gelesen hatte, ließ er ihn fallen und untersuchte die Rose. Ihr süßer Duft war wie leise Musik und mischte sich mit einem schwereren Parfüm aus dem Haar des Sklavenmädchens. Glatt und auf dem Kopf hochgesteckt, paßte es zu ihrer stolzen Haltung. Sehr ruhig bemerkte sie: »Dieser alte Sklave, Jobel. Ein furchtbarer Tod. Auch ich habe viele an dieser Krankheit sterben sehen. Aber die Kälte, mit der sie dem Jungen befahl, ihn zu töten. Und sie dachte daran, gleich anschließend in Ohnmacht zu fallen, um Euch in die Irre zu führen. Sie ist grundschlecht.« »Ja«, sagte er und legte die Rose beiseite. »Aber daß sie mich zu Euch geschickt hat, ist gut. Sie ahnt nichts von einer Verständigung zwischen uns, und dieser Schakal, Mevary, hegt gleichfalls keinen Verdacht. Und seht, ich habe gehalten, was ich Euch versprochen hatte.« -271- Cyrion streckte die Hand aus und griff nach dem schwarzen Fläschchen, das sie ihm reichte. »Glaubst du -« »Herr, werdet nicht wankend. Ich habe Euch gesagt, was dieses. Gift bewirkt. Es ist schade, daß sie heute Abend nicht mit Euch zu Tische sitzt. Aber morgen nach der Vermählung ist die Gefahr am größten, und dann müßt Ihr handeln. Und ich, Fürst Roilant, werde alles tun, was in meinen schwachen Kräften steht, werde mein Leben aufs Spiel setzen, um sie um Euer Leben und Euren Reichtum zu betrügen und sie der Gerechtigkeit auszuliefern. Ihr seht, was ich bereits gewagt habe, indem ich diesen Trank aus ihrer Truhe stahl.« »Wird sie ihn nicht vermissen?« Mit königlicher Gebärde wischte sie seine erbärmlichen Befürchtungen beiseite. »Zwischen all den teuflischen Mitteln, die sie hat? Kaum.« Jhanna stand vor ihm, umspielt von einem zerfließenden Strahl der untergehenden Sonne, der ihr Haar in eine dunkle Flamme verwandelte. »Du bringst dich in Gefahr«, meinte er. »Warum?« »Um Euretwillen.« »Was, wie ich annehme, bedeuten soll, daß du deine Freiheit haben willst und zusätzlich noch eine gewisse Summe Geldes als Entschädigung.« Sie lächelte ihn an. »Das alles bedeutet mir wenig. So gelebt zu haben, wie ich gelebt habe. Zu erdulden, was ich erduldet habe – Ich verlange nur nach Rache für ihre Schandtaten. Nach Gerechtigkeit.« Die einander so überaus herzlich zugetanen Cousins Roilant und Mevary speisten alleine auf der Dachterrasse. Sie wurden von Harmul bedient, der seltsam geistesabwesend wirkte und -272- bald verschwand. Wie sich herausstellte, hatte Dassin das gleiche getan, wenn auch auf Dauer. »Jobels Tod wird ihn erschreckt haben. Sie begreifen die Ursache solcher Krankheiten nicht. Sie glauben, Dämonen töten das Opfer und übernehmen dann ihre Körper. Lächerlich.« »In der Tat«, bemerkte Cousin Roilant ernsthaft. »Entweder das, oder Dassin ist in irgendeinem Versteck an dem langsam wirkenden Gift gestorben, daß ich dir gestern unters Essen mischte und von dem er – verfressen wie er ist – mehr erwischte als du. Da wir gerade davon sprechen, heute Abend wolltest du doch nicht wieder einen Vorkoster? Du scheinst sehr wenig zu essen, lieber Cousin. Wie konntest du nur so schön dick und rund werden, bei den winzigen Mengen, die du zu dir nimmst?« »Ich möchte dich bitten, mich nicht zu beleidigen. Um Elisets willen zumindest.« »Weil sie morgen Nachmittag dein liebendes Weib sein wird?« »Ja. Und da ist noch etwas, das ich mit dir besprechen möchte, Mevary.« »Ah.« Ein erwartungsvoller, eisiger Glanz trat in Mevarys Augen, der wieder verblaßte, als Cyrion weitersprach. »Dein Posten als Verwalter auf Flor.« »Und ich glaubte einen köstlichen Augenblick lang«, bemerkte Mevary, »daß du mich wegen meiner Beziehung zu Eliset befragen wolltest. Ich war, natürlich, nicht mehr als ein Bruder für sie.« »Du hast, natürlich, ihr Bett geteilt, und ich weiß darüber Bescheid, wie außerdem noch halb Cassireia und der Hofstaat des Königs.« Mevary öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. »Es stört mich übrigens nicht. Hätte es mich gestört, wäre -273- ich jetzt wohl nicht hier.« »Aber ich glaubte, unheimliche Träume und Begierden hätten dich hier hergeführt«, sagte Mevary genüßlich. »Ich habe keine Zeit für Aberglauben. Ich bin hier, weil ich einen Vertrag einhalten will. Vorausgesetzt, daß meine Frau sich nach der Hochzeit untadelig benimmt, werde ich keinen Streit heraufbeschwören und über vergangene Liebschaften den Mantel des Schweigens breiten. Dazu gehört auch, daß du dich von ihr fernhältst. Du wirst Flor verwalten, ihren Besitz und den meinen. Ich werde Geld anweisen, um das Gut wieder hochzubringen, und auch du wirst ein großzügiges Gehalt beziehen.« Mevary gähnte. Er war an Gehältern nicht mehr interessiert, seine Hoffnungen waren weit höher angesiedelt. Cousin Roilant schaute gekränkt. »Das wird es dir ermöglichen, besser zu leben als bisher.« Mevary lachte. Er trank und lachte wieder. »Da bin ich ganz sicher. Nun, mit so viel Freundlichkeit hatte ich nicht zu rechnen gewagt, lieber Pudding. Einen Toast. Auf das Gehalt.« Mevary konnte seine Fröhlichkeit kaum noch bezähmen. »Vielen Dank. Ich werde mich jetzt auf mein Zimmer zurückziehen.« »Oh, wie schade. Ich ho ffte, du würdest Ritterund-Burg mit mir spielen – ich habe immer noch das Brett und die Figuren, die wir als Kinder benutzten. Erinnerst du dich daran? Diese erregenden Niederlagen -« »Entschuldige mich.« »Oder ein Übungskampf mit Stöcken oder stumpfen Schwertern – wie würde dir das zusagen? Nein?« »Nein.« »Ich gebe auf. Du mußt morgen früh aufstehen. Gott segne -274- deinen Schlaf. Mögen Engel über deinem Bett herumflattern und so weiter.« Mevary erhob sich, um seinen Verwandten bis zur Treppe zu begleiten. Wenn er sich kerzengrade aufrichtete, überragte er ihn um einige Millimeter. Durch einen improvisierten Fehltritt landete Roilant-Cyrion hörbar auf der Veranda des zweiten Stockwerks und tappte lautstark zu seinem Zimmer. Als er eintrat, bemerkte er einen ange nehmen Geruch. Als er die Tür geschlossen hatte und um den geschnitzten Schirm herumging, sah er, daß in dem Raum nichts verändert worden war. Man hatte lediglich die Fensterläden wegen der Insekten geschlossen und eine ganze Anzahl Kerzen entzündet. Während er versuchte, nur ganz flach zu atmen, ging Cyrion zu jedem Fenster und stieß die Läden auf. Dann löschte er die Kerzen. Schließlich hob er die Rose, die Eliset ihm geschickt hatte, vom Bett, wo er sie fallengelassen hatte. Die Blüte hatte sich geöffnet, und der köstliche Duft hatte sich beträchtlich verstärkt. Er warf die Rose aus dem nächsten Fenster und sah zu, wie sie zu Boden fiel. Anschließend blieb er noch eine geraume Weile stehen und betrachtete die Dächer und Mauern von Flor, die Wiesen dahinter, die dunklen Obsthaine, die zerklüfteten Felsen im Osten, über denen ein zartgelber Mond aufging. Die Droge in der Rose, ein Betäubungsmittel, hatte wahrscheinlich durch die Wärme der Kerzen zu wirken begonnen. Anscheinend hatte man beabsichtigt, daß er hereinkommen und, erfreut über den angenehmen Duft, in einen tiefen Schlaf sinken sollte. Daß man es in dieser Nacht auf sein Leben abgesehen haben sollte, ergab keinen Sinn. Also hatte die Dame, die ihre Hexenkünste in einer Blume verbarg, etwas anderes i Sinn. Schlafen hieß etwas versäumen. Cyrion, der m zusah, wie der Mond am Himmel aufging, ahnte auch schon, -275- was. Eine halbe Stunde später, als in dem Zimmer nichts mehr von dem Duft zu merken war, schloß Cyrion die Fensterläden. Anschließend versprengte er ein Fläschchen mit einem süßlichen Parfüm rund um das Bett, drapierte sich zwischen die Kissen und erwartete einen Besucher. Es dauerte nicht lange. Erst ein leises Klopfen. Dann öffnete die Tür sich einen Spalt. Dann beinahe lautlose Schritte hinter dem Wandschirm. Eine Lampe oder eine Kerze wurde angezündet, und der Lichtschein wanderte über ihn. »Cousin«, sagte Mevary halblaut und schüttelte ihn. Cyrion grunzte unwillig und belohnte den jungen Mann mit einem ausdrucksvollen, gräßlichen Schnarcher. Mevary lachte kurz. »Er schläft wie ein Schwein, ganz wie du gesagt hast«, murmelte er. »Kein Wunder. Ich kann das Zeug immer noch riechen.« »Ja«, sagte sie von der Tür her, die schlaue Hexe. Es klang mehr wie das Fauchen einer Katze. Das Licht senkte sich und verlosch. Dann waren sie fort, die Hexe und ihr Liebhaber, und der dumme, fette Cousin blieb schnaufend und schnarchend in seinem Bett zurück. Und hellwach. Jobel war eindeutig ermordet worden. Obwohl sein schäumendes Toben in vielen Punkten dieser unweigerlich zum Tode führenden Krankheit glich, die von Tieren auf Menschen übertragen wurde, gab es doch einige kleine Abweichungen. Zum Beispiel hatte Jobel keines der warnenden Symptome gezeigt, die dem letzten Stadium der Krankheit vorangingen. Noch wären irgendwelche Tiere, die mit der Krankheit behaftet -276- waren, in der Nähe gesehen worden. Viel wahrscheinlicher war (es war sogar sicher), daß er einem Gift zum Opfer gefallen war, das die äußerlichen Merkmale der Krankheit hervorrief. Einen Mann, der solche Qualen litt, mit dem Messer rasch zu töten, konnte ein Akt der Gnade sein. Oder eine zusätzliche Versicherung. Jobel war nicht sehr klug gewesen, als er Dassin erzählte, was er jener Nacht in dem Brunnen gesehen hatte. Ebenso wenig Dassin, als er es unter dem Einfluß des von Cyrion mit einem Schlafpulver gemischten Weins ausplauderte. Daß der Junge inzwischen gemerkt hatte, daß er sich in Gefahr befand, hatte er durch seine Flucht deutlich gemacht. Womit noch einer übrigblieb, der, während der runde Mond über den Himmel wanderte, auf das kleinste Geräusch lauschte, das außer dem Rauschen des Meeres vernehmbar war. Als das Geräusch schließlich ertönte, war es ganz und gar nicht unbestimmt. Es war leise, aber gut zu hören. Und zweifellos zog sich jetzt jeder unschuldige Schläfer im Haus die Decke über die Ohren und zitterte. Geister, besonders remusanische Geister, die sich im Badehaus eingenistet hatten, waren lästige Nachbarn. Eine Fanfare ertönte. Dann Gesang, dessen Rhythmus militärisch klang, wenn die Worte auch nicht zu verstehen waren, eine dumpfe an- und abschwellende Hymne. Waren es Remusaner oder vielleicht Sirenen, die Kinder raubenden Meerjungfrauen dieser Küste? Denen Valia im wahrsten Sinne des Wortes zum Opfer gefallen war? Als Cyrion lautlos die Treppe zum Innenhof hinabging, hörte er ein ganz und gar nicht weihevolles Schrillen, das aus den Becken der zwei ausgetrockneten Springbrunnen zu kommen schien. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Natürlich nicht. Die, die Grund hatten, sich zu fürchten, hatten sich verkrochen. Die keinen Grund dazu hatten, hielten sich -277- woanders auf. Noch bevor er den überdachten Gang erreichte, bemerkte er den Lichtschein, der daraus hervorströmte. Die Fanfare ertönte wieder, lauter diesmal, so daß die Steinpla tten unter seinen Füßen vibrierten. Er betrat den Gang, blieb neben dem Brunnen stehen und schaute zum Badehaus. Auch dort drang ein matter Schimmer aus dem immer noch nicht geleerten Heißwasserbecken. Er allerdings befand sich inmitten der fahlen, unsteten Helligkeit, die wie dünner Rauch aus dem großen, alten Brunnen stieg, so daß die Fische und Blumen in dem Mosaik in all ihrer noch verbliebenen Farbenpracht leuchteten. Die Lampe an dem Messinghaken war nicht in Gebrauch genommen worden. Das geknotete Ta u hing immer noch im Brunnenschacht, und zwar so straff, als wären die Enden unter der Wasseroberfläche mit Gewichten beschwert. Das Wasser. Da funkelte es wie ein schwarzer Diamant in dem erleuchteten Schacht, wo sich vorher nur der trockene Steinboden befunden hatte. Daß auf dem Schachtboden weder altes Laub noch anderer Unrat zu finden gewesen waren, hatte Cyrion schon einiges vermuten lassen. Der Boden war beweglich, man konnte ihn in die Brunnenwand zurückgleiten lassen, um etwas von unten heraufzuziehen oder von oben abzuseilen. Unmittelbar unter dem falschen Boden, erweiterte sich der Schacht und wurde eins mit dem, was darunterlag. Der Gesang schlug wie Gischt gegen sein Gesicht. Er bemerkte einen unangenehmen, fischigen Geruch und dann den unverwechselbaren Duft von Weihrauch, der durch die steinerne Röhre zu ihm aufstieg. Plötzlich wurde das Licht aus dem Brunnen heller. Der Beobachter beugte sich vor und entdeckte lange goldene -278- Fäden auf der schwarzen Wasseroberfläche und danach einen Keil aus Feue r. Das Schiff kam aus dem Nichts, aus dem unteren Rand des Brunnenschachtes. Das winzige Gespensterschiff, das der Sklave gesehen und sich damit zum Tode verurteilt hatte. Das Segel hatte die Farbe und die Größe eines herbstlich gefärbten Blattes. Fackeln brannten an Bug und Reling. Etwas bewegte sich auf Deck und eine Wolke aus parfümiertem Rauch schlängelte sich den Schacht empor, bis sie sich als duftender Nebel in dem Gang ausbreitete. Als der Nebel sich aufgelöst hatte, war das kleine Schiff verschwunden. Wie durch Zauberei. Natürlich war es kein Gespensterschiff. Daß es so klein wirkte, lag nur an dem Blickwinkel. Der Abstand zwischen dem oberen Teil des Brunnens und dem Boden der Höhle da unten, war derselbe wie der vom oberen Rand der Klippen bis zu ihrem Fuß. Die plötzliche Erweiterung des Schachtes unterhalb der Stelle, wo sich vorher der Steinboden befunden hatte, vermittelte den Eindruck, daß die Wasseroberfläche gleich darunterlag. In Wirklichkeit war es das Meer, das in ungefähr hundert Meter Tiefe den Boden der Höhle bedeckte. Außerdem hatte das Seil noch den Eindruck unterstützt, daß die Wasseroberfläche nicht weiter als zehn Meter unter dem oberen Brunnenrand lag – denn das war die Stelle, an der das Seil sich plötzlich straffte und zu Ende war. Ein großer Teil des Herrenhauses von Flor lag also über dem hohlen Bauch der Klippen. Die Geräusche in diesem Hohlraum pflanzten sich durch jeden ausreichend tiefen Schacht innerhalb des Hauses fort – die Springbrunnen, die Zisterne, den Süßwasserbrunne n im Küchenhof. Auch das Badehaus stand über der Höhle, und deshalb wurde das Heißwasserbecken, dessen Boden an einigen Stellen verräterisch durchscheinend geworden war, niemals ganz ausgeleert. Nur wenn Fackeln in der Höhle brannten, verriet das Becken sein Geheimnis. Etwas huschte trippelnd durch das Halbdunkel. Vielleicht eine -279- Eidechse. Cyrion schien nicht der Meinung zu sein. Er verschwand in der im Schatten liegenden Nische zwischen einer der Säulen des Brunnens und der Wand. Von dort aus beobachtete er einen anderen Schatten, der vor einigen Minuten noch nicht dagewesen war. Er wuchs vor dem fahlen Lichtschimmer in dem Badehaus empor und bewegte sich durch die Tür. Eigenartigerweise wurde er von dem aus dem Brunnen dringenden Licht nicht berührt. Trotzdem wurde er erkennbar, wie durch einen eigenen, inneren Vorgang. Es war die Gestalt eines Mannes in mittleren Jahren, gut gekleidet, aber mit einem habgierigen, wölfischen Gesicht, das von rotbraunen, mit grauen Strähnen durchzogenem, wölfischen Haar umrahmt wurde. Er ging an Cyrions Versteck und dem erleuchteten Brunnen vorbei, ohne einen Blick darauf zu werfen. Die Augen waren weit geöffnet, hungrig und starr. Die Gestalt bewegte sich langsam. Aber das Geräusch, das Cyrion aufgeschreckt hatte, mußte tatsächlich von einer Eidechse gestammt haben oder irgendeinem anderen Nachtgetier; denn dieser Mann, der kein Licht reflektierte und keinen Schatten warf, verursachte kein Geräusch. Der Gesang in der Höhle unter dem Brunnen war zu einem Murmeln abgeflaut, das vom Rauschen des Meeres nicht mehr zu unterscheiden war. Als der Mann das Ende des Ganges erreicht hatte, schaute er sich um und schien jetzt erst den Brunnen zu bemerken. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem stumpfsinnigen Zähnefletschen. Dann drehte er sich wieder um und trat in den Innenhof des Hauses. Cyrion, der eigentlich einen Ausflug in die entgegengesetzte Richtung vorgehabt hatte, folgte ihm ebenso lautlos. Am Rand des Innenhofs verhielt Cyrion den Schritt. Sein geheimnisvolles Wild stand neben dem moosbewachsenen -280- Bassin, wo einst der Springbrunnen mit dem Licht der Sterne gespielt hatte. Der Mann schaute zu den geborstenen Pfosten der Veranda und zu den dahinterliegenden Räumen hinauf. Dann wandte er den Kopf in die andere Richtung, wo sich der Küchentrakt befand. Dorthin setzte er sich in Bewegung – und blieb stehen. Und verschwand. Dieses Verschwinden war echt. Es war kein Trick. Auch über die Identität des nächtlichen Wanderers konnte kein Zweifel bestehen. Es war kein anderer als Mevarys verstorbener Vater. Ungefähr zwanzig Minuten später ertönten wieder Geräusche, ein über einen längeren Zeitraum andauerndes Scharren und Klappern von irgendwo auf dem Friedhof von Flor. 3. Kapitel Es war ein wundervoller Morgen für einen Ausflug nach Cassireia. In den Bäumen am Wegrand lärmten die Vögel. Der Weg führte bergab, mit freiem Ausblick auf allen Seiten, und darüber spannte sich ein klarer, vielversprechender Himmel. Hin und wieder und jeweils nur für ein kurzes Stück tauchte der Weg in den erfrische nden Schatten der üppig grünen Wälder. Wo der Weg in die breite und alte Straße einmündete, kamen die weißen Mauern der Stadt in Sicht und das dunkle Blau des Meeres. Roilants Diener hatten sich, wie sich herausstellte, bereits aus dem Dorf in der Nähe von Flor abgesetzt und waren nach Cassireia geritten. Davon offensichtlich peinlich berührt, hatte Roilant Maultiere beschafft und einige Männer angeworben, um die mottenzerfressene Sänfte zu tragen, die sich im Herrenhaus gefunden hatte. (Nur Mevary schien es nicht zu überraschen, daß die beiden Diener verschwunden waren. Fast konnte man glauben, er hätte sich schon früher im Dorf nach ihnen erkundigt.) Eliset saß in der Sänfte, wo verschlissene Vorhänge aus Gaze -281- sie vor der Sonne schützten. Die nicht eben ansehnliche Gestalt, Roilants hockte auf dem vorderen Maultier und wurde von ihm mit Geduld ertragen. Der magere Harmul bildete die Nachhut. Das, abgesehen von den angeworbenen Männern, war die komplette Gesellschaft. Selbst Jhanna war zurückgeblieben. »Ihre Anwesenheit wird kaum vonnöten sein«, hatte Eliset abgewehrt – tatsächlich schien Jhanna sich kaum jemals in ihrer Nähe aufzuhalten – »und da doch alles so unauffällig vonstatten gehen soll, ist es besser, wir sind so wenige wie möglich.« Niemand ließ eine Bemerkung über die Ereignisse der vergangenen Nacht fallen. Ob ihrer nächtlichen Umtriebe war Eliset zwar blaß, aber sie bewahrte Haltung. Nichts an ihr deutete auf das hin, was sie getan hatte, während der Brunnen leuchtete und die Geister aus ihren Gräbern stiegen. Ein dauernd gähnender, schlecht gelaunter Mevary mit dunklen Ringen unter den Augen, war ein sehr viel aufschlußreicheres Schaubild der okkulten Festlichkeiten, von denen er bestimmt gewußt und an denen er wahrscheinlich teilgenommen hatte. Andererseits blieb er, obwohl die dunklen Machenschaften seiner Geliebten seinen Beifall fanden, von den eigentlichen Riten vielleicht noch ausgeschlossen. Seine schlechte Verfassung konnte sehr wohl andere Gründe haben, wie zum Beispiel einen Besuch im Weinkeller und anschließend eine Nacht im Bett seiner schönen Sklavin, die ihn haßerfüllt willkommen hieß, weil sie keine andere Wahl hatte. Von Jhanna war am Morgen, als sie aufbrachen, nichts zu sehen gewesen. Während Zimir hinter den Ställen ein Grab aushob – ein schlechtes Omen für einen Hochzeitstag. Sie betraten die Stadt durch ein hohes Tor, dessen Steine im Sonnenlicht so weiß leuchteten wie gebleichte Mandeln. Dahinter lag der große Marktplatz mit seinen Gerüchen nach rohem und gekochtem Fleisch, frischem Fisch, parfümierten -282- ölen, gebranntem Honig und reifen Früchten, den Wolken aus Pulvern, Kornstaub und Fliegen und dem ohrenbetäubenden Lärm von Musikinstrumenten und streitenden Stimmen. Sie bahnten sich einen Weg, wobei es zu einem Wortwechsel zwischen Harmul und einem Ochsentreiber kam, wichen einer fahrbaren Töpferwerkstatt aus, umgingen ein wogendes Meer von Schafen und bogen in die Straße der Seidenhändler ein, wo kostbare Stoffe aus den Fenstern hingen wie goldener Regen. Vergangenheit und Gegenwart waren in der Stadt gleichmäßig vertreten. Überall fand das Auge mehr oder weniger verfallene Paläste. Hier das zerbröckelnde Bauwerk, das die Sklaven des ersten Königs Hraud errichtet hatten, und dort ein anderes, erbaut zu Ehren ebendesselben Hraud, des Stiefvaters der tänzerisch so überaus begabten Hexe Zilumi. Am blauen Gestade des Ozeans waren die Kolonnaden der cassianischen Kaiser zu besichtigen, die bei Sonnenuntergang noch immer in kaiserlichem Purpur leuchteten. Am Ende der Straße der Seidenhändler befand sich die Straße der Vogelhändler, und diese mündete in die Straße der Wohlgerüche, aus der die Reisegesellschaft halb betäubt in einen kurzen Tunnel flüchtete. Dieser Tunnel öffnete sich auf einen kleinen, quadratischen Platz mit einem Brunnen. Stallungen und einige Gasthäuser drängten sich neben den Ständen eines Pastetenverkäufers und eines Wahrsagers. An der anderen Seite des Platzes erhob sich ernst und anmutig ein kleiner Tempel mit einer Mosaikkuppel und säulenflankiertem Eingang. Ein heid nischer Tempel, den die jetzige Kirche mit Beschlag belegt hatte; denn über der Tür stand in zwei Sprachen der Spruch, der im Osten und im Westen Gültigkeit hatte: ES GIBT KEINEN GOTT AUSSER GOTT. Die Sänfte wurde in dem schattigen Vorraum niedergesetzt, und Eliset stieg heraus. Die angeworbenen Männer wurden mit den Maultieren in eines der Gasthäuser verfrachtet und Harmul, der in seinen Lumpen nicht gerade ein rühmliches Bild abgab, -283- zu seinem Mißvergnügen an einer passenden Säule abgestellt. Cousin Roilant führte seine Braut in den zur Kirche umgewandelten Tempel und beide zogen nach der Art des Ostens an der Schwelle ihre Schuhe aus. In dem Tempel war es angenehm kühl, und auf dem Altar glitzerten die Gold- und Silbergefäße. Tauben, Olivenzweige und ein Regenbogen waren in das Altartuch eingewebt, als Symbole für die erste Bestrafung und die erste Vergebung. Eliset und Cyrion traten, gemäß seinen einigermaßen verworrenen Anweisungen, in ein Seitengelaß. Hier erwartete sie eine kleine Versammlung vor dem zweiten Altar: Ein Mann verneigte sich, stellte die Zeugen vor und machte eine Bemerkung über ihre Eignung für dieses Amt. Während Cyrion nickte, wartete Eliset so stolz und ruhig wie einer der Balken aus Licht, der durch das Fenster fiel. Obwohl einfach gekleidet und ohne Schmuck, hatte sie einen feinen, bestickten Schleier angelegt, der jetzt den größten Teil ihres Gesichts verdeckte. Nur ihre ineinanderverkrampften Hände verrieten sie. Schließlich trat der Priester durch eine Seitentür herein, gefolgt von einem Jungen, der die Pergamentrollen trug. Ein mehr als schlichtes Gebet wurde gesprochen und dann begann die Trauungszeremonie, gerade als die Glocke auf der Zitadelle Mittag läutete. Die Zeremonie, das konnte niemandem verborgen bleiben, war bis auf das Skelett reduziert worden, und auch mit diesen abgenagten Knochen wurde mit unziemlicher Hast umgegangen. Der Priester, ein in weiße Gewänder gehüllter, vollbärtiger Mann mit ungebärdigen dunklen Locken, die unter dem Tuch hervorquollen, das er über den Kopf gelegt hatte, leierte an manchen Stellen Unverständliches, und an anderen geriet er ins Stottern. Auch schien ihm der rothaarige Bräutigam ganz und gar nicht zuzusagen, während er die Braut mit schwermütigen -284- Blicken bedachte. Als er symbolisch ihre Hände mit einem fransenbesetzten Streifen Seide verband, glitt es ihm aus den Fingern. Der Chorknabe fing es auf, bevor es den Boden erreichte. Beim Ringtausch erwies sich der Bräutigam als gleichermaßen ungeschickt, und Metall klirrte auf den Steinboden. Beide Male zeigte Eliset keine Regung. Vermutlich wußte sie, daß diese Zeremonie, obwohl jeder Würde beraubt, sie dennoch zu Roilants rechtmäßiger Ehefrau macht. Dokumente wurden unterzeichnet. Der Obmann der Trauzeugen nahm die übliche Geldsumme in Empfang, und alle zusammen eilten sie fröhlich schwatzend zur Tür hinaus. Cousin Roilant, der sich in seiner neuen Rolle noch etwas unsicher zu fühlen schien, teilte Eliset mit, daß er in dem gegenüberliegenden Gasthaus ein Zimmer gemietet hatte, wo sie essen und etwas ausruhen konnte, bevor sie sich gemeinsam auf den Rückweg nach Flor machten. Eliset dankte ihm mit äußerster Höflichkeit und nickte ebenso höflich zu all den anderen Fragen nach ihrem Wohlbefinden und der nur angedeuteten Zusicherung, daß er noch eine Stunde oder so in der Stadt zu tun haben und das Zimmer nicht mit ihr teilen werde. Ungefähr zwei Meter vor dem Ausgang brach Eliset in ein wildes Gelächter aus, das unter der Kuppel widerhallte. Ihr Ehemann betrachtete sie besorgt und war eindeutig der Meinung, daß die Aufregungen des Tages wohl zuviel für sie gewesen waren. Als sie sich wieder gefaßt hatte, meinte sie nur: »Hast du gut geschlafen letzte Nacht, Roilant?« »Ich? Oh ja – sehr tief sogar.« Hinter ihrem Schleier schien sie nahe daran zu sein, irgendeine finstere Drohung auszusprechen, aber sie beherrschte sich. »Ich habe Hunger«, sagte sie. Also gingen sie ins Gasthaus, und dort verabschiedete er sich -285- von ihr, um in der Stadt seine Geschäfte zu erledigen. Ein Teil dieser Geschäfte saß in dem anderen Gasthaus vor einem Becher Wein, neben sich ein Bündel, in das ein Priestergewand und ein dunkles Knäuel aus falschen Haaren verpackt waren. Als Cyrion sich setzte, hob der wahre Roilant, der wieder eine andere Perücke auf dem Kopf und Schweißtropfen auf der Stirn trug, den Blick. »Das hat mir«, verkündete Roilant, »absolut nicht gefallen.« »Ihr wolltet Heimlichkeit. Je weniger Mitwisser, desto besser, also mußtet Ihr eine Rolle selbst spielen. Außerdem dachte ich, Ihr würdet es genießen. Galgenhumor oder etwas in der Art.« »Da habe ich mich geirrt. Außerdem war es höllisch schwierig. Der alte Priester war einverstanden, als ich sagte, ich wollte eine Stunde lang alleine in der Kapelle beten. Dann, als ich herkam, begann er Einwände zu machen.« »Also habt Ihr die Bestechungssumme verdoppelt.« »Verdreifacht.« »Ah.« »Nein, ich finde es nicht lustig. Das ist das erste Mal, daß ich sie gesehen habe, seit ich fünfzehn war. Und trotz des Schleiers – Cyrion!« »Was?« »Ich kann nicht glauben, daß sie solcher Missetaten fähig ist.« Cyrion stützte sein rundliches Gesicht in die schmale Hand. »Ihr könnt immer noch an meiner Statt zu ihr zurückgehen und ein volles Geständnis ablegen, mein Lieber. Bestimmt wäre sie entzückt. Sie besitzt selbst einen etwas bitteren Sinn für Humor. Andererseits, wenn Eure Befürchtungen richtig sind, werden sie sich heute nacht bestätigen.« »Sie werden versuchen, Euch zu töten.« -286- »Nein, sie werden versuchen, Euch zu töten, den ich nur darstelle, wenn auch mit Vergnügen. Für Mörder ist ihr Vorgehen außerordentlich plump. Ich kann nicht glauben, daß sie in der Wahl des Zeitpunktes raffinierter sind.« Roilant stierte in seinen Weinbecher. »Ich habe die Zeremonie vermasselt.« »Natürlich. Das sollte doch auch so sein. Sie sollte doch in jeder Hinsicht unvollkommen sein. Trotzdem wirkte sie auf den Laien durchaus überzeugend. Übrigens hat mich Euer Gebet fasziniert. Unsere Vereinigung mit dem Paarungsflug der Bienen zu vergleichen. Ihr wißt natürlich, daß nach der Befruchtung die Drohne wie ein Hand schuh abgestreift wird und tot zu Boden fällt?« Roilant war blaß geworden. »Das wußte ich nicht. Wollt Ihr wirklich Eure Rolle weiterspielen? Die Gefahr ist groß.« »Was wir beide schon seit geraumer Zeit wissen. Der Plan nähert sich dem Höhepunkt. Und es w eine Schande, ihnen äre den Spaß zu verderben.« »Aber Eliset«, Roilant verstummte. »Heute nacht wird sie sich für Eure Frau halten. Cyrion, Ihr werdet nicht -« Die langen, mit Henna gefärbten Brauen hoben sich wie Engelsflügel. Der Blick war trotz der Verkleidung so unverwechselbar cyrionisch, daß Roilant nicht anders konnte, als zu grinsen. »Ich nehme an«, fuhr er fort, »sie ist kaum noch unberührt.« »Ihr könnt außerdem annehmen, daß es mir kaum erlaubt sein wird, so weit zu gehen.« Allein in dem Zimmer des Gasthauses, hatte Eliset den Schleier abgenommen, fand aber keine Ruhe. Sie ging zwischen dem Tisch mit dem kaum angerührten Imbiß und dem Fenster, aus dem man nur den Innenhof sehen konnte, hin und her. Ihr Schritt war leicht und beschwingt, in ihren Augen brannte ein -287- kaum bezähmbares Feuer. Nur einmal schaute sie zu dem Bett, das für sie zurecht gemacht war, falls sie den Wunsch hatte, sich niederzulegen. Ohne besondere Betonung, aber laut, sagte sie: »Mit wem auch immer ich heute nacht schlafen werde, Cousin Roilant, du wirst es nicht sein.« Später am Nachmittag, als ihnen noch ungefähr vier Stunden Tageslicht zur Verfügung standen, um den zwei Stunden langen Weg nach Hause hinter sich zu bringen, verließ die Hochzeitsgesellschaft das Gasthaus. Die Reihenfolge war dieselbe wie bei der Ankunft: vorweg Cyrion wie ein Sack auf seinem Maultier, dann die vier Träger mit der Sänfte und schließlich Harmul. Da ihm ein besseres Vorbild gefehlt hatte, war Harmul betrunken. Die vier angeworbenen Männer waren auch nicht nüchtern. Daher schwebte die kleine Sänfte einigermaßen schaukelnd durch den gewölbten Tunnel und die Straße der Wohlgerüche entlang, inmitten der Weihrauchschwaden und Opiumdämpfe. Anschließend durch die Straße der Vogelhändler, wo Harmul es für angebracht hielt, jedes Zwitschern und Pfeifen nachzuahmen. Nicht viel besser ging es in der Straße der Seidenhändler, wo Harmul äußerst plump einen mit silbernen Sternen bestickten Schal in seinen unrechtmäßigen Besitz brachte, woraufhin ein lautes Geschrei ausbrach und Cousin Roilant mit unwillig gerunzelter Stirn den Händler bezahlen mußte, während er laut darüber nachdachte, was in aller Welt Harmul mit einem Seidenschal anfangen wollte. Harmul gönnte ihm weder eine Antwort noch ein Dankeschön. Sie zogen weiter. Zwischen den gestreiften Vordächern des Marktplatzes gab es wieder einen Zwischenfall. Es geschah sehr plötzlich. Ein Korb mit Datteln fiel auf die Straße, dann einer mit Feigen und zum guten Schluß einer mit Orangen. Um die Sache abzurunden tauchte noch der am Rande eines Nervenzusammenbruchs befindliche Früchteverkäufer auf, und ein Käfig mit Tauben machte sich selbständig. Die -288- klebrigen Köstlichkeiten auf der Straße und die flatternden Federbündel in der Luft brachten Roilant samt Maultier einigermaßen außer Fassung, die Sänftenträger wedelten mit den freien Armen, wodurch die Sänfte hin und her schwankte wie ein Schiff auf hoher See, und Harmul klagte Gott und der Welt seine Not. Inmitten von Schmähungen, Zankereien, Gelächter, Früchten und Flaumfedern, stürmte ein untersetzter muskulöser Mann aus der Menge hervor und riß Cousin Roilant von seinem Maultier. Sie landeten auf den Datteln und rollten grunzend durch den zähen Brei. Der erheiternde Vorfall, den die Zuschauer mit fröhlichen Anfeuerungsrufen begleiteten, bekam ein anderes Gesicht, als ein langes, grausilbernes Messer aufblitzte. Daraufhin schrieen die Leute auf, aber zum Eingreifen fühlte sich niemand veranlaßt. Der kräftige und schwergewichtige Mann hatte den zappelnden Rotschopf unter sic h, schlug auf das pausbäckige Gesicht ein und hielt mit der anderen Hand den Dolch zum Stoß bereit. Die Klinge zuckte hinab. Es gab einen einstimmigen Aufschrei und dann eine atemlose Stille. Dem ingwerhaarigen jungen Mann, der rettungslos verloren schien, war es irgendwie gelungen, sich beiseite zu werfen. Der wuchtige Stoß hatte den harten Boden getroffen – und die Klinge war zerbrochen. Mit einem Schrei sprang der große Mann auf. Ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, bahnte er sich einen Weg durch die Menge und stieß jedes Hindernis rücksichtslos beiseite, ob es sich nun um Mensch oder Gegenstand handelte. Bald war er verschwunden, und falls es Verfolger gab, so holten sie ihn nicht ein. Cyrion, in seiner Rolle als Roilant, kniete auf der Straße. Er hielt sich ein mit Dattelsaft beschmutztes Tuch vor den Mund -289- und stand auf. Mit durch das Tuch etwas undeutlicher Stimme, dankte er den Sänftenträgern und Harmul überraschend ironisch für ihre Hilfe. Eliset hatte die Träger, die vorher ihre ungeteilte Aufmerksamkeit dem Kampf zugewandt hatten, endlich dazu gebracht, die Sänfte niederzusetzten. Sie stieg aus und trat zu ihrem Cousin, ohne die neugierige Menschenmenge zu beachten. »Bist du verletzt?« »Nicht tödlich. Darf ich dir mein Bedauern aussprechen?« »Was?« fragte sie. »Ein abgebrochener Zahn oder zwei. Er hat mich nicht umgebracht. Zu deiner Enttäuschung.« Ihr Gesicht hinter dem Schleier brannte vor Kälte. »Es ist weder die Zeit noch der Ort für Scherze«, bemerkte sie. »Willst du damit sagen, daß dies hier nicht von dir geplant war? Mir kam die ganze Sache ein wenig plump vor. Und auch etwas verfrüht. Ich hatte angenommen, du würdest die Dunkelheit abwarten… kühler erfrischender Stahl zwischen den Kissen.« »Roilant«, sagte sie, »der Mann war ein Dieb.« »Der nichts gestohlen hat, nicht einmal den Versuch machte, etwas zu stehlen.« Die Menge war begeistert. Die Leute drängten sich heran und lächelte über sie, die zornige adlige junge Frau mit Haaren wie eine lodernde Fackel und geröteten Wangen, die fast ihren Schleier in Brand setzten und den hochgewachsenen, aber dicklichen jungen Mann, dessen Haar bereits in Flammen stand. »Willst du mir damit sagen«, fragte sie, »daß du glaubst, ich hätte dich nur geheiratet, um dich anschließend ermorden zu lassen?« -290- »Warum nicht? Genau das war der Inhalt der Gerüchte.« »Darüber haben wir doch schon gesprochen. Du hieltest Gerüchte für niederträchtig, hatte ich angenommen.« »Hattest du?« »Wenn nicht, warum bist du dann so dumm gewesen, hier herzukommen und mich zu heiraten?« »Todessehnsucht?« murmelte Cyrion. »Denn ganz sicher, liebes Frauchen, jetzt, da wir eins sind, ist mein Leben nicht«, er schaute auf den Matsch zu seinen Füßen, mußte über das offensichtlich erst eine Weile nachdenken und fügte hinzu, »eine Feige wert.« Und dann, was sie mehr erschütterte, als wenn er sie geschlagen hätte, nahm er das Tuch von den Lippen und bedachte sie mit dem herrlichsten und boshaftesten Lächeln, das sie je gesehen hatte. So schön, daß sein gesamtes Gesicht sich veränderte und keine Ähnlichkeit mit Roilant mehr hatte, so boshaft, daß sie einen halben Schritt zurückgetreten war, noch bevor es ihr zu Bewußtsein kam. Und zu ihrem größten Entsetzen trat sie auf eine zu Boden gefallene Orange, die prompt zerplatzte, woraufhin die Zuschauer sich vor Vergnügen schier am Boden wälzten. Obwohl es sie ungeheure Mühe kostete, gelang es Eliset, sich zu beherrschen, aber ihr Gesicht, das erst weiß und dann rot gewesen war, wirkte jetzt grau. »Ob du es nun tatsächlich glaubst«, sagte sie, »oder ob du dir einen Scherz erlaubt hast, in beiden Fällen bist du verachtungswürdig. Das Unglück ist geschehen, aber es kann ungeschehen gemacht werden. Ich bin nur dem Namen nach deine Frau, und daran wird sich nichts ändern. Wenn du an meine Zimmertür klopfst, wirst du sie verschlossen finden.« Einige der Zuschauer johlten begeistert. Sie beachtete sie nicht. »Geh zurück«, fuhr sie fort, »auf dein feines Gut bei Heruzala, ohne mich. Geh und mach irgendeinem hirnlosen Mädchen den -291- Hof, falls eine dumm genug ist, dich zu erhören. Ja, du kannst die Scheidung haben. Mit Vergnügen. Und sonst nichts.« Sie wirbelte zu dem glotzä ugigen, weinseligen Harmul herum und rief: »Steig ab.« Harmul nickte ruckartig und gehorchte. Eliset, die es mit großartiger, beinahe akrobatischer Gewandtheit fertigbrachte, drei Dinge gleichzeitig zu tun – trotz ihrer wogenden Röcke in den Sattel zu steigen, den Damensitz einzunehmen, obwohl sie nur einen Steigbügel zur Verfügung hatte und die ganze Zeit stolze Würde zu bewahren -, gewann das Herz ihres großen Publikums im Sturm. Zornig trieb sie das Maultier mit einem Peitschenschlag zum Galopp und ritt unter einem Regen von Blumen zum Tor hinaus. Man hatte Flor zwar zur Feier des Tages geschmückt, aber ein Außenstehender hätte kaum erraten können, ob der Anlaß nun eine Hochzeit oder eine Beerdigung war. Braune Palmenzweige und schwindsüchtige Blumen standen in Vasen, und die parfümierte Kerze, die in dem Dachpavillon brannte, war von einem Kreis toter Motten umgeben. »Die halbe Stadt hat zugehört.« Die Stimme des Mädchens zitterte vor Aufregung oder Scham oder beidem. »Zum Entzücken von Cassireia.« Mevary. »Aber verstehst du, was ich meine?« Stille. »Niemand«, sagte Mevary, »wird sich an den Grund erinnern, nur an den Spaß.« »Wenn er unvermutet stirbt«, erwiderte sie, jetzt so ruhig wie der stählerne Schimmer auf der Klinge des Mörders, »wenn das geschieht, Mevary, vielleicht doch.« »Dann«, bemerkte Mevary, »müssen wir unserem Cousin Roilant wohl ein langes und gesundes Leben wünschen. Gott, -292- wie lästig er allmählich wird. Man könnte beinahe wünschen, der erbärmliche Dolch hätte sein Ziel nicht verfehlt.« Die frischgebackene Ehefrau war allein und völlig erschöpft in Flor eingetroffen, eine volle Stunde bevor ihr Gatte eintrudelte. Er hatte sich ein Tuch um die untere Gesichtshälfte gebunden und kümmerte sich nicht um Harmul, der mürrisch hinter ihm hertrollte, während von Sänftenträgem und Sänfte weit und breit nichts zu sehen war. Zu diesem Zeitpunkt hielt Eliset sich in ihrem Zimmer auf. Mervary allerdings hatte ein lebhaftes Interesse an den Ereignissen des Tages bekundet. Von seinen Ausschweifungen war ihm nichts mehr anzumerken. Es war Cousin Roilant, der dringend einer Erfrischung zu bedürfen schien. »Ich wurde angegriffen, wahrscheinlich von irgendeinem Verrückten oder Taschendieb. In der ersten Aufregung sagte ich etwas Dummes.« »Das habe ich schon gehört.« »Ich hoffe, sie wird mir verzeihen. Ich meinte es ironisch, und sie hielt es für Ernst. Außerdem glaube ich, daß ich mir einen Zahn abgebrochen habe. Vor Schmerzen kann ich kaum die Lippen bewegen.« »Dann solltest du dir deine Worte für Eliset sparen. Ich glaube, sie hat die Absicht, dich heute nacht zu Eis erstarren zu lassen.« Was über dem Tuch von Roilants Gesicht zu sehen war, bewölkte sich. Einige Zeit später stand der Überlebende des Mordanschlags von Cassireia gewaschen, gekämmt, mit Ringen an den Fingern und übertrieben prächtig gekleidet auf der Treppe, hörte einen kurzen Wortwechsel auf dem Dach und kündigte seine Anwesenheit mit dem üblichen Stolpern an. »Diese Treppe«, sagte Cousin Roilant und wankte auf die -293- Terrasse. »Ist gefährlich?« fragte Mevary hilfreich. Den erleuchteten Elfenbeinpavillon hinter sich, war er eine anmutigbedrohliche Erscheinung und trug den vierten Satz neuer Kleider, die er bis jetzt zur Schau gestellt hatte. Seine Augen schimmerten gelblich wie die Kerzenflammen, und ihr Schimmer verstärkte sich noch, als der dunkelblaue Himmel sich langsam schwarz färbte. Cousin Roilant kam näher. »Ist sie -« »Hier? Ja. Ich habe sie überredet. Ich sagte ihr, es täte dir leid.« »Ich habe ihr gesagt, daß es mir leid tut.« »Nun«, Mevary tat verschämt, »mich kennt sie länger.« »Und ich bin ihr Mann.« »Ja! Allerdings. Und wie geht es dem armen, mißhandelten Gesicht?« Cousin Roilant betastete es vorsichtig. »Das Zahnfleisch ist geschwollen. Bestimmt werde ich den Zahn verlieren.« Mevary schnalzte mitleidsvoll. Unter dem – jetzt allerdings sauberen – Tuch, das er beständig an den Mund führte, wirkte das runde Gesicht noch runder; durch die Schwellung in der Mundhöhle wölbten sich die Lippen vor und konnten sich nicht mehr ganz schließen. Außerdem sprach Cyrion-Roilant nur undeutlich und mühevoll. »Und das in deiner Hochzeitsnacht.« Cyrion ging an ihm vorbei und trat in den Pavillon. Eliset hatte das cremefarbene Seidenkleid mit den Chalzedonen angelegt und versuchte, eine Lampe zu hypnotisieren. Er murmelte etwas. Sie beantwortete das Gemurmel mit einem steifen Kopfnicken. -294- »Ein Hoch«, sagte Mevary strahlend und füllte seinen Pokal, »auf die Liebe.« Die kalten Speisen standen schon auf den Tischen. Die richtige Temperatur bekamen sie wahrscheinlich durch Elisets Blicke. Der Rest des Abendessens wurde kurz darauf von Zirhir gebracht. Sein Kopf war dick verbunden, wegen der Schnittwunde, die er von dem zerbrechenden Ölkrug davongetragen hatte. Mit ihm und dem angeschwollenen Cousin Roilant (wie Mevary bemerkte) glich das Haus allmählich einem Spital. »Er befürchtet«, sagte Mevary zu Eliset, »daß er einen Zahn verlieren wird.« Eliset antwortete nicht. »Er befürchtet, daß er außerdem noch eine Ehefrau verlieren wird. Komm, mein Vögelchen. Wenn du ihn schon mit Hilfe magischer Kräfte hier hergelockt hast, mußt du dich jetzt auch mit ihm abfinden.« Sie hob den Kopf und starrte Mevary an. Er wandte sich ab. »Sieh nur, wie verzweifelt der arme Mann ist. Er will nichts essen und nichts trinken.« Eliset stand auf und trat aus dem Pavillon auf die Terrasse. Dort stand sie in der Dunkelheit und beachtete die beiden Männer nicht. Mevary grinste. »Koste das Rosinenbrot. Es ist beinahe genießbar.« »Es fällt mir sehr schwer -« »- zu essen. Dann trink. Lindere Schmerz und Liebespein mit dem Blut der Reben.« Lautlos wie eine Gazelle erschien eine zweite weibliche Gestalt auf dem Dach, Jhanna, die eine große Platte mit Fleisch in den Händen trug. Damit kam sie in den Pavillon und setzte sie auf einem der Tische ab. -295- Mevary schien das nicht zu gefallen, unter seinem aalglatten Gehabe kam wieder die Grobheit zum Vorschein. »Geh und bediene Eliset, aber nicht uns.« Jhanna verneigte sich übertrieben tief. »Es ist an meiner Herrin, mich fortzuschicken.« Ruhig und kerzengrade, wie Eliset draußen auf dem Dach, stand sie vor Mevary. »Dann wird sie es tun.« Mevary schritt aus dem Pavillon. Jhanna, eine schwarze Lilie, neigte sich zu Cyrion herab und streifte ihn dabei mit ihrem duftenden Haar. »Herr. Habt Ihr das Fläschchen, das ich Euch gab?« »Ah – oh, ja, ich muß es irgendwo haben.« »Hier? Wenn ja, dann schüttet das Mittel in den Becher der Hexe. Jetzt ehe sie zurückkommen.« »Ich habe schon«, entgegnete Cyrion langsam, wegen seiner geschwollenen Lippen, »Gebrauch davon gemacht.« Sie holte tief Atem. Ihre Hände glitten über den Tisch, und um den Schein zu wahren, reichte sie ihm einen Teller mit Brot. »Ihr seid klug, Herr. Klug.« Cyrion schaute zu einer der Türöffnungen. Mevarys Stimme tönte durch die sternenklare Nacht. »Was kümmert mich diese Schlampe?« »Schlampe«, flüsterte Jhanna. »Ja, eine Schlampe, aber nur durch ihn. Seid wachsam, Herr. Und achtet auf Euren Becher.« Sie glitt hinaus und die Treppe hinunter wie ein Geist. Als sie fort war, beugte Cyrion sich vor und betrachtete die Teller und Becher, die vor den drei Plätzen standen. Da Flor nun einmal Flor war, hatte an jedem der drei Becher, obwohl einer zum anderen paßte, der Zahn der Zeit seine Spuren hinterlassen. Bei dem, der vor Mevarys Platz stand, fehlte ein ziemlich großes -296- Stück vom Rand und Elisets, der noch unberührt war, hatte einen weißen Fleck am Kelch. Der Pokal, den Zimir für Roilant hingestellt und Mevary gefüllt hatte – beides vor seiner Ankunft – hatte eine raue Stelle am Stiel, die zwar nicht zu sehen, aber gut zu fühlen war. Da er nichts essen wollte und alle sich aus einem Weinkrug bedienten, blieb dem Mörder nur übrig, das Gift in seinen Becher zu tun. Nach dem Zwischenfall in Cassireia und den dort geäußerten Verdächtigungen, würde jeder einigermaßen intelligente Mörder darauf achten, daß Cousin Roilants Hinscheiden natürlich wirkte. Natürlich konnte man mit dem Vermögen der Witwe das Gesetz in der gewünschten Weise beeinflussen, aber um die Sache glaubhaft zu gestalten, mußte doch der Schein gewahrt werden. Das bedeutete einen Tod ohne Wunde. Tod durch Gift. Und dazu noch eine Geschichte, um die Sache zu untermauern: Der unglückliche Roilant war von derselben Krankheit befallen worden, an der der Sklave Jobel gestorben war. Es kam häufiger vor, daß in solchen Fällen mehrere Personen dahingerafft wurden. Da er noch immer allein war, nutzte Cyrion die Gelegenheit, um an seinem Pokal zu riechen. Er konnte nichts Ungewöhnliches feststellen, aber der aufdringliche Duft der parfümierten Kerze hätte ohnehin jeden anderen Geruch überlagert. Er fragte sich, wer von den beiden sie wohl angezündet hatte. Draußen, in der summenden, glitzernden Dunkelheit, standen Mevary und Eliset sehr nahe beieinander. Ein leises Schaben war zu hören – der Perlengürtel löste sich und fiel zu Boden. Cyrion tauschte seinen Pokal mit dem rauen Stiel gegen Mevarys angeschlagenen Becher aus. Dann lehnte er sich abwartend zurück. Bald darauf tauchte Mevary wieder auf, Eliset, ohne Gürtel, folgte eine Minute später. Mevary aß mit gutem Appetit. Eliset -297- und Cyrion fasteten. Es dauerte nicht lange, und Mevary griff nach seinem Becher. Er hob ihn hoch, betrachtete ihn und hob statt dessen die Augenbrauen. Den Becher niederstellend, wandte er sich mit einem wohlwollenden Lächeln an Cyrion. »Oh, tatsächlich?« sagte Mevary. Cyrion schaute verwirrt. Eliset glich einer Ikone. »Es scheint«, verkündete Mevary, »daß ich nicht mehr meinen eigenen Becher habe. Hast du deinen noch, Eliset?« Die Ikone senkte den Blick und überzog ihren Wein mit einer Eisschicht. »Ich habe keine Ahnung.« »Und du, mein Ingwerpudding. Wessen Becher hast du?« »Verrückt«, bemerkte Cyrion aus einem geschwollenen Mundwinkel. »Hmm.« Mevary trank nicht. Ohne Vorwarnung ertönte aus dem Hof eine abscheuliche, quiekende Musik, die dem Klang nach wohl auf einer Mausefa lle hervorgebracht wurde. Mit einem Fluch stürmte Mevary aus dem Pavillon und schrie etwas nach unten. Die erbarmungswürdigen Laute verstummten. »Roilant«, sagte Eliset eisig. »Wie ich sehe, gefällst du dir immer noch in der Rolle unseres Opfers.« Sie beugte sich über den Tisch. Mit einer entschiedenen Bewegung vertauschte sie Mevarys Becher, ursprünglich Roilants, mit ihrem eigenen. »So, wir wollen dich also vergiften?« Sie hob Roilants Becher und betrachtete›Roilant‹dabei herausfordernd. Als sie seinen Wein trank, sprang er auf. Erstarrte dann. Mit einem Knall setzte sie den halbgeleerten Becher nieder und meinte: »Dann, wenn etwas darin war, werde ich sterben, nicht wahr?« »Ja«, sagte er. -298- »Also bin ich eine Närrin. Wie es auch närrisch von mir war, dich zu heiraten. Aber wir sind verheiratet, nehme ich an. Nein. Ich werde meine Tür nicht verschließen. Mevary hat mich überredet. Ich muß meine Pflichten erfüllen. Du kannst also kommen, wenn du möchtest. Wenn du nicht allzu viel Angst vor mir hast.« Eingehüllt in ihren Schneesturm, schritt sie an dem eben wieder hereinkommenden Mevary vorbei und die Treppe hinab. Mevary sah auf die Becher. »Also«, meinte er. »Laß mich das klarstellen. Du hast meinen Becher, ich habe Elisets und Eliset hat deinen. Da sie und ich die Mörder sind und Eliset aus deinem Becher getrunken hat, können wir also davon ausgehen, daß der Wein nicht vergiftet war. Mit meinem Becher, den du jetzt hast, sollte auch alles in Ordnung sein, da ich ihn seit Sonnenuntergang in Gebrauch habe. Elisets Wein dagegen, den ich jetzt habe – das ist alles ein bißchen verschwommen. Könnte es sein, liebster Pudding, daß du selbst in die Giftmischerei eingestiegen bist?« Und Mevary schüttete den Wein aus Elisets Pokal auf den Boden und die Kissen. »Siehst du wohl!« sagte Mevary mit beunruhigender Fröhlichkeit. Dann trat er an eine der Türen des Pavillons und schrie: »Zimir, Harmul, bringt Weinbecher. So viel ihr tragen könnt. Du bist«, fügte er an Cyrion gewandt hinzu, »tatsächlich sehr viel schlauer, als ich dir zugetraut hätte.« Cyrion schaute indigniert. Er schaute noch sehr viel indignierter, als die zerlumpten Diener ungefähr zehn Becher die Treppe hinaufschleppten, die alle irgendwelche Beschädigungen aufzuweisen hatten, und sie auf den Tisch knallten. Mevary, der die Teller und Schüsseln beiseite geschoben hatte, füllte die Pokale mit einem breiten Schwall aus einem der Krüge. Dann schob er sie schwappend und klirrend hin und her, wobei er seinen, Cyrions und Elisets -299- Becher in das Durcheinander mit einbezog. »Jetzt«, sagte er dann, »nehmen wir jeder einen Becher, liebster Cousin, und trinken ihn aus.« Cyrion erhob sich mit dem undeutlich, aber nachdrücklich geäußerten Wunsch, sich zu entfernen. Mevary schnippte mit den Fingern. Die überraschend starken Hände Zimirs senkten sich auf Cyrions Schultern und drückten ihn auf seinen Platz zurück. Cyrion setzte sich. Einen halben Ze ntimeter vor seinem linken Auge tauchte eine dünne, schmutzige Messerklinge auf. »Es könnte jetzt jeder Becher sein oder nicht? In jedem Becher könnte sich das tödliche Mittel befinden, das ich geschickt genug war, vor deinen Augen in den Wein zu mischen. Da«, fuhr Mevary fort, »du mich ohnehin für einen Schurken halst, will ich dich durch mein Leugnen nicht länger zum Idioten machen. Sie hat dich geheiratet, sie wird all deinen Besitz erben, wenn du stirbst. Dein ganzes bezauberndes kleines Vermögen. Also, trink.« »Nein -« Cousin zappelte, und das schmutzige Messer kam noch ein bißchen näher. »Anscheinend doch«, tröstete ihn Mevary seidig. Cyrion hörte auf sich zu wehren. »Also gut.« Er sank in sich zusammen. »Welchen?« »Oh, ganz nach deinem Belieben. Dies ist ein Spiel. Du trinkst aus jedem Becher, der auf dem Tisch steht. Bis du an den vergifteten kommst. Dann wirst du auch daraus trinken.« Harmul kicherte aufgeregt. Daß Zimir lächelte, konnte man sogar fühlen. Cyrion griff nach irgendeinem Becher. Es war nicht Mevarys – zwar fehlte ein Stück vom Rand, aber an einer anderen Stelle. Er hob ihn hoch und warf ihn über die Schulter in Zimirs Gesicht. -300- Hinter Cyrion geriet einiges in Bewegung und das drohende Messer war plötzlich verschwunden. Mit einem Satz sprang Cyrion von seinem Stuhl und dem Messer hinterher. Als er dem um sich schlagenden Jungen die Klinge entwand, zog Mevary mit einem verächtlichen Ausruf sein Schwert. »Messer gegen Schwert? Du hättest bewaffnet zu Tisch kommen sollen, wie in den guten alten Zeiten, mein Lieber.« Er trat zwischen Cyrion und den Tisch, und das Schwert trieb Cyrion zurück. »Du wolltest doch nicht sämtliche Becher ausschütten? O nein. So leicht nicht, verehrter Pudding.« Schon aus der ersten, spielerischen Bewegung des Schwertes, dem zweiten ernstgemeinten Hieb, war zu ersehen, daß Mevary ein Fechter von hohen Graden war. Cyrion wich zurück und verteidigte sich mehr symbolisch mit dem Messer. Das Schwert stieß ihm entgegen, und er glitt beiseite. Mit einem ängstlichen Schrei brachte Harmul sich in Sicherheit. Cyrion hatte den Pavillon verlassen. Mevary beförderte mit Fußtritten Zimir und einen Tisch aus dem Weg und eilte ihm nach. Auf dem Dach, unter dem weiten schwarzen Himmel mit dem glitzernden Sternenpublikum und der warmen Luft, die nach dem Mief der Kerze besonders erfrischend war, blieben beide Männer stehen, wie um sich mit der neuen Umgebung vertraut zu machen. »Mein Schwert könnte natürlich auch vergiftet sein.« Mevarys Klinge zeichnete ein leuchtendes Muster in das Halbdunkel der Terrasse und stieß dann herab wie ein Falke. Mit unerwarteter Behändigkeit wich Cousin Roilant dem Angriff aus. Dann warf er sein Messer. Es sollte Mevary treffen und hätte es auch getan, wäre der wölfische Cousin nur nicht auch so flink gewesen. Er bewegte -301- sich gedankenschnell, und das Messer flog über das Terrassengeländer in der Nacht hinein. Mevary, der für seinen Cousin viel zu große Geringschätzung empfand, als daß die schwächliche Gegenwehr ihn hätte belustigen können, sprang vor, und sein Schwert sang, als es ihm die Richtung wies. Cousin Roilant entkam mit einem wunderschönen Satz nach hinten, aber dafür wurde ihm etwas anderes zum Verhängnis. Etwas matt Schimmerndes hing in Knöchelhöhe vom Geländer auf den Boden der Dachterrasse, wie eine lange dünne Schlange. Cousin Roilant stolperte und fiel, und Mevary, der die ganze Sache jetzt doch recht amüsant fand, schlenderte zu ihm. Während Zimir und Harmul, die pflichtbewußten Diener, aus ihren Verstecken kamen und sich auf den am Boden liegenden Mann stürzten, ohne auf das wütende Treten seiner gestiefelten Füße zu achten, die von Elisets mit Perlen besetztem Purpurgürtel gefesselt waren. Cousin Roilant hörte auf, sich zu wehren. Er lag da und wurde verspottet, derweil Mevary zu dem Pavillon zurückging. Aber als Mevary mit einem Becher Wein zurückkam, zeigte Cousin Roilant erneut das Bestreben, diesen gastlichen Ort zu verlassen. Mevary kniete nieder und hielt ihm den Becher hin. »Ich habe den richtigen gefunden. Meinen Becher. Den du gegen deinen eigenen ausgetauscht hattest. Womit ich rechnete. Entweder habe ich vorhin schon Gift hineingetan, als ich aufhörte zu trinken oder erst jetzt. Ich frage mich, was wohl zutrifft. Aber wie auch immer, trink aus! Sei vergnügt, sei ausgelassen! Es ist deine Hochzeitsnacht.« Cousin Roilant kämpfte noch ein bißchen gegen die beiden Knaben, die seine Arme festhielten und dabei knurrten und hechelten wie junge Hunde. Schließlich tauchte Mevarys Schwert wieder auf und küßte den Hals des Widerstrebenden. »Entweder trinkst du«, sagte Mevary mit vollem Ernst, »oder ich schneide dir die Kehle durch und verabreiche dir den Trunk -302- auf diesem Wege.« Cousin Roilant schien zu resignieren. Als Mevarys Diener ihn losließen, setzte er sich auf und streckte würdevoll die Hand nach dem Becher aus. »Herunter damit«, sagte Mevary. »Sei ein artiger Junge.« Cyrion legte den Kopf zurück, goß den ganzen Inhalt des Bechers in den Mund, kniff die Lippen zusammen und schluckte würgend. Mevary trat zurück. Und trat noch weiter zurück, als die plumpe Gestalt mit vorquellenden Augen aufsprang, an ihm vorbeistürmte und – diesmal ohne Stolpern – die Treppe zum Innenhof hinunterlief. Johlend flitzten die beiden Diener hinter ihm her. Wenige Augenblicke später gab es Tumult unten im Hof. »Wir haben ihn!« »Hat versucht, sich den Finger in den Hals zu stecken.« Mevary schaute über das Geländer. »Ein Schluck«, verkündete er, »ist schon genug. Zu spät, um es wieder auszuspucken. Geh lieber zu Eliset, da hast du deine Bequemlichkeit, um zu sterben.« Hannul und Zimir ließen den Unglücklichen los und hüpften vor Lachen zwischen den Brunnen herum. Auf dem Dach schob Mevary mit der Eleganz des großen Fechters sein Schwert wieder in die Scheide zurück. Eine Viertelstunde danach klopfte der Bräutigam an die Tür seiner Braut und, als er eingelassen wurde, krächzte die romant ischen Worte: »Man hat mich vergiftet.« »Nein«, erwiderte sie mit Bestimmtheit. »Ich bin diejenige, die man vergiftet hat.« Cyrion schloß die Tür und lehnte sich dagegen. Die Schwellung schien zurückgegangen zu sein, und sein Gesicht -303- hatte wieder das normale pausbäckige Aussehen. Er sagte: »Der liebe Cousin Mevary hat mich öffentlich bedroht und mich – wie soll ich sagen? – angefleht, den Becher leerzutrinken, der ursprünglich ihm gehörte. Er hat all meine Pläne vorausgeahnt, scheint es. Der Bechertausch war beabsichtigt.« »Außer wir hätten auch deinen Becher vergiftet.« »Dann hättest du nicht daraus getrunken.« »Wirklich nicht?« Sie betrachtete ihn abweisend. »Ist mein Leben so schön, daß ic h Grund hätte, mich daran zu klammern? Vielleicht war mir gleichgültig, was aus mir wird.« »Wenn du damit gerechnet hast zu sterben, warum bist du dann für das Brautbett gekleidet?« erkundigte sich Cyrion. Eliset starrte ihn einen Moment lang an und wandte sich dann ab. Das halb durchsichtige Nachtgewand und der goldene Schleier ihrer Haare folgten schwingend der Bewegung. »Und wenn du glaubst zu sterben, Roilant, warum bist du dann hier?« »Man muß«, erklärte Cyrion weise, »seine letzten Minuten schließlich irgendwo verbringen. Warum sollte ich dir das Schauspiel meiner Todeszuckungen ersparen? Vielleicht gelingt es mir dabei sogar, einige deiner spärlichen Möbel zu beschädigen.« »Meinetwegen. Bald gehört mir dein gesamter Besitz in Heruzala.« »Wirklich?« Sie drehte sich wieder zu ihm herum. »Oder war vielleicht alles eine Lüge? Vielleicht hast du gar kein Vermögen? Vielleicht wird deine Witwe keinen Pfennig haben?« Sie war jetzt beherrscht und atemberaubend schön, der Mittelpunkt des bernsteinfarbenen Kerzenschimmers in einem Raum, der, trotz der offensichtlichen Spuren von Verfall und -304- Armut, durch ihre Anwesenheit geadelt wurde – ein magisches Trugbild? »Warum«, meinte Cyrion und setzte sich in einen hochlehnigen Stuhl, »verschönst du mir die letzten Augenblicke nicht mit einigen faszinierenden Enthüllungen. Warum erzählst du mir nicht etwas über Mevary?« »Mevary – ist Mevary.« »Entschuldige. Ich meinte den ersten Mevary, seinen Vater. Deinen Onkel.« Sie raffte die Falten des lose fallenden Gewandes zusammen, so daß es undurchsichtig wurde – eine seltsam anmutende Geste, da sie vorher keine derartige Schamhaftigkeit gezeigt hatte. »Er war mein Vormund, bis ich siebzehn wurde.« »Das war der Zeitpunkt, als er starb. Wie?« »Er ertrank«, antwortete sie leise. »Im Meer.« »Im Badehaus. Im Heißwasserbecken. Er -« sie wandte den Blick ab und trat ans Fenster. »Er war ein Trinker, und ekelhaft betrunken stieg er ins Bad und ertrank. Ekelhaft, da bin ich sicher.« »Du hast ihn von ganzen Herzen geliebt.« »Wie du aus meine n Worten entnehmen kannst.« »Hast du ihn getötet?« »Nein. Hin und wieder hatte ich davon geträumt. Aber ich habe ihn nicht getötet.« »Sein Geist geht im Haus um, wußtest du das?« »Ich habe davon gehört. Sein Geist. Der der alten Tabbit, meiner Amme. Remusaner in Hülle und Fülle und Meeresdämonen, die des Nachts die Klippen hinaufsteigen -« Sie kam zu ihm zurück, fiel auf die Knie, senkte den Kopf und sagte durch den Schleier aus leuchtendem Haar: »Du verdienst -305- die Wahrheit. Deine verdammenswerte Dummheit verdient sie. Sollte Roilant es erfahren? Ja, er soll es erfahren. Ich hatte nie vor, ihn zu hintergehen.« Sie hob den Kopf und erwiderte zynisch seinen Blick. »Ich werde es dir sagen. Mervary hat gewiß angedeutet, daß ich keine Jungfrau mehr bin. Aber er wird bestimmt nicht gesagt haben, daß sein Vater mich an meinem vierzehnten Geburtstag zu seiner Geliebten machte. Es geschah hier, in diesem Zimmer. Dort drüben, bei der Truhe. Mein Onkel kam herein und innerhalb von kaum fünf Minuten hatte er mich vergewaltigt. Als es vorbei war, fragte er mich, ob es mir gefallen hätte und ob ich ihn liebte. Als ich sagte›nein‹, schlug er mich. Dann fragte er mich wieder und ich sagte›ja‹. Ich lerne schnell, wie du siehst. Drei Jahre lang gab ich ihm das Lippenbekenntnis, nach dem seine Eitelkeit verlangte, und wonach sein Fleisch verlangte, gab ich ihm auch. Ich hieß ihn immer freudig willkommen. Ich lernte auch, seine Gelüste auf die Arten zu befriedigen, die er am liebsten hatte. Du wirst feststellen, daß ich erfahren bin, wenn auch verdorben.« »Und der zweite Mevary«, fragte Cyrion gelassen. »Wie steht er zu dir?« »Er ist mein Liebhaber, wie du weißt.« »Den du liebst wie einen Gott.« Ihre blauen Augen musterten ihm mit scharfer Aufmerksamkeit. »Das hast du also auch gehört? Und es geglaubt, wie er es glaubt? Nein. Er ist nicht mein Gott. Ich liebe ihn nicht, begehre ihn nicht, ich mag nicht einmal seine Gesellschaft. Nach alter Familientradition vergewaltigte er mich. Inzwischen war ich daran gewöhnt. Wie bei seinem Vater, so ist auch sein Liebesspiel kaum mehr als eine Vergewaltigung. Und wie sein Vater ist er ein eifersüchtiger Wicht, einer, der Frauen und Pferde schlägt und es liebt, angebetet zu werden. Also bete ich ihn an.« -306- »Warum?« »Habe ich es nicht gerade erklärt, warum? Wie sonst hätte ich hier leben können? Wie sonst hätte ich überhaupt leben können?« »Ach ja. Du konntest es nicht ertragen, auf dein Erbe zu verzichten, diesen Trümmerhaufen. Also hast du ausgehalten. Und darauf gehofft, daß ich mein Versprechen einhalten würde.« »Du.« Sie war zornig. »Ich hatte gehofft, daß die Ehe mir die Wohltat des Friedens bringen würde.« »Nachdem du dich meiner entledigt hättest.« Sie schüttelte den Kopf, als wäre sie verwirrt, unsicher. »Ich fürchte beinahe, daß Mevary etwas in der Richtung vorhaben könnte. Aber ich glaube nicht, daß er aus dem Holz geschnitzt ist. Alles andere, aber das nicht. Für einen Mord braucht es eine Art Grausamkeit, von der ich nicht annehme, daß er sie besitzt.« Sie hockte sich auf die Fersen, betrachtete Cyrion nachdenklich und wurde dann sehr still. Schließlich fragte sie: »Was ist?« »Was denkst du, das es ist?« »Du bist krank.« »Ich habe dir schon an der Tür gesagt, was es ist.« »Gift? Das glaube ich nicht.« »Er sagte mir, daß ich es nicht mehr loswerden könnte. Wie es scheint, hatte er recht. Was den ästhetischen Gesichtspunkt betrifft, so brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Mein Tod wird keine Ähnlichkeit mit Jobels haben. Welch ein Glück für uns beide.« Jetzt war sie ernsthaft beunruhigt. Das Licht der Lampe und der Kerzen spiegelte sich in den Schweißtropfen, die langsam über seine Stirn, die Wangen und den Hals rollten. Seine Hände packten die Seitenlehnen des Sessels. Seine Lippen, deren Schwellung so rasch zurückgegangen war, hatten die Farbe von -307- Gips. »Was«, fragte sie, »kann ich tun?« »Ein passendes Gebet?« brachte er heraus. Es fiel ihm schwer. »Ich würde dir nicht raten, mir einen Abschiedskuß zu geben.« Die Schmerzen, denn er hatte ganz offensichtlich Schmerzen, schienen zugenommen zu haben. Sein Körper streckte sich, krümmte sich, sein Gesicht verzerrte sich um die zusammengepreßten Lippen, und seine Augen erstarrten. Ein Blutrinnsal tröpfelte aus einem Winkel seines Mundes. Das letzte, was Cyrion von Eliset sah, als die Qual seinen Blick trübte, war ihre hochaufgerichtete Gestalt, die in das Zimmer zurückwich, bis Gold mit Gold verschmolz. Dann zerbrach die letzte Verbindung mit dem Leben, wie der Stiel einer Blüte. Die Welt verging in einer schwarzen Feuersbrunst, die ihm einen Schrei entrang. Eliset, die wieder am Fenster stand, blieb stehen, den Schrei wie ein Messer in ihrem Kopf. Sie schien zu warten. Als sie an ihn herantrat, um sich zu vergewissern, war er erschlafft und seitlich über die Armlehne des Sessels gefallen. Seine Auge n waren geschlossen, er lächelte schwach, sein Atem war erloschen, und sein Herz stand still. 4. Kapitel Der Anblick eines einzelnen Reiters, der sich in der scharfkantigen Helligkeit des späten Vormittags dem Herrenhaus von Flor näherte, wirkte sich nic ht eben beruhigend auf den in Aufruhr befindlichen Haushalt aus. In der vergangenen Nacht hatte es ein ungewöhnlich betriebsames Kommen und Gehen, Tür auf, Tür zu, gegeben. Nicht jeder war über das Vorgefallene im Bilde und die es waren, zeichneten sich nicht durch besondere Seelenruhe aus. Der einsame Reiter -308- mit seinem Brief, den er am Tor mitleidlos dem zufällig anwesenden Zimir überreichte, war tatsächlich ein Vorbote des Schicksals. Als Zimir zu den Stallungen rannte, wurde er plötzlich einigermaßen grob von einer wolfsmähnigen Gestalt aufgehalten. Der Brief wechselte den Besitzer. Er war an Roilant von Beucelair gerichtet, und Mevary öffnete ihn sofort. Schließlich hatte er guten Grund zu der Annahme, daß Cousin Roilant sich kaum noch dafür interessieren würde. Der Umschlag enthielt zwei Papiere. Das erste, das Unterschrift und Siegel von drei Anwälten trug, bestätigte die Echtheit des zweiten Schriftstücks, das wiederum nur die Abschrift eines anderen war, das an einem sicheren Ort in Heruzala lag. Dieses zweite Schriftstück trug Roilants eigenes Siegel, was Mevary nicht davon abhielt, es gleichfalls zu öffnen. Man mußte nicht unbedingt ein Genie sein, um den Inhalt zu erraten. Roilants Schreiben verkündete, eingekleidet in allerlei blumige Redewendungen, daß bei seinem Tode – sollte dieser plötzlich eintreten – sein gesamtes Vermögen, Landbesitz, Gelder und Vieh, an keinen geringeren als an König Malban persönlich fallen sollte, seinen verehrten Lehnsherrn. Es war die einzig mögliche und vollkommen siche re Art, auf die ein reicher Mann seine Erben und Angehörigen um ihre Ansprüche betrügen konnte: alles Gott oder dem König zu vermachen. Hatte man es mit hartnäckigen Erben zu tun, war der König die bessere Wahl. Vielleicht eine Stunde danach wisperten Stimmen in dem Obstgartendschungel unter einem von Wespen belagerten Maulbeerbaum. Es war nicht zu erkennen, welcher Mann und welche Frau da in dem brütenden Schatten zischelten, als hätten sie sich ein Beispiel an den Wespen genommen, aber die Stimmen erinnerten sehr an Mevary und Eliset. »Ich habe ihm nichts in den Wein getan. Der Feigling ist vor -309- Angst gestorben«, sagte der Mann, der sich wie Mevary anhörte. »Wirklich nicht, mein Herz?« sagte die Frau zärtlich und in ihren Worten klang dieselbe Spur Gift wie in jener anderen Nacht, als sie sich über einen scheinbar betäubten Schläfer unterhalten hatten. »Nein. Habe ich nicht. Er bildete es sich nur ein. Die Angst hat ihn umgebracht. Außer du -« »Ich?« Erstaunte Unschuld. Herausfordernd sagte er: »Warum nicht du? Oh, süßeste aller Cousinen, du gehst seltsame Wege.« Leidenschaftlich sie: »Du weißt, daß ich dich anbete. Du weißt, daß ich dich bewundere. Verleugne ich denn nicht alle Dinge, alle Menschen und allen Glauben, damit du bekommst, was du dir wünschst?« »O ja, schon gut. Aber ausgerechnet heute diesen blödsinnigen Brief zu bekommen – daß das gesamte Vermögen von Beucelair an den König fällt.« »Und wir nun doch leer ausgehen?« »Denk ein bißchen weiter. Ein Testament, in dem Cousin Pudding seine Witwe und alle Verwandten von seinem Erbe ausschließt und alles dem König hinterläßt, wird selbst den guten Malban auf den Gedanken bringen, daß Roilant uns verdächtigte. Sobald man weiß, daß Roilant tot ist, wird man uns als seine Mörder brandmarken.« Ungerührt sie: »Die Witwe wird vor dir an die Reihe kommen.« Verärgert er: »Das hilft mir nicht weiter. So wie unsere Pläne jetzt stehen, einen Unsicherheitsfaktor hineinzubringen -« »Das ist gar nicht nötig.« »Wieso?« Zwischen tiefherabhängenden Ästen, Früchten, Laut und surrenden Insekten blitzten zwei Augenpaare und verkrallten -310- sich ineinander, sinnlich, feindlich, gierig. »Wenn Roilants Tod jetzt ungelegen kommt«, sagte sie, »dann laß ihn jetzt noch nicht sterben.« »Damit kommst du ein bißchen spät.« »Ganz und gar nicht. Er ist nach Hause zurückgekehrt oder fortgeritten – je nachdem, wer nach ihm fragt, falls es überhaupt jemand tut. In der Zwischenzeit bette den Leichnam zur Ruhe, und vergiß die ganze Sache.« »Und durch das frisch ausgehobene Grab kommt dann doch alles heraus.« »Nein. In dem Grabmal meines Vaters Gerris ist noch Platz, hast du daran nicht gedacht? Heute nacht legst du den teuren Verstorbenen hinein und schiebst die Platte wieder über das Grab. Harmul und Zimir werden nicht wagen, etwas zu verraten. Nach allem, was du mir erzählt hast, waren sie nicht unschuldig an Roilants Tod. Und diese Frau, die du als deine Sklavin hältst, diese alberne Ziege, der kannst du befehlen, den Mund zu halten. Oder nicht?« Ein Lachen. »Ja. Du bist sehr klug, mein sanftes Liebchen.« Es folgten andere Geräusche und ihre nadelspitze Stimme: »Hier? Mein rustikaler Freund. Erinnerst du dich, wie du mich vergewaltigt hast, damals?« »Und du«, sagte er, »erinnerst du dich, wie gut es dir gefallen hat?« Ihr Lachen war so weich wie Katzenfell, und die grünen Schatten flossen ineinander. Der schimmernde Ozean, blau wie die Farben aus Tynt und mit einem Spitzenbesatz aus weißem Schaum, drang in Höhlen und Schächte und geheimnisvolle Gänge, füllte sie aus und zog sich wieder zurück. Der Tag sprang von der Küste und stürmte über das Wasser. Der Horizont trank die Sonne, eine Meeresgö ttin, die ihr blutiges Opfer empfing. -311- Diese Nacht auf Flor war erfüllt von dem Rauschen von Ebbe und Flut, dem Gesang von ein oder zwei Nachtigallen, metallischem Klirren, schabenden Geräuschen, einem unangenehmen Knirschen, einem Plumps, weiterem Schaben und Knirschen und dem Kratzen von Stein auf Stein. In Cassireia wären diese Geräusche wahrscheinlich kaum aufgefallen. Dort knallten die ganze Nacht hindurch T üren und Fensterläden, Berittene polterten im Auftrag des Gouverneurs durch die Straßen, Betrunkene grölten oder gaben das eben Genossene wieder von sich, Hunde beschwerten sich, und wahnwitzige Hähne, die durch das ständige Aufflammen neuer Lichter und ge legentlicher Brände völlig durcheinander gerieten, krähten pausenlos. Diesem Orchester hatte Roilant gelauscht wie auch schon während anderer schlafloser Nächte in dem Gasthaus neben dem Tempel. Als die Morgendämmerung sich ankündigte und die Hähne schon wieder zu schreien begannen, ob nun aus Verlegenheit oder beleidigter Würde, stand er auf, setzte sich hin und begann mit einem Brief an seine verlorene Geliebte in Heruzala. Aber ihm fiel nichts ein. Vor ihr beruhigendes, wohltuend normales Bild schob sich ein anderes. Eliset. Die Morgendämmerung, gemäß den Schriften des Propheten Hokannen, war eine Zeit der Reinheit und Unschuld unter den Geschöpfen der Erde. Der Löwe kam zur Tränke und labte sich dort gemeinsam mit dem Reh. Der Vogel stieg der Sonne entgegen, dem immer wiederkehrenden Wahrzeichen von Gottes Liebe und Vergebung. Der Sonnenaufgang brachte die Reinigung von allen Sünden. Man konnte ein neues Leben beginnen. In der Wüste, wo der Prophet, wie andere Propheten vor ihm, so lange gelebt hatte (vielleicht zusammen mit der bronzehaarigen Zilumi), war solch ein Bild vorstellbar. Der nahende Tag verlangte nichts weiter als Meditation, Gebet und innere Einkehr, hin und wieder bereichert durch einen -312- räuberischen Ausflug zu den Nestern wilder Bienen oder den Verzehr hilfloser Heuschrecken. In Cassireia brachte die Morgendämmerung nichts als noch mehr Lärm, und schließlich legte Roilant seinen angefangenen Brief beiseite. Schwere Schritte auf der Treppe überzeugten ihn, daß er gut daran getan hatte. Lautes Klopfen an der Tür bestärkte ihn noch in der Überzeugung. Roilant öffnete, und ein großer Mann, der zur einen Hälfte aus Fett und zur anderen aus Muskeln bestand und die Spuren eines langen Rittes an sich trug, betrat den Raum. Unverkennbar handelte es sich bei ihm um den größeren Diener aus Heruzala, der den als Roilant verkleideten Cyrion nach Flor begleitet hatte. Außerdem konnte man in ihm den Verrückten wiedererkennen, der Cyrion auf dem Marktplatz von seinem Maultier gezerrt hatte und dem es dann nicht gelungen war, ihn mit einem entsprechend hergerichteten Dolch zu erstechen. Auf Cyrions Vorschlag hin hatte Roilant ihn in seine Dienste genommen. »Was«, fragte Roilant, »ist geschehen?« »Das Schlimmste«, erwiderte der angeheuerte Mann. Er sagte das nur aus Höflichkeit; denn ihm war alles gleich, solange er bezahlt wurde. »Was meinst du damit›das Schlimmste‹?« »In der Hochzeitsnacht ist irgend etwas Merkwürdiges vorgegangen, jedenfalls nicht das, was man gemeinhin erwartet. Anschließend gab es ein großes Hinundhergelaufe. Am nächsten Tag war Mevary beschäftigt. Ich verlor ihn aus den Augen. Dann sah ich ihn alleine aus den Obstgärten kommen – da hatte er wohl auch eine Beschäftigung gehabt, mit ihr, nehme ich an. Komisch, wie manche die frische Luft lieben… Dann wurde es Abend, und schließlich ging der Mond unter. Kurz darauf kamen vier Leute aus der Hintertür und gingen am Badehaus vorbei -313- zum Friedhof. Sie öffneten eines der Gräber mit Eisenstangen. Dann legten sie einen Toten hinein.« »Mein Gott. Wen?« »Wen glaubt Ihr wohl?« »Du meinst, er -« »Es gab nur verdammt wenig Licht, aber ich saß auf diesem halbverfallenen Turm und hatte von oben gute Sicht. Ein kleiner Baum stand im Weg, aber es war einer von diesen spillerigen Dingern, und ich konnte gut zwische n den Ästen hindurchblicken. Ich konnte Euren Cousin Mevary erkennen und die zwei Bengel. Und sie war auch dabei; selbst ohne Mondlicht schimmerte ihr Haar wie eine goldene Fahne. Der Leichnam war in ein Laken gewickelt, aber es war überall zerrissen, und sein Gesicht war nicht verdeckt. Ich konnte genug sehen, um zu erkennen, daß er es war, und dann glitzerten auch die Ringe an seiner linken Hand. Er war schwer. Es gab Schwierigkeiten mit der Grabplatte. Sie mußte mit Hand anlegen. Dann schoben Mevary und die beiden Jungen die Platte wieder über die Öffnung und gingen.« »Gütiger Gott, Bist du sicher?« »So sicher, wie man nur sein kann. Ich saß nur sechs Meter über ihm und nur ein kleines Stück entfernt. Es war Cyrion, und er war so tot, wie ein Toter nur tot sein kann.« Roilant setzte sich wieder. Seine Hände zitterten. »Die Möglichkeit bestand. Er hat es selbst zugegeben.« »Also hat er Euch für diesen Fall einen Plan hinterlassen?« »Ja. O Gott! Ich hatte gehofft, mich heraushalten zu können. Und Cyrion – ich hielt ihn für unbesiegbar.« »Ein schlauer Teufel«, stimmte der angeheuerte Mann zu, »aber auch Füchse gehen einmal in die Falle.« »Ich habe schuld.« Der angeheuerte Mann fühlte sich gelangweilt. Er war Soldat -314- gewesen, und ein plötzlicher Tod war für ihn etwas Alltägliches und nichts, worüber man sich aufregte. Nach eine paar Anweisungen schickte Roilant ihn in seine Unterkunft und lief in seinem Zimmer hin und her. Er hatte das scheußliche Gefühl eines Mannes, der unbeabsichtigt ein großes Unglück heraufbeschworen hat. Cyrion. Daß Cyrion tot sein sollte, war unglaublich. Roilant glaubte es nicht. Er dachte an die Geschichte des Karawanenführers über die Engelsritter. Wie Cyrion Besinnungslosigkeit vorgetäuscht hatte. Wenn das möglich war, konnte er dann nicht vielleicht auch seinen eigenen Tod vortäuschen? Wäre Roilant Zeuge der Vorfälle auf der Dachterrasse gewesen, hätte er wohl auch diese Hoffnung fahren lassen. Ganz eindeutig war der Wein vergiftet gewesen, wer auch immer das bestreiten mochte. Und Cyrion hatte den ganzen Inhalt des Bechers in den Mund geschüttet und dann angestrengt geschluckt. Mit nur einer kleinen Menge Flüssigkeit im Mund konnte es vielleicht machbar sein, zu schlucken, ohne dabei etwas davon hinunterzuschlucken. Aber Cyrion hatte alles auf einmal hinabgewürgt. Auch durfte man Mevarys Bemerkung nicht außer acht lassen: »Schon ein Schluck genügt.« War das Gift wirklich so stark (und viele waren es), hätte es ohnehin nichts genützt, es wieder auszuspucken. Schon der winzige Rest des Mittels, der sich in der Mundhöhle und auf der Zunge mit Speichel vermischte, wäre tödlich gewesen. Was dann später hinter der verschlossenen Tür von Elisets Zimmer geschah, hätte Roilant noch zusätzlich verunsichert. Dort hatte man Cyrions Leichnam nach allen damals bekannten Lebenszeichen untersucht. Aber der schlaffe Körper reagierte weder auf Schläge, noch Kitzeln, Feuer und Nadelstiche und der Spiegel, den man ihm vor das Gesicht hielt, blieb völlig klar. Es gab noch etwas, das Cyrions Überleben unmöglich machte. Ein Lebender, den man in das luftdichte Grab legte, mußte unweigerlich ersticken. Drei Paar Hände und Stemmeisen waren -315- nötig gewesen, um die Deckplatte zu bewegen. Jemand, der diese Unterkunft zu verlassen wünschte, sah sich einigen Schwierigkeiten gegenüber. Ob nun tot oder lebendig, Cyrions Zukunft sah nicht sehr rosig aus. Jhanna hatte geweint, heftig, aber lautlos, eine Fähigkeit, die sie sich schon vor langer Zeit gezwungenermaßen angeeignet hatte. Auch hatte sie sich die Wohltat der Tränen geraume Weile versagt, und dies war seit dem Tod von Roilant von Beucelair die erste Gelegenheit, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, ohne daß sie befürchten mußt, dabei gestört zu werden. Ihr Tränenstrom begann und versiegte allerdings mit bemerkenswerter Plötzlichkeit. Bei dem Leben, das sie geführt hatte, war es lebensnotwendig gewesen, andere zu täuschen. Außerdem verfügte sie, wenn sie es wollte, über eine bewunderungswürdige Selbstdisziplin. Sobald sie den Höhepunkt ihres Gefühlsausbruchs erreicht hatte, beruhigte sie sich. Eine Minute später, und sie wandte sich mit undurchdringlichem Gesicht und trockenen Augen der Tür ihrer Kammer zu. In diesem Auge nblick ertönte ein kaum hörbares Rascheln auf der Schwelle. Vielleicht war es nichts weiter als ein Blatt, das von einem Windstoß umhergewirbelt wurde. Jhanna, die über mancherlei Dinge Bescheid wußte, glaubte nicht daran. Mit lautlosen Schritten durchquerte sie den Raum und schlug den Vorhang zurück. Niemand war zu sehen, aber auf der Schwelle lag ein kleines Päckchen. Vorsichtig hob sie es auf. Erst drehte sie es in den Händen, und dann roch sie daran. Sehr behutsam öffnete sie es. Etwas Schimmerndes fiel zu Boden. Jhanna betrachtete es, dann bückte sie sich und hob es auf. Ein langer Seidenschal, der mit silbernen Sternen bestickt war, tanzte zwischen ihren Fingern. Ein Schal von der Art, wie eine vornehme Dame ihn wohl benutzte, um ihr Kleid oder ihr Haar zu schmücken. Ohne auf ihr ärmliches Gewand zu achten, das sie nach Jobels tobsüchtigem Angriff über der Brust wieder -316- zusammengenäht hatte, hob Jhanna den Schal in die Luft und ließ ihn auf ihren Kopf herabschweben. Die silbernen Sterne glitzerten, ihre silbernen Augen aber nicht, als sie über den Hof ging und in die Küche trat. Harmul war damit beschäftigt, die Öfen zu reinigen. Oder tat wenigstens so. Nach einer Weile, während der das Mädchen nichts sagte und sich nicht bewegte, drehte Harmul sich mit sichtlichem Widerwillen herum. »Gefällt dir«, fragte Jhanna, »mein Schleier?« Harmul wurde bleich und betrachtete seine schmutzigen Zehen. »Sieht er nicht aus wie der Schal einer vornehmen Dame?« erkundigte Jhanna sich zuckersüß. »Ich fand ihn gerade eben vor meiner Tür. Das Geschenk eines Dämonen. Es war niemand zu sehen. Sollte ich ihn annehmen?« Harmul wand sich. »Du hast einmal gesagt«, brachte er hervor, »daß du gerne – daß dir -« Er verstummte. »Ein silberbestickter Schal gefallen würde«, sagte Jhanna sehr, sehr leise. »Aber wo hast du diesen Schal her?« »Aus Cassireia. Aus der Straße der Seidenhänd ler. Ich habe ihn gestohlen.« »Ah!« Wie in Anbetracht ihrer eigenen Kindheit nicht anders zu erwarten, fand das ihren Beifall. »Und er ist für mich?« »Ja.« »Dann danke ich dir. Aber was erwartest du als Gegengabe?« Harmul, den seine Gefühle überwältigten, warf sich zu Boden. »Meine Liebe?« Da er den Kopf nicht hob, konnte er nur hören, wie ihre kräftigen Hände den Schal zerrissen. Die beiden Hälften ließ sie vor ihm auf die schmutzigen Steinplatten fallen. »So einfach kann man mich nicht kaufen«, sagte sie. »Ich weiß, wem du in Wahrheit dienst. Nimm dich vor mir in acht.« -317- Harmul antwortete mit einem angstvollen Murmeln. Bevor er seine Worte noch einmal wiederholen konnte oder sie Gelege nheit hatte, ihn anzuspucken, wozu sie nicht übel Lust zu haben schien, stieß jemand an der Vorderseite des Hauses einen Ruf aus. Beide erkannten Zimirs Stimme. Harmul sprang auf und rannte durch den Torbogen in den Hof vor dem Herrenhaus. Jhanna folgte ihm langsamer. Zimir, dem es langweilig geworden war, mit Steinen nach einem der blauen Löwen an der Zisterne zu werfen, war in eine der Palmen hinaufgeklettert. Von seinem luftigen Platz aus überblickte er die Hofmauern und die Obsthaine. Er hielt nach nichts Besonderem Ausschau und war ziemlich überrascht, als etwas Besonderes auftauchte. Bei einem Blick über die Schulter bemerkte Jhanna, daß Mevary sich leichtsinnig aus einem der bedenklich aussehenden hohen Fenster über dem säulenflankierten Eingang lehnte. Er trug schon wieder einen neuen Anzug, farblich auf seine Augen abgestimmt, und wirkte trotz aller Unsicherheit arrogant. Er hatte keinen Blick für sie, und sie, während sie ihn ansah, malte sich seinen blutigen und endgültigen Tod aus. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit gleichfalls dem Tor zu, um zu sehen, wer oder was sich da näherte. Die Ankömmlinge ließen die Obsthaine hinter sich und kamen in schnellen Trab heran. Es waren neun Berittene in Gruppen zu je drei Mann. Ihnen voran ritten zwei Männer auf ausgezeichneten Pferden, von denen der eine zwar kaum hübsch zu nennen, aber ein ausgezeichneter Reiter war; denn er schien mit seinem Pferd wie verwachsen. Der andere hing im Sattel wie ein nasser Sack und machte einen äußerst unvorteilhaften Eindruck, wie er da bei jedem Schritt des Pferdes auf und nieder hüpfte, trotz seiner kostbaren Kleider und der funkelnden Ringe. Die Sonne umgab sein Haar mit orangefarbenem Schimmer. Jhannas Herz krampfte sich zusammen, als hätte man es in -318- kochendes Wasser getaucht. Und sie sehnte sich verzweifelt nach dem Amulett aus grünem Stein, mit dem sie sich vor Geistern schützte. Der Söldner sprach zuerst. Mit einem zwei Tage alten dichten Bart war er für jeden unkenntlich, der ihn vorher als Diener oder erfolglosen Mörder gesehen hatte. Umgekehrt allerdings war dem Söldner Flor bis zum Überdruß vertraut. Mit sichtlichem Widerwillen wandte er sich an die zwei Bengel, mit denen er sich bei seinem ersten Besuch herumgeprügelt hatte; denn wieder war außer ihnen niemand zu sehen – Mevary und Jhanna hatten sich zurückgezogen. »Geht zu eurem Herrn und eurer Herrin und sagt ihnen, daß Fürst Roilant angekommen ist.« Die Bengel zeigten diesmal keine Neigung, sich zu prügeln. Sie starrten den dicklichen jungen Mann mit den ingwerfarbenen Haaren an und rannten schließlich davon. Bei einem flüchtigen Blick hätte man wahrscheinlich kaum sagen können, wer nervöser aussah, Harmul und Zimir oder Roilant. Aus den Gängen, Höfen und Zimmern des Hauses ertönte jetzt ein fürchterliches Durcheinander von angstvollen Rufen und Türenschlagen. Nach einiger Zeit kam Zimir wieder zum Vorschein. Er blieb unter der Tür stehen, winkte Und ergriff dann wieder die Flucht. Roilant stieg vom Pferd. Er stellte sich nicht ganz so ungeschickt an wie Cyrion es getan hatte, als er seine Rolle spielte. Aber beinahe. Drei von den neun Berittenen stiegen gleichfalls ab. Die übrigen sechs blieben im Sattel und behielten ihre Haltung drohender Wachsamkeit bei. Obwohl das Tragen von Rüstung streng verboten war, außer man zog mit seinen Männern aus, um unter dem Oberbefehl des Königs das Reich zu verteidigen, trugen diese Männer ärmellose Westen aus gestepptem Leinen, die nicht einmal ein Pfeil durchschlagen -319- konnte, dazu eiserne Helme, Schwerter und Dolche. Auf der Brust trugen sie das Wappen der Beucelair aus Heruzala. Sie waren Roilants Leibwache, bis an die Zähne bewaffnet und offensichtlich durchaus fähig, einen Mord zu begehen. Roilant, den Söldner und drei seiner Leibwächter im Gefolge, zwängte sich durch die halb offenstehende Tür und trat durch den Gang in den Innenhof. Mevary stand neben einem der ausgetrockneten Brunnen. Unter der Sonnenbräune sah er etwas gelb aus, aber er machte eine übertrieben ehrerbietige Verbeugung, richtete sich auf und rührte sich nicht vom Fleck. Wieder und wieder glitten seine Augen über Roilants Gestalt. Trotz Cyrions taktvollen Bemerkungen unter der Buche hatte er in seiner Aufmachung Roilant ähnlich genug gesehen, um unter diesen Umständen gelindes Entsetzen hervorzurufen. »Ihr dort«, meinte der Söldner. »Seid Ihr Mevary von Flor?« »Vielleicht«, gab Mevary zurück. »Aber ich würde gerne erfahren, wer das ist, und warum er nicht für sich selber sprechen kann.« Roilant fühlte sich getroffen und etwas von der ärgerlichen Entschlossenheit, die ihn hier hergeführt hatte, kehrte zurück. »Ich kann sprechen. Ich bin Ro ilant, dein Cousin.« Mevarys Lider zuckten. Dann lächelte er. »Wir haben dich schon vor einigen Tagen erwartet.« »Und ich bin schon vor einigen Tagen angekommen oder nicht?« Mevary erstarrte, nahm sich zusammen und wedelte mit einer Hand durch die Luft. »Tatsächlich?« »Ihr habt jedenfalls angenommen, daß ich es war. Ein Mann, der sich meines Namens bediente und in etwa so aussah wie ich.« -320- Mevary holte tief Atem und ließ sich auf ein Wagnis ein. »Du meinst«, sagte er behutsam, »das war ein Hochstapler?« »Nein. Er war mein Stellvertreter. Er kam her, um vor dir und unserer Cousine -« Roilant geriet ins Stocken, brachte den Namen aber doch heraus, »Eliset meine Rolle zu spielen. Er tat, was ich ihm aufgetragen hatte. Jetzt würde ich gerne erfahren, wo er ist.« »Oh.« Mevary schwieg. Er blinzelte zum Himmel und schaute dann Roilant in die Augen. »Er ist gestern fortgeritten. Wir fanden das eigenartig. Er hat«, fuhr er sehr vorsichtig fort, »Eliset gebeten, seine Frau zu werden.« »Ich glaube dir nicht.« »Es ist die Wahrheit. Da sie glaubte, er wäre du – welch ein verrückter Einfalt das war, mein Lieber – willigte sie ein.« »Ich meinte«, erklärte Roilant schwerfällig, »daß ich nicht glaube, daß der Mann weggeritten ist. Ich glaube, daß er noch hier ist.« Mevary breitete die Arme aus. »Dann such.« »Das werde ich.« Mevary blieb der Mund offen stehen. »Der Mann, den ich hier hergeschickt hatte, gab sich für mich aus, weil ich einen bestimmten Verdacht hegte. Zuerst hielt ich ihn für unbegründet, aber die Warnungen, die ich erhalten hatte, waren so dringend, daß ich sie nicht beiseite schieben konnte. Man hatte mir gesagt, daß du und – Eliset versuchen würdet, mich zu töten, sobald ich sie geheiratet hatte, um meinen ganzen Reichtum für euch allein zu haben. Für mich steht es fest, daß ihr meinen Stellvertreter für mich gehalten habt, sie ihn daraufhin zu der Heirat bewogen hat und er anschließend ermordet wurde.« Mervary schien das zu mißfallen, und er sagte nichts. -321- »Sollte ich eines Beweises für deine unlauteren Absichten bedürfen«, fuhr Roilant fort und klang mit jedem Wort lauter und bestimmter, »so wird mir der Tod dieses unglücklichen jungen Mannes, der meine Rolle spielte, dazu verhelfen. Du wirst zugeben, daß ich nur seine Leiche finden muß. Dann werden diese Herren dich und deine – Eliset nach Cassireia begleiten, wo ich schön den Gouverneur unterrichtet habe.« Mevary war jetzt ganz entschieden kreidebleich, zeigte aber trotzdem sein Raubtiergebiß und schleuderte Roilant seine letzte Herausforderung entgegen. »Wie du gesagt hast. Du mußt nur den Leichnam finden.« Die Stimme einer Frau durchschnitt die Luft wie ein gläserner Pfeil. »Mevary, bist du tatsächlich ein solcher Optimist? Wenn er so viel weiß, kennt er auch den Rest.« Mevary warf den Kopf zurück und sah Eliset auf der Veranda stehen. »Sei still, du Hure.« »Nein«, brachte Roilant ihn mit ungewohntem Nachdruck zum Schweigen, »sei du still, du Hund ohne Anstand und Manieren. Ich weiß tatsächlich Bescheid.« Er warf nur einen kurzen Blick auf Eliset, die bleich und gefaßt neben verwitterten Elfenbeinpfosten stand, und schaute dann wieder Mevary an. »Du hast den Leichnam in das Grab ihres Vaters geworfen und ihm nicht einmal so viel Ehre angetan, ihn in ein ordentliches Tuch zu hüllen.« Mevary wich zurück, ohne daran zu denken, daß er dicht vor dem Brunnen stand. Mit einem Fluch trat er statt dessen einen Schritt zur Seite. »Du bist verrückt, Roilant. Wahnsinnig.« »Und sie«, fuhr Roilant in ruhigerem Ton fort, »war natürlich damit einverstanden.« -322- »Ja«, sagte Eliset. Sie ging die Veranda entlang und kam die Treppe herunter. Ihr Gesicht erinnerte an eine Totenmaske, bis auf einen seltsam mitleidigen Ausdruck. »Ich war einverstanden mit diesem grausigen, würdelosen Begräbnis. Ich bin ebenso schuldig wie er.« Als sie im Ho f stand zögerte sie und trat dann einen Schritt in Roilants Richtung. »Als Eure Gastgeberin«, meinte sie, »werde ich Euch führen.« Roilant erbleichte. Mevary nicht minder. Eliset, die blasser war als beide zusammen, schritt über den tiefer gelegenen Hof vor dem Küchenhaus, durch das Stallgebäude und den Hügel hinauf. Roilant ging fünf oder sechs Schritte hinter ihr, dichtauf gefolgt von dem Söldner. Mevary, der halbwegs entschlossen gewesen war zu fliehen (wahrscheinlich in die Obstgärten, nach dem einen großen Schritt in diese Richtung zu urteilen), sah sich von den drei Leibwächtern daran gehindert. Eingedenk der Tatsache, daß noch sechs weitere sich ganz in der Nähe befanden, hatte Mevary sich in sein Schicksal ergeben und ging jetzt einen halben Schritt vor seinen Bewachern. Er zeigte seine Zähne in einem Lächeln, das gleichzeitig Angst und Verachtung ausdrückte. Ausgerechnet von einem Trottel überführt zu werden, war offensichtlich nicht nach seinem Geschmack. Sie gingen den sonnenbeschienenen Abhang hinauf, wo der gelbblühende Baum wie ein Signalfeuer leuchtete. Eliset trat in das feine Netzwerk seines Schattens, stellte sich zu Häupten der Steinfigur auf und blickte wortlos darauf hinab. Roilant, Mevary, der Söldner und die Leibwächter standen abwartend um die Steinplatte herum, wie um einen Beratungstisch. »Mein Fürst?« fragte der Söldner endlich. Roilant schluckte. »Öffnen.« -323- Als die Hebel ihre kratzende, schabende Arbeit aufnahmen, tauchte noch ein Zuschauer zwischen den Tamarisken am Badehaus auf. Jha nna, ein Schatten mit Augen. Wieder waren es nur drei Personen, die sich an dem Grab zu schaffen machten, aber diesmal ausgewachsene, kräftige Männer. Es dauerte wenig mehr als eine Minute, bis die Grabplatte, die, seit sie in der vorangegangenen Nacht entfernt worden war, ohnehin nicht mehr so fest auflag, sich hob. Roilants Puls flatterte. Er hatte sich an die fadenscheinige Hoffnung geklammert, daß er, wenn er sich sehr beeilte, vielleicht noch rechtzeitig kam, um Cyrion vor dem Ersticken zu bewahren, falls er – wie durch ein Wunder – dem Tod entga ngen sein sollte. Die Platte wurde beiseite gehebelt und geschoben. Der Inhalt von Gerris’ Grab war dem grellen, gnadenlosen Tageslicht preisgegeben. Der Söldner und die Leibwächter warfen aus Neugier einen Blick hinein. Die anderen drei nahmen allen Mut zusammen und folgten diesem Beispiel. Das erste Geräusch kam von Eliset. Ein kleiner, tonloser Seufzer. Dann äußerte sich Mevary. Weniger zurückhaltend. »Da, Puddinghirn. Und wo ist dein Beweis?« Roilant schaute auf den verhüllten Körper nieder, der an einer Seite lag und durch Zustand und Geruch sofort als Gerris’ von Flor zu erkennen war. Dann wanderte sein Blick zu der breiten, fleckigen und von Rissen durchzogenen Steinplatte daneben, die einmal als Ruhestätte für Elisets Mutter vorgesehen war. Ansonsten war das Grab leer. 5. Kapitel Die Gedanken und daraus resultierenden Taten eines -324- verbrecherischen Hirns vorauszusehen, ist manchmal weniger schwierig, als den Überlegungen eines vernünftigen, logisch denkenden Menschen zu folgen. Für ersteres hatte Cyrion zweifellos eine besondere Begabung, wie er auch ein feines Gespür für Magie besaß. Er hatte vorausgesehen, daß Roilant, den er darstellte, am Abend seiner überstürzten Hochzeit mit Eliset vergiftet werden sollte. Damit stand fest, daß von dem Moment an, da er die Dachterrasse betrat, jeder Teller, Krug oder Becher eine Gefahr für ihn barg. Hauptsächlich aus diesem Grund hatte Cyrion dafür gesorgt, daß auf dem Marktplatz von Cassireia ein Überfall auf ihn verübt wurde. Obwohl dieses Attentat auch noch einige andere Zwecke erfüllt hatte. Erstens diente es als öffentliche Generalprobe für den noch bevorstehenden Mord, und sowohl Eliset als auch jede andere interessierte Person auf Flor sah sich dadurch mit der una ngenehmen Tatsache konfrontiert, daß eine beträchtliche Anzahl Leute gehört hatte, was Roilant befürchtete. Zweitens und eigentlich unbeabsichtigt, kam dadurch ein bißchen zusätzliche Würze in das Süppchen, in dem bis jetzt nur die verschwörerischen Cousins gerührt hatten. Außerdem hatte sich Cyrion die Gelegenheit geboten, Elisets Reaktion auf den unerwarteten Zwischenfall beobachten zu können, was sich als durchaus aufschlußreich und interessant erwiesen hatte. Der dritte Grund für den ganzen Aufwand war ein bißchen eigenartig, aber lebenswichtig. Der arme Cousin Roilant, der so rücksichtslos ins Gesicht geschlagen worden war, hatte an dem wenig vielversprechenden Abend seiner Hochzeit natürlich jede Veranlassung, aufs Essen und weitgehend auch aufs Trinken zu verzichten, da beides durch die unübersehbare Schwellung von Mund und Lippen zu einer schmerzhaften Angelegenheit wurde. Dagegen hätte es unter den gegebenen Umständen, wo jeder jedem mißtraute, nichts genutzt, wenn er behauptet hätte, gegen eine Tür gelaufen oder eine Treppe hinabgestürzt zu sein. Unter den Augen von -325- ein paar Dutzend Zuschauern verprügelt zu werden, wirkte da weitaus überzeugender. Die wirkliche Ursache für Cyrions geschwollenes Gesicht waren natürlich weder die Schläge, noch der abgebrochene Zahn, den er sich dadurch eingehandelt zu haben vorgab. Der Söldner war wie jeder geübte Kämpfer ein Meister des vorgetäuschten Zweikampfs, und Cyrion stand ihm darin in nichts nach. Das mit Dattelsaft beschmutzte Tuch hatte er also nicht vors Gesicht gehalten, weil er verletzt war, sondern um zu verbergen, daß er es nicht war. Allein in seinem Zimmer in Flor hatte Cyrion die Wangenpolster, die für seine Rolle erforderlich waren, aus dem Mund genommen und durch etwas noch Lästigeres ersetzt. Es war eine Art Tasche aus dünnem, weichem Leder, die an beiden Seiten in kleine Beutel auslief, während das offene Vorderteil so gearbeitet war, daß es ungefähr der Innenseite der Lippen ähnelte. Durch vorsichtiges Saugen blieb es im Mund an Ort und Stelle, ganz abgesehen davon, daß es aus schierem Platzmangel nicht verrutschen konnte. Allerdings bekam die untere Gesichtshälfte durch diese Vorrichtung eine gewisse Ähnlichkeit mit einem tiefsinnigen Pavian. Essen war völlig unmöglich und zu sprechen war eine Plage, denn Zunge und Lippen wurden durch den ledernen Fremdkörper behindert. Die Zähne waren gar nicht mehr zu sehen. Was dieses fürchterliche Ding trotzdem so liebenswert machte, war die Tatsache, daß man sich von seinem Cousin einen Becher mit vergiftetem Wein aufzwingen lassen konnte, ohne etwas befürchten zu müssen. Die Tasche wieder zu entfernen war sogar noch einfacher, als sie einzulegen. Man brauchte nur zwei Finger in den Mund zu stecken, leicht zu ziehen und konnte das Gift ausschütten und untersuche n. All das war geschehn. Cyrion war fasziniert gewesen, als sich herausstellte, welcher Art das Gift in dem Becher gewesen War. Was ihm als nächstes bevorstand, war weniger einfach und -326- ganz und gar nicht angenehm. Man hatte von ihm verlangt, Gift zu trinken, er hatte gehorcht. Da man jetzt von ihm erwartete zu sterben, wollte Cyrion sein Bestes tun, um auch darin gehorsam zu sein. Da anzunehmen war, daß man ihn sehr sorgfältig untersuchen würde, sobald er dahingeschieden war, wußte er, daß es nicht ausreichen würde, seinen Tod nur vorzutäuschen. Es stimmte, daß Cyrion Fertigkeiten beherrschte, die manchmal den Nomaden, dann wieder den Propheten und Zauberern oder irgendwelchen anderen Leuten zugeschrieben wurden, Fertigkeiten, die allgemein für Zauberei geha lten wurden und zu denen es auch gehörte, das Fleisch dem Willen zu unterwerfen. Es gab mehrere Methoden, um einen scheinbaren Tod zu bewirken, aber nur eine Möglichkeit, den wirklichen physischen Tod herbeizuführen, einen Tod der – vorausgesetzt, Gehirn und Körper waren gesund und außerordentlich gut aufeinander abgestimmt – zeitlich begrenzt war und durch den Willen des Betreffenden rückgängig gemacht werden konnte. Diese Methode bediente sich der natürlichen Körperelektrizität in Rückenmark und Gehirn, die bei den Nomaden unter der Bezeichnung›die Schlange‹bekannt war. Dieses›Geschöpf‹, das aus reiner Energie bestand, konnte ein Meister dieser Kunst aus den Nervensträngen herauslösen und seinem Willen untertan machen. Die gebündelte Elektrizität, die wie eine zustoßende Schlange durch das Rückenmark aufstieg, erreichte schließlich das Gehirn und kam dort zur Entladung. Die Wirkung ähnelte der eines Blitzschlags. Das Herz blieb stehen, und alle Körperfunktionen erstarben. Jeder Arzt mußte den Menschen für tot halten, insbesondere da der Körper auch auf die ausgeklügeltsten Methoden, die jemals entwickelt wurden, um den Tod zu bestätigen, nicht reagierte. Das Bewußtsein allerdings blieb bestehen. Zuerst natürlich war es betäubt und erloschen wie eine Kerze. (Und bei dem Ungeübten blieb es so, bis es schließlich kein Zurück mehr gab.) Cyrion, ein Meister, dessen Fähigkeiten für sich selber sprachen, -327- war nach kaum einer Stunde wieder bei vollem Bewußtsein und beobachtete von dem verdunkelten Wachtturm seines Kopfes, was um ihn herum vorging. In dem Augenblick, als die Untersuchungen beendet waren und zweifelsfrei feststand, daß der Tote wirklich tot war, erweckte er seinen Körper zu einem verhalt enen, unauffälligen Leben. Jetzt, hätte es jemand versucht, war ein Herzschlag zu spüren, wenn auch nur schwach und langsam. Außerdem hätte sich herausgestellt, daß er atmete, aber nur, wenn man ihn noch einmal auf das Sorgfältigste untersucht hätte. Aber zu dem Zeitpunkt hatte jeder, von dem man anne hmen konnte, daß er den Leichnam untersuchen würde, dieses bereits getan. Und um mit den Worten der Nomaden zu sprechen: Wer trägt schon Sand in die Wüste? Also wartete Cyrion eine ganze Nacht, einen Tag und noch eine Nacht an der Grenze zwischen Leben und Tod und wurde wie ein Leichnam behandelt. Diesen gerade so eben noch atmenden Leichnam warf man dann in das übelriechende Grab von Onkel Gerris und legte die Steinplatte wieder darüber. Zu erraten, wohin man ihn verschwinden lassen würde, war nicht so schwierig gewesen. Eliset selbst hatte den leeren Platz in dem Grab erwähnt. Daß man ihn nicht, wie den unglücklichen Jobel, einfach irgendwo verscharren würde, ergab sich aus der Ankunft der an Roilant adressierten Papiere. Wie Mevary mit so bewunderungswürdiger Intelligenz bemerkt hatte: vermacht jemand seinen Besitz dem König statt den rechtmäßigen Erben, ließ das vermuten, daß er einen äußerst unschönen Verdacht gegenüber den besagten Erben hegte. Deshalb war es nicht geraten, Roilants Tod bekannt werden zu lassen, noch durch frisch aufgeworfene Erde die Neugier irgendwelcher Leute zu erregen, die vielleicht vorbeikamen, um sich die Verwandtschaft des großzügigen Erblassers einmal anzusehen. Cyrion hatte das Grabmal unter dem Baum mit den gelben Blüten in der Nacht der Geister aufgesucht. Er hatte eine Zeitlang mit Hammer und Meißel gearbeitet, bis er knapp über -328- der Erdoberfläche an verschiedenen Stellen kleine Löcher in die Grabeinfassung gehauen hatte. Der Stein, der von der Feuchtigkeit schon angefressen war, setzte ihm nicht viel Widerstand entgegen. Die Löcher, obwohl nur bescheidenen Ausmaßes, reichten aus, um jedes lebende Geschöpf im Inneren mit der nötigen Atemluft zu versorgen. Niemand hatte Cyrion- Roilants Körper für die Grablegung vorbereitet. Cyrion hatte nichts anderes vermutet. Bei jemanden, an dem man sich des Mordes schuldig gemacht hat, wäre das der reine Hohn gewesen. Außerdem war wegen des warmen Wetters Eile geboten. Deshalb waren die Polster an Cyrions Körper unentdeckt geblieben, wie auch die nützlichen Gegenstände, die er darin untergebracht hatte. Cyrion in Stein war als etwas Vorübergehendes gedacht und nicht für die Ewigkeit. Sobald der Grabdeckel sich knirschend vor die sternenklare Nacht schob, machte Cyrions Bewußtsein sich daran, den ruhenden Körper wieder ganz ins Leben zurückzurufen. Daß er dieses Sterben und dieses Wiedererwecken schon früher praktiziert hatte, ist unzweifelhaft logisch. Daß eine gewisse Desorientierung und eine mystische Verzückung zu dem Ritus gehörten, ist anzunehmen. Aber auch wenn es so war, ließ sich Cyrion nicht aufhalten. Er traf sofort alle Vorbereitung, um sich aus seinem Gefängnis zu befreien. Auch das war logisch. Das einzig Ungewöhnliche an seinem Vorgehen war, daß er statt zu versuchen, den Grabdeckel beiseite zu schieben, sich entschlossen hatte, nach unten zu entfliehen. Es gab eine Wasserader unter Gerris’ Ruhestätte, das verrieten der Zustand der steinernen Grabeinfassung, das Moos und der kleine Baum, der bei dem Grab in die Höhe geschossen war, während überall sonst auf den Klippen nur dürres Gras und eine Handvoll ärmlicher Blumen gedieh. Vielleicht hatte es auch unter dem Spukbrunnen in dem überdachten Gang eine Wasserader gegeben, die in die große Höhle geführt hatte, -329- welche sich unter den Klippen erstreckte. An dem Brunnen konnte man einschätzen, wie dick der feste Grund zwischen der Höhle und der obersten Erdschicht war. Ungefähr zehn Meter massiver Fels, denn das war grob gerechnet die Länge des eigentlichen Brunnenschachts. Andererseits mußte der Fels unter dem Badehaus dünner sein, sonst hätte sich der Boden nicht so weit a bnutzen können, daß der Lichtschein aus der Höhle durch den Boden des Heißwasserbeckens schimmerte. Das Herrenhaus wiederum, obwohl in einem Zustand fortgeschrittenen Verfalls, schien fest auf seinen Fundamenten zu ruhen. Aber außerhalb der Gartenmauer hinter dem Badehaus war der Grund ständig in Bewegung. Die Gräber verlagerten sich, und die Steine hoben sich aus dem Boden. Die Schräglage des Turmes wurde von Jahr zu Jahr bedrohlicher. Der Schluß lag nahe, daß der Fels unter dem Grab weder besonders dick, noch besonders fest war. Nachdem die erste der dünnen Kerzen, die er aus seinem Bauchpolster genommen hatte, brannte, verfrachtete Cyrion den Leichnam, mit dem er seine Unterkunft teilte, in eine Ecke. Es zeigte sich, daß der Boden unter der Leiche morscher war, als auf der anderen Seite, wahrscheinlich eine Folge der Wechselwirkung zwischen verwesendem Fleisch und moderndem Stein. Während nach neuneinhalb Jahren von ersterem nicht mehr viel übrig war, hatte letzteres sich nur noch verschlimmert. Cyrion machte sich an die Arbeit, aber mit Bedacht, denn durch die Löcher kam nur wenig frische Luft herein und das Grab war immer noch stickig und eng. Wo es ging, arbeitete er im Dunkeln, um die drei Kerzen nicht vorzeitig zu verbrauchen. Das Werkzeug, Hammer, Meißel, Stemmeisen und Keile zauberte er aus den Polstern an Brust, Rücken und Armen hervor. Zusammen mit einem langen Seil. Die Aufgabe war schwer, aber nicht hoffnungslos. Schon in den ersten fünf Minuten, als eine große Steinplatte losbrach, -330- wurde der Geruch nach feuchter Erde wahrnehmbar. Zwei Stunden später spürte Cyrion einen Luftzug. Jetzt roch es nicht mehr nach frischem Wasser, sondern nach faulendem Tang und Salz. Als die letzte Kerze fast heruntergebrannt war, lösten sich Fels- und Erdbrocken vom Rand der ganz ansehnlichen Öffnung und stürzten in die Tiefe. Das Poltern und Rauschen war eine ganze Weile zu hören. Cyrion säuberte den Boden des Grabes. Er schlug einen Eisenhaken in den Fels unmittelbar unter dem Loch, befestigte das Seil daran und ließ sich vorsichtig ein kleines Stück hinabgle iten. Dann griff er noch einmal nach oben, nahm die Kerze und stellte sie auf einen passenden Felsvorsprung. Anschließend zog er den nützlichen Leichnam wieder an seinen angestammten Platz, so daß er über der Öffnung zu liegen kam und sie vollständig verdeckte. Dann ließ sich Cyrion in die immer undurchdringlicher werdende Dunkelheit hinunter. Einen Augenblick später machte er Bekanntschaft mit dem kleinen Rinnsal, das er schon seit einiger Zeit gehört hatte. Obwohl das Bad eher unfreiwillig und überdies kalt war, befreite es ihn wenigstens von dem Staub des Grabes. Das Rinnsal begleitete ihn ein kurzes Stück bei seinem Abstieg, bis es in einem Spalt verschwand, der für ihn zu eng war. Bald danach erlosch der schwache Lichtschimmer der letzten Kerze und nur die undurchdringliche Dunkelheit blieb. Was ihn noch erwartete, war ungewiß. Er vermutete allerdings, daß der Spalt, in dem er sich befand, nach vielen Windungen und Biegungen in die Höhle mündete. Während er sich seitlich die schmale Röhre entlangtastete, mußte er daran denken, daß der trügerische Fels, der seinem Werkzeug so schnell nachgegeben hatte, auch unter dem Druck des Eisenhakens brechen konnte, an dem er das Seil, seinen einzigen Halt, befestigt hatte. -331- Aber auch die gefährliche Lage, in der er sich befand, gehörte zu seinem Plan: heimlich und unbemerkt Nachforschungen anzustellen und durch sein Verschwinden so viel Durcheinander und Ungewißhe it wie nur möglich hervorzurufen. Daß Roilant in diesem Akt des Dramas keine Rolle spielte, war Absicht. Roilants schauspielerische Fähigkeiten waren begrenzt. Um andere Leute zu überzeugen, daß er glaubte, Cyrion sei ermordet worden, mußte er es tatsächlich glauben. Daß Roilant aus eigenem Antrieb einen Spitzel nach Flor geschickt hatte, hatte Cyrion beinahe vermutet, aber zu dem Zeitpunkt, als der Söldner seinen Posten bezog, war Cyrion zu sehr mit seiner eigenen Vergiftung und deren Auswirkungen beschäft igt gewesen, um sich noch Gedanken um Spitzel aus seinem eigenem Lager zu machen. Genaugenommen war beabsichtigt, daß Ro ilant auf das Ausbleiben einer bestimmten Nachricht von Cyrion hin mit seinen bombastischen Anschuldigungen in Flor auftauchen und einen gewaltigen Aufruhr bei der Suche nach seinen sterblichen Überresten veranstalten sollte. Da nun Roilant genau wußte, wohin man den Leichnam geschafft hatte, kam die Pointe nicht so recht zur Geltung. Cyrion hatte Gerris’ Gebeine über die neu geschaffene Öffnung gezogen, so wie man beim Weggehen eben die Tür abschließt. Glücklicher-, aber auch verständlicherweise war die Überraschung über Cyrions Verschwinden so groß, daß niemand daran dachte, das übelriechende Grab einer genauen Untersuchung zu unterziehen. Statt dessen durchforschte man aufgeregt die Umgebung. Die Schlußfolgerung, daß der Gefangene, falls er tatsächlich noch in der Lage war, sich zu befreien, sein Heil in den oberen Gefilden suchen würde, war unvermeidlich. Es gab nichts, das zu einer gege nteiligen Annahme hätte führen können. Es wurden die wildesten Vermutungen – in denen auch Angst vor dem Übernatürlichen mitschwang – darüber angestellt, wie der Dämon in -332- Menschengestalt es fertiggebracht hatte, allein die schwere Grabplatte zu entfernen und dann spurlos zu verschwinden. Die verdutzten Gesichter zu beobachten, hätte Cyrion sicherlich gelindes Vergnügen befeitet, aber er hatte nicht einmal Muße, sie sich vorzustellen, als er sich in der Dunkelheit, nur auf sein Gefühl angewiesen, an dem Seil hinabhangelte. Er befand sich jetzt ungefähr fünf Meter unterhalb der Grabstätte, aber das Gestein, das sich vorher vom Rand der von ihm geschaffenen Öffnung gelöst hatte, schien sehr vieler tiefer gefallen zu sein. Also blieb er weiterhin im Ungewissen, während sein ganzes Gewicht an dem Haken hing, der sich vielleicht jetzt schon aus dem brüchigen Fels löste. Bevor der Haken ihn im Stich lassen konnte oder das Seil zu Ende war, geschah etwas anderes. Seine Füße, die nach einem Halt suchten, fanden nirgends mehr einen Widerstand. Noch behutsamer als zuvor ließ er sich an dem Seil hinab und stellte fest, daß er sich in einem von der Natur geschaffenen Gang befand. Als seine Füße festen, wenn auch abfallenden Boden berührten, konnte er das Meer riechen, und weiter vorne entdeckte er einen Lichtschimmer. Dieser war gerade hell genug, um zu erkennen, daß der Boden tatsächlich sicher und das G efalle nicht zu stark war. Hier war das Geröll aus dem Grab oben aufgeschlagen und weiter in die Tiefe gerutscht, und deshalb hatte Cyrion geglaubt, er müsse sehr viel weiter hinabsteigen, als es nun eigentlich der Fall war. Cyrion versteckte die restlichen Meter Seil hinter einem Felsvorsprung, wie er auch die Polster und das Werkzeug in Felsspalten unmittelbar unter dem Grab verstaut hatte. Dann ging er auf das Licht zu, das langsam Gestalt annahm. Eingefaßt in einen ovalen Rahmen aus Fels, zeichnete die Helligkeit das Spiegelbild der Wellen auf die Wände. Das stetige, ruhelose Rauschen des Ozeans war zu hören. Noch eine Minute, und Cyrion trat durch das Oval aus Licht, -333- den Eingang einer Höhle, auf einen Felsvorsprung hinaus, der ungefähr zwei Meter breit war und wie ein Balkon an der Wand der Höhle entlanglief. Von dort konnte man fast alles überblicken. Es war ein beeindruckendes Bild, das an den Bauch des Walfischs gemahnte. Oben der gerippte Fels, schimmernd und auch ohne Farbe. Dazu die gewölbten Wände dieser gewaltigen Muschel, die von hundert oder mehr Höhleneingängen wie mit Pockennarben gezeichnet war und an manchen Stellen ein eigenartiges, metallisches Leuchten verströmte. Dann, vielleicht siebzig Meter weiter unten, der Boden der Höhle, eine schwarzgrüne spiegelnde Scheibe aus Wasser. Am westlichen Ende verengte sich die Höhle zu einem schmalen Durchlaß, der zweifellos auf das offene Meer hinausführte und von außen nur wie einer der vielen Risse und Spalten in den Klippen aussah. Aber nicht daher kam das Licht, das den eigenartigen Schimmer auf den Felsen verursachte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Das Licht rührte von einer ganzen Anzahl kleiner Feuer her, die in den senkrechten Spalten tiefer gelegener Höhlen brannten. Die Flammen verbreiteten nur wenig Helligkeit, aber da es in dem Gestein irgend etwas gab, auf dem sie sich widerspiegelten, war die unterirdische Halle mit einem milchigen, unwirklichen Glanz erfüllt. Ohne die Polster wieder so anmutig wie früher, wenn auch noch in den grellen Kleidern, die er zu dem verhängnisvollen Abendessen angelegt hatte, tastete Cyrion sich den glitschigen, abschüssigen Felsvorsprung entlang. Linker Hand und etwas weiter vorn hatte er etwas gesehen, das ihn beinahe ebenso interessierte wie die Feuer in den Höhleneingängen. Eine lange Schlinge aus dickem Tauwerk hing von oben auf den Felsvorsprung herab. Blickte man daran empor, entdeckte man einen merkwürdigen Metallkäfig unter der Höhlendecke. -334- Seitlich über dem Käfig war ein Loch in der Decke, die untere Öffnung eines runden Schachtes, in dem zwei dünne Seile herabhingen. Wo sie aus dem Loch herauskamen, waren sie straff zur Seite gezogen und mit eisernen Klammern an einem vorspringenden Felsen befestigt. Schaute man von oben in den Schacht hinein, mußte man den Eindruck gewinnen, daß die Seile im Nichts endeten oder – eine optische Täuschung – unter der Wasseroberfläche. Die käfigartige Vorrichtung, die seitlich unter dem sich verbreiternden Höhlendach hing, blieb unsichtbar. Das obere Ende des Schachtes war natürlich der Spukbrunnen in dem überdachten Gang. Cyrion betrachtete den Käfig und die Seile. Jemand, der diese Vorrichtung benutzen wollte, mußte einige akrobatische Kunststückchen vollbringen. Erst die Seile in dem Schacht hinabkle ttern und sich dann in den nicht eben vertrauenerweckenden Käfig schwingen. Ein einfacher Flaschenzug wies darauf hin, daß der Käfig mit Hilfe der Taue auf den Felsvorsprung hinabgelassen werden konnte. Auf dieselbe Art konnte sich der Benutzer des Käfig natürlich auch wieder nach oben ziehen. Hoch oben in dem Brunnenschacht ertönte ein kaum hörbares Geräusch. Nachdem er bereits herausgefunden hatte, wie die einfache, aber zweckmäßige Vorrichtung zu bedienen war, schien es, daß Cyrion nun auch noch in den Genuß einer praktischen Vorführung kommen sollte. Mit einem freundlichen Gedanken an ein zuvorkommendes Schicksal, trat er in eine der flachen Nischen in der Felswand und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Zuerst tauchten ein paar lange Beine in dem Schacht auf, gefolgt von dem restlichen Körper. Zwei schmale Hände umfaßten die straff gespannten Seile und hangelten sich mit bewunderungs würdigem Geschick daran hinab. Am Ende der Seile angekommen, schwangen die Füße vor, in den oberen Teil -335- des Käfigs hinein und zogen ihn unter die Schachtöffnung. Als der Käfig sich genau unter dem Loch in der Höhlendecke befand, ließ die Gestalt sich hineingleiten und suchte Halt an dem Gestänge, während der Gitterkasten hin und her schaukelte. Ein gewagtes Unterfangen, das aber mit der Gewandtheit eines Kletteräffchens durchgeführt wurde. Oder mit der Gewandtheit eines Menschen, der es gewöhnt war zu klettern und zu balancieren und den inneren Gesetzen einer sorglosen, aber genau berechneten Furchtlosigkeit gehorchte. Das Schaukeln des Käfigs beruhigte sich, und der Insasse wartete, bis es ganz aufgehört hatte, bevor er nach den Tauen griff, um sich in die Höhle hinabzulassen. Man hätte glauben können, es handelte sich um einen Knaben, Harmul oder Zimir, denn die Gestalt trug dementsprechende Kleidung. Aber schon bald sah man auf dem Kopf den kunstvoll hochgesteckten zartgelben Schimmer – eine Maßnahme, die ebenso wie die Männerkleidung der Bewegungsfreiheit bei dieser ungewöhnlichen Reise diente. Der Käfig landete knirschend auf dem Felsband. Das Mädchen trat heraus, und einen Augenblick lang war sie im Profil zu sehen. Damit war der letzte Zweifel an ihrem Geschlecht beseitigt. Cyrion beobachtete, wie das Mädchen den glitschigen, abschüssigen Felsbalkon entlangeilte. Nach einer Weile erreichte sie anscheinend einen in die Tiefe führenden Pfad, der von Cyrions Standpunkt aus nicht zu sehen war, und verschwand. Cyrion nahm die Verfolgung auf. Den unsichtbaren Pfad hatte er bald gefunden. Er wand sich an der Felswand hinunter und war stellenweise von herabgefa llenem Gestein blockiert. Das behinderte aber weder Cyrion noch das Mädchen. Er ging erst langsamer, als der golden schimmernde Kopf wieder vor ihm auftauchte. -336- Um auf den Gedanken zu kommen, daß sie zu den Höhlen mit den davor brennenden Feuern wollte, bedurfte es nicht Cyrions überragender Intelligenz. Es gab keine andere Möglichkeit – außer, sie verspürte den unwahrscheinlichen Wunsch, in dem trüben Wasser ein eisiges Bad zu nehmen. An den ersten sechs Höhlen ging sie vorbei. Sie waren dunkel. Aus dem Eingang der siebten strömte das unheilige Hexenlicht. Das Knistern der Flammen in der ohrenbetäubenden Stille hatte nichts Anheimelndes. (Der Uferrand war ungefähr vierzig Meter weit entfernt. Überhänge und Felsvorsprünge verbargen das Ausmaß der Einbuchtungen. Irgendwo, jetzt noch unsichtbar, mußte das geheimnisvolle Schiff liegen.) Das Mädchen war vor der Höhle stehengeblieben. In der unheildrohenden, bleichen Helligkeit war die stolze Haltung ihres Kopfes und des Körpers gut zu erkennen. Dann trat sie durch die Öffnung und war für Cyrion nicht mehr zu sehen. Aber gleich darauf hörte er sie sprechen, mit der wohlklingenden Stimme, die man, auch ohne die Sprecherin zu sehen, sogleich als die Eliset von Flors erkannte. »Sei gegrüßt, Oe-Tabbit.« Eine alte Stimme, so brüchig wie trockene Brotkrusten, antwortete: »Sei gegrüßt. Warum bist du gekommen?« »Um dich an me iner Freude teilhaben zu lassen, dich und unsere Schwesternschaft.« »Einer ist also tot.« »Ja, Oe-Tabbit, einer ist tot.« »Aber du gedenkst des Versprechens, das du der grünen Mutter gegeben hast, der Herrin des Meeres?« »Natürlich, Oe-Tabbit. Er wird nur deshalb mir gehören, weil er Ihr Eigentum ist. Mein Geschenk an Sie.« -337- Ein langes Schweigen. Dann ertönte wieder die Stimme der Hexe, der Frau, die Elisets Kindermädchen gewesen war und auch das der verschwundenen Valia. Schon damals war sie alt gewesen und ein Mitglied dieser zauberkundigen Schwesternschaft, die es vielleicht schon ebenso lange gab wie die Klippen und der Flor seine Geschichten über Meerjungfrauen und Za uberinnen verdankte, die aus dem Wasser stiegen um zu stehlen und zu töten. »Bedenke auc h, Tochter, daß du deine Pläne nur ausführen kannst, weil Sie es erlaubt hat. Du gehörst Ihr. Nicht du bestimmst über dein Leben, sondern Sie allein.« In der Höhle lachte eine Frauenstimme kurz und hart. »Das weiß ich seit dreizehn Jahren. Und habe ich Ihr nicht schon Opfer dargebracht?« »Das hast du getan. Sie hat es nicht vergessen. Nur sei vorsichtig. Es liegt ein Schleier über dem, was du vorhast, ein Nebel. Es gibt etwas, das ich nicht fassen und nicht erkennen kann. Vielleicht der Einfluß einer Person, von der wir nichts wissen. Sind dir die Diener ergeben?« »Ergeben oder tot.« »Also ist es ein Fremder.« »Oder ein Geist. Manchmal nimmt mein Onkel Mevary Gestalt an. Ich habe mich vor ihm geschützt, wie du geraten hast. Ich glaube, was ihn umtreibt, ist der Wunsch, mir ein Leid zuzufügen.« »Es ist kein Geist. Die Muscheln im Feuer zeigen mir einen Mann mit weißem Haar.« »So weiß wie das deinige, Oe-Tabbit? Ich furchte ihn nicht. Soll er nach Flor kommen und mit meinen anderen Feinden untergehen.«. »Sachte«, mahnte die unheimliche, brüchige Stimme der alten Hexe in ihrem Nest aus Stein und Feuer und Meer. »Du bist zu -338- jung, um so mit dem Tod zu spielen.« »Jung«, bestätigte die junge Stimme. »Aber habe ich etwas von spielen gesagt?« Tabbit gab ein Krächzen vo n sich. Sie sagte: »Bald wird es dämmern.« Dann sank ihre Stimme zu einem Flüstern herab: »Geh und sieh nach, ob dir jemand gefolgt ist.« Als Gerris’ Tochter, stolz und grausam und voller Zweifel, auf den Weg hinaustrat, war niemand zu sehen. Kurze Zeit später wurde der Käfig wieder in die Höhe gezogen und eine weibliche Gestalt in Männerkleidung turnte den Brunnenschacht hinauf. Die Sonne ging ebenfalls auf. Danach weinte Jhanna in ihrer Kammer; Zimir entdeckte die Gäste; Roilant in eigener Person platzte in die verstörte Familie; Mevary erbleichte; Eliset führte die Besucher zum Grab ihres Vaters. Das Grab wurde geöffnet, und man stand vor einer unerklärlichen Leere. Während einige Meter unter ihren Füßen Cyrion in einer Höhle saß, sich an dem wenigen labte, was er bei sich getragen hatte und das Hin und Her der greisen Hexe beobachtete. Im Anschluß an die Entdeckung der leeren Grabstätte hatte sich eine einigermaßen amüsante Szene abgespielt. In einem der im Erdgeschoß gelegenen Räume, der einzig mit zwei hölzernen Kerzenständern und einem leeren Vogelkäfig möbliert war, kam es zu einer lebhaften Unterhaltung zwischen Roilant und Mevary. Draußen im Hof lehnten zwei der Leibwächter von Beucelair an einem Brunnen. »Ich kann nur wiederholen«, wiederholte Mevary, »wo ist dein Beweis?« »Daß mein Beauftragter nicht da ist, ist Beweis genug!« »Tatsächlich? Wie, wenn der Kerl sich einfach davongemacht hat? So was soll vorkommen.« -339- Roilant lief rot an, und seine Hände zitterten. Er schwankte zwischen Wut, Verwirrung und Schuld. Und die Anwesenheit Elisets trug nicht dazu bei, ihn zu beruhigen. Sie des Mordes und der Niedertracht anzuklagen, bereitete ihm mehr als nur geringes Unbehagen, während er danach brannte, Mevary zu überführen, ganz gleich, wie. Was Mevary betraf, so war er nervös, freudig erregt und unruhig. Das unheimliche Verschwinden hatte ihn einerseits gerettet, warf aber andererseits ungeahnte Probleme auf. Wenn dieser verfluchte Doppelgänger Roilants tatsächlich lebte und entkommen war, dann wie, und wo befand er sich jetzt, und was hatte er vor? Es war Mevary unmöglich, Roilants Fragen und Beschuldigungen die erforderliche Aufmerksamkeit entgege nzubringen, weil sein ganzes Denken damit ausgefüllt war, zu enträtseln, wie jemand, der eindeutig tot gewesen war, doch noch lebendig sein konnte. Es gab noch eine andere Möglichkeit. Daß Cyrion doch tot gewesen war und daß jemand anders, der eigentlich nicht ins Bild gehörte, den Leichnam gestohlen hatte. Aber um das herauszufinden brauchte er die Nacht und die Abwesenheit dieses nervtötenden rothaarigen Cousins. Weil ihm nichts Besseres einfiel, verkündete Roilant: »Deine verdammten Lügen, werden dich an den Galgen bringen.« Woraufhin Mevary, weil ihm nichts Besseres einfiel, einen Vorschlag dahingehend hatte, was Roilant mit dem Galgen anfangen könne. Zu diesem Zeitpunkt meldete sich Eliset zu Wort. »Roilant, es ist vollkommen klar, daß ich zusammen mit Mevary unter Verdacht stehe. Aber ich frage mich, ob du in deiner Barmherzigkeit mir erlauben würdest, in mein Zimmer zu gehen? Du hast mein Wort, daß ich nicht fliehen werde. Wohin sollte ich auch gehen? Deine Wachen haben alle Ausgänge besetzt. Und auch wenn ich ihnen entkommen könnte, habe ich -340- doch nicht genug Geld, um irgendwo Unterkunft zu finden. Wenn du willst, kannst du natürlich auch einen Wächter vor meine Tür stellen. Ich bin, das kannst du mir glauben, dieser ganzen Sache überdrüssig.« Roilant sah sie an. Erschöpfung hatte an ihrer Schönheit gezehrt, und es war beinahe unmöglich, kein Mitleid mit ihr zu empfinden. Das konnte kaum gespielt sein. Sie sah aus, als hätte sie, ganz abgesehen von den Aufregungen dieses Tages, in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan. »Natürlich«, sagte er. »Ein Wächter vor deiner Tür wird nicht notwendig sein. Ich bedaure, daß dies – ich bedaure -« »Bedauern ist überflüssig«, unterbrach sie ihn. Und fügte dann mit einer schlichten Würde, die ihm das Herz abdrückte, hinzu: »Du bist sehr gütig.« Sie verließ das Zimmer, und Roilant folgte ihr, um den Wachen am Brunnen zu sagen, daß sie sie nicht belästigen sollten. Das Sonnenlicht flimmerte auf ihrem Haar, als sie den Fuß der Treppe erreichte und dort einen Moment stehenblieb, weil sie bemerkte, daß der Orangenbaum in dem Kübel eingegangen war. Dann schritt sie mit der ihr eigenen Anmut die Stufen hinauf, und er sah eine abgelaufene Stelle in ihrer Schuhsohle. Selten nur war eine potentielle Mörderin so von ihrem Opfer bemitleidet worden. In ihrem Zimmer angekommen, verriegelte Eliset die Tür. Sie fühlte sich völlig ausgebrannt und legte sich auf ihr Bett. Der Tod des Orangenbaumes war der letzte Tropfen in einem bereits vollen Becher gewesen. Sie rechnete kaum noch damit, schlafen zu können, da die Ereignisse sie zu sehr aufgewühlt hatten, und lauschte zuerst nur den gewohnten und ungewohnten Geräuschen im Hof und außerhalb des Hauses – dem Meer, den Vögeln, dem Klappern eines Kruges, der am Küchenbrunnen gefüllt wurde – und dem gelangweilten Lachen eines der Wächter, die überall -341- herumstanden, dem Schnauben ihrer Pferde (es weckte Erinnerungen an vergangene Zeiten), und ein- oder zweimal drang etwas von dem immer noch andauernden Streit zwischen Roilant und Mevary zu ihr herauf. Und dann betäubte doch der Schlaf ihre Sinne, und alles rückte weit in die Ferne. Es gab nichts, was sie hä tte tun können, und also ließ sie den Dingen ihren Lauf und ergab sich dem Vergessen. Als sie erwachte, war es Nacht geworden. Die Sterne funkelten am Himmel, und der Mond ging auf – es mußte, überlegte sie, eine Stunde nach Sonnenuntergang sein. Die Droge Schlaf war zu verlockend gewesen. Mit dem unruhigen Gefühl, daß sie etwas Entscheidendes verpaßt hatte, stieg sie aus dem Bett, entzündete die Kerzen und ging zur Tür. Ihre Hand lag schon auf dem Riegel, als sie innehielt. Das Durcheinander von Geräuschen war verstummt. Das Haus war beunruhigend still, als wartete es auf sie. Ohne jede Vorwarnung klopfte es plötzlich leise an der Tür, und sie konnte kaum einen Schrei unterdrücken. Es dauerte einen Augenblick, bevor sie fragen konnte: »Wer ist da?« »Roilant«, kam die geflüsterte Antwort. Verblüfft richtete sie sich auf, die Hand immer noch auf dem Riegel, aber ohne ihn zu heben. Wenn es Roilant war, ihr Eroberer, warum flüsterte er dann? Sie hatte plötzlich den albernen Gedanken, daß er heimlich gekommen war, um ihr zur Flucht vor ihm zu verhelfen. In einem Anfall eigentlich grundloser Belustigung kam sie zu dem Schluß, daß sie darüber hinaus war, sich um irgend etwas Sorgen zu machen, und hob den Riegel. Die Tür öffnete sich, der weiche Kerzenschimmer strömte hinaus und hob die Gestalt des Besuchers aus der Dunkelheit. Mit weit geöffneten Augen trat Eliset unwillkürlich drei -342- Schritte zurück. »Wer seid Ihr?« soufflierte der Besucher zuvorkommend, während er ins Zimmer trat und die Tür hinter sich schloß. »Wer seid Ihr?« wiederholte Eliset gehorsam. »Wie Roilant es vielleicht durchaus zutreffend erklärt haben mag, war die Person, die sich unter seinem Namen hier Zutritt verschaffte, ein Betrüger. Des Mannes wirklicher Name ist Cyrion. Ich bin Cyrion. Guten Abend.« »Aber«, sagte sie. »Aber. Ihr müßt bedenken, daß ich, abgesehen von den bejammernswerten Haaren, nicht mehr verkleidet bin.« Er lehnte lässig an der geschlossenen Tür, und die Kerzen vergoldeten ihn und die jetzt zu groß wirkenden Kleider, an die sie sich aus ihrer Hochzeitsnacht erinnerte. Sonst hatte er kaum noch etwas mit ihrer Erinnerung gemein. Ein junger Mann, hochgewachsen und schlank, mit der Ausstrahlung von Luchs und Panther, einem Gesicht wie dem Luzifers in seinen charmantesten Augenblicken, langgewimperte Augen von dem Blau neu geschmiedeter Schwerter – und das alles gekrönt von der Flamme orangefarbener Haare. Dieses Geschöpf also hatte sie genarrt, geärgert, in Schrecken versetzt. Er war es, der sie auf den Klippen gerettet hatte – der vor ihren Augen in diesem Raum gestorben war. »Falls Ihr in Erwägung ziehen solltet, ohnmächtig zu werden«, sagte Cyrion, »muß ich Euch darauf hinweisen, daß ich vielleicht nicht so schnell da bin, Euch aufzufangen, wie Mevary.« Kalt erwiderte sie: »Ich bin no ch nie in meinem Leben ohnmächtig geworden.« »Das glaube ich natürlich sofort.« »Ihr denkt an den Tag, als Jobel starb? Ich war müde und traurig, und es war manchmal nützlich, so zu tun… In -343- Ohnmacht zu fallen ist eine ausgezeichnete Methode, ermüdenden Fragen auszuweichen. Nicht daß meine schauspielerische Le istung auch nur im mindesten an Eure heranreicht. Ihr fallt nicht in Ohnmacht, Ihr sterbt.« »Womit man gleichfalls Fragen aus dem Weg gehen kann.« »Vielleicht seid Ihr ein Magier.« »Oder vielleicht bin ich kein Magier.« »Hat Roilant Euch zu mir geschickt?« »Nein.« »Wie seid Ihr dann hier hergekommen, ohne aufgehalten zu werden? Überall stehen Wachen.« »Jemand anders hat dafür gesorgt, daß sie tief und fest schlafen.« Sie stutzte und bemerkte dann mit unüberhörbarer Abneigung: »Und wie seid Ihr aus dem Grab entkommen, in das wir Euch gelegt hatten?« »Dessen Deckplatte, wie ich gesehen habe, immer noch danebenliegt.« Cyrion trat ins Zimmer. Er nahm etwas aus seinem Hemd und ließ Wachs von einer der Kerzen darauf tropfen. »Die Antwort darauf, wie auf eine ganze Reihe anderer drängender Fragen, muß ich Euch schuldig bleiben. Die Zeit, wie man so zu sagen pflegt, ist kurz. Aber vielleicht würdet Ihr so gut sein, das hier Eurem Cousin Roilant zu übergeben.« Sie starrte ihn an und dann den Brief, den er sorgfältig, wenn auch ziemlich sinnlos, mit heißem Kerzenwachs versiegelt hatte und ihr jetzt entgegenhielt. »Was hat das zu bedeuten?« »Die Sicherung Eures guten Namens«, erklärte er. »Wenn Roilant aufwacht, gebt es ihm. Er wird schlechter Laune sein, da man ihm ein Schlafmittel eingeflößt hat. Sprecht also leise. Das ist für morgen. Heute nacht behaltet es hier.« »Wieder ein Scherz.« -344- »Nicht ganz. Es besteht die Möglichkeit, daß ich aufgehalten werde oder eine falsche Spur verfolge. Es wäre eine Schande, wenn Eure Unschuld länger als nötig bezweifelt würde, oder nicht?« »Unschuld? Ihr haltet mich für eine Verbrecherin. Alles, was Ihr zu mir gesagt habt -« »Vergebt mir. Ich habe nicht viel Zeit.« Er gab seinen Platz neben dem Kerzenhalter auf, ging wieder an ihr vorbei, neigte seinen schimmernden Kopf und küßte sie leicht auf den Mund, bevor er die Tür öffnete und in der Dunkelheit verschwand. Erst als er fort war, bemerkte sie, daß der Brief in ihrer Hand lag und daß sie ihn entgegengenommen hatte, zugleich mit den geheimnisvollen Worten und dem gehauchten Kuß, der immer noch auf ihrer Haut brannte. Einer ersten Regung folgend, eilte sie zur Tür, um dann unschlüssig stehenzubleiben. Sie blickte auf den versiegelten Brief in ihrer Hand. Das Siegel zu erbrechen und nachher wieder anzubringen würde nur zu einfach sein, denn das passende Wachs stand ihr ja zur Verfügung. Und sollte sie annehmen, daß er genau das nicht beachtet hatte? Verwirrt legte sie den Riegel wieder vor und ging zu ihrem Bett zurück. Und fuhr mit dem Daumennagel unter das provisorische Siegel. Nachdem er geraume Zeit in der unterirdischen Höhle verbracht und gesehen hatte, was es zu sehen gab, kehrte Cyrion an die Oberfläche zurück. Der Käfig, der nur von der darin befindlichen Person bedient werden konnte, hing wieder seitlich unter dem Brunnenschacht, wo die Verbündete der Hexen ihn zurückgelassen hatte, während sie in dem Schacht nach oben kletterte. Gezwungenermaßen benutzte Cyrion das schlaff herabhängende Seil, das den einen Teil der Zugvorrichtung ausmachte und holte den Käfig zu sich, indem er sich als -345- Gegengewicht an den Flaschenzug hängte. Das und das Überwechseln zu den Seilen in dem Brunne nschacht, bewältigte er mit mindestens ebensoviel Geschick wie jeder andere, der diese Vorrichtung vor ihm benutzt hatte. Um die Wahrheit zu sagen, sogar mit größerem Geschick. Was er anschließend vorhatte, war eigentlich ganz einfach, nämlich Roilant aufzusuchen und ihm mitzuteilen, was er herausgefunden hatte. Roilant war tatsächlich anwesend, befand sich aber in einem Zustand, in dem jedes Wort an ihn verschwendet gewesen wäre. Außerdem gab es noch einige andere Überraschungen. Erstens zwei Angehörige der Leibwache des Hauses Beucelair, die neben und halb in einem der Brunnen lagen; zweitens eine kleine Weinflasche neben ihnen auf dem Boden. Als Cyrion daran roch, wußte er Bescheid. Sie waren betäubt worden, wie drei andere, die er fand, und wie Roilant, den Cyrion entdeckte, als er das Schnarchen in einem der an der Veranda gelegenen Zimmer hörte und den Lichtschimmer unter der Tür bemerkte. Die Papiere, die auf einem wackeligen Tischchen verstreut lagen, halfen bei der Lösung des Rätsels. Anscheinend war Roilant gerade im Begriff gewesen, einen Bericht für den Statthalter in Cassireia zu schreiben, als der Inhalt seines Weinbechers ihn in den Schlaf schickte. Wie aus dem Schreiben zu ersehen war, hatte er bereits zwei seiner Leibwächter ausgesandt, um eine Abordnung der städtischen Gerichte nach Flor zu hole n. Auch mit nur mangelhaften mathematischen Kenntnissen war leicht auszurechnen, daß von den zehn Wächtern, die in den Papieren erwähnt waren, noch zwei fehlten. Cyrion fand sie im äußeren Hof. Der eine von ihnen hatte den mit einem Schlafmittel gemischten Wein getrunken. Der andere, es war der Söldner, hatte anscheinend den Braten gerochen und sich als Belohnung für seinen Scharfsinn einen deftigen Schlag ins Genick eingehandelt. Er atmete, war aber -346- besinnungslos und konnte daher weder mit tatkräftiger Hilfe noch mit irgendwelchen Informationen dienen. Ein Versuch, ihn zu wecken, hatte lediglich die Worte zur Folge: »Nicht jetzt, Aishab, um Gottes willen.« Aus Roilants schriftstellerischen Übungen konnte Cyrion aber zumindest ersehen, daß Roilant nach einem Nachmittag fruchtlosen Streits mit Mevary beschlossen hatte, auf Flor Wurzeln zu schlagen, bis offiziell Verstärkung aus der Stadt eintraf. Inzw ischen hatte er Mevary erlaubt, sich in sein Zimmer zurückzuziehen, wie vorher auch schon Eliset. Und als Mevary frech nach seinem Abendessen verlangte, hatte man erlaubt, daß es ihm gebracht wurde. Ein verängstigter Diener oder Sklave, dessen Name sich für Roilant wie›Zunir‹angehört haben mußte – wenigstens hatte er ihn so aufgeschrieben – hatte auch Roilant und seinen Männern das Essen gebracht. Das Zunir Mevary fürchtete, war nicht zu übersehen gewesen – nach Roilants Darstellung und in seinen Augen war das eine weitere belastende Tatsache. Womit er offensichtlich gar nicht so Unrecht hatte, da Zunir (oder vielmehr Zimir) Roilant samt seinem Gefolge ein Schla fmittel verabreicht hatte, und zweifellos auf Mevarys Befehl. Roilants Vorrat an Papier, Tinte und Feder hatte Cyrion jedenfalls die Möglichkeit gegeben, eine andere Fassung der Geschichte niederzuschreiben. Diese in der Hand des schlummernden Roilant zu lassen, war allerdings ein Risiko. Außerdem war es viel unterhaltsamer, sie da zu hinterlegen, wo er es schließlich dann auch tat. Daß Eliset las, was er geschrieben hatte, war durchaus erwünscht. Was sie am meisten interessieren würde, war wohl die Nachricht, daß ihre Halbschwester Valia, die allgemein als tot galt, hin und wieder in der Höhle unter dem Haus zu sehen war. Mevary hatte natürlich einen Grund dafür, seinen ungebetenen Gästen einen verläßlichen Nachtschlaf zu sichern. Er hatte Pläne für diese Nacht. Es bedurfte kaum seiner lauten -347- Stimme, und wütenden Drohungen, um das zu erraten. Cyrion, der eigentlich ein anderes Ziel hatte, blieb stehen und hörte zu. »Also gut. Ich vergebe ihnen, daß sie den Leichnam von Roilants Beauftragtem gestohlen haben. Warum auch nicht? Aber trotzdem habe ich ein Wörtchen mit ihnen zu reden. Ich werde gehen, und du verfluchte Schlampe wirst mich nicht daran hindern.« Mevary war liebenswürdig wie immer. Seinen Worten folgte der verzweifelte Ausruf einer weiblichen Stimme: »Nein! Die Zeit ist noch nicht reif -« Es klang wie Eliset. Aber: »Verflucht sei dein Geschwätz von Zeit. Was schert mich ihr Aberglaube? Habe ich nicht monatelang diese blödsinnigen Riten und Gesänge ertrage n? Es reicht! Ich habe es jetzt eilig. Und ihr werdet euch danach richten müssen.« Einen Augenblick später kam Mevary aus dem Küchenhof. Cyrion war längst nicht mehr zu sehen. Er blieb auch unsichtbar, als Mevary, nachdem er sich überzeugt hatte, daß der Weg in die Höhle offen war (ein Versehen, das Cyrion als überaus günstig empfunden hatte; denn da er den Mechanismus nicht kannte, der die Bodenplatte in dem Brunnenschacht bewegte, hätte er sonst wieder zu Gerris’ Grab hinaufsteigen müssen), sich in den Brunnen schwang. Das Badehaus war ein wirklich günstiges Versteck. Cyrion blieb noch ein Weilchen, bis die Mevary so ergebene Dame nach einigen unbehaglichen Blicken den Gang entlanggeeilt und ebenfalls in dem Brunnenschacht verschwunden war. Cyrion ließ ihnen einen ausreichenden Vorsprung, bevor er sich an die Verfolgung machte. 6. Kapitel -348- In der düsteren Höhle glühten immer noch die Feuer und kündeten von der Anwesenheit der unterirdischen Bewohner. All das hatte Cyrion schon gesehen und sogar noch mehr. Ungefähr sechs Meter über der Wasseroberfläche und genau unter dem Felsband, auf dem er bei seinem ersten Besuch gelandet war, wölbte sich der Fels nach innen. Durch eine Laune der Natur war der balkonartige Vorsprung aus übereinandergestaffelten Gesteinsschichten erhalten geblieben. Unter diesem Überhang senkte sich ein halbmondförmiger Uferstreifen zu dem Meerwasserteich in der Höhle hinab. Der Weg zu diesem Strand, wie überhaupt zu dem schmalen Band, das mehr oder weniger eben die gesamte Wasserfläche einfaßte, führte durch Gänge im Fels, die vor vielen hundert Jahren entweder vom Meer ausgewaschen oder von Mensche nhand angelegt worden waren. Den Eingang zu diesen Gängen bildeten die Wohnungen der Hexen. Bei seinem ersten Erkundungsgang hatte Cyrion einen solchen Gang entdeckt. Vor der betreffenden Höhle brannte kein Feuer, und ein Teil des Weges lag in geheimnisvollem Dunkel, aber schon bald verriet ein bleicher Lichtschimmer den Ausgang. Ein Knochenhäufchen in einem mit Stockflecken übersäten Gewand stellte vermutlich die frühere Besitzerin dar. Anscheinend war es bei den Verehrerinnen der Meeresgöttin nicht Sitte, die Toten zu begraben. An dem Uferstück, zu dem die Gänge an dieser Seite der Höhle führten, lag das Gespensterschiff, wie Cyrion schon vermutet hatte. Das rote Segel, das an manchen Stellen so dünn wie Spinnweben war, hing an den Rahen. Es wäre wohl auch kaum möglich gewesen, es einzuholen; denn so, wie es aussah, mußte es schon bei der kleinsten Berührung zerreißen. Die Ruder waren einfach an die Schiffswand gelehnt. Es war ein sehr altes Schiff, verkrustet, zerfressen, narbig, fast ein Wrack, das man -349- vor Jahrhunderten vom offenen Meer hier herein geschafft hatte. Daß es leckte, konnte man als sicher annehmen. Ebenso, daß es für irgendwelche Rituale benutzt wurde. Die Fackeln steckten in ihren Halterungen und wirkten so frisch und sauber getrimmt wie sonst nichts. Segel und Holz waren von Rauch dunkel gebeizt. Ein Ölkrug stand auf Deck, ein alltäglicher Gegenstand, der hier völlig fehl am Platze war. Andere Dinge lagen bei einem Klotz aus allem Anschein nach versteinertem Holz am Bug. Sie paßten sehr viel besser in das Gesamtbild; denn bei ihrem Anblick dachte man an magische Zeremonien, die mit Blutvergießen zu tun hatten – grausame Messer aus Stein, steinerne Gefäße, auf die in groben Umrissen ein Fisch gemalt war, der gleichzeitig ein Auge darstellte. Das Zeichen der Göttin des Meeres? Vorher war der Platz neben dem Schiff leer gewesen. Das hatte sich geändert. Ein Feuer brannte am Ufer, das ma n mit Hilfe von Öl und Zunder aus Treibholz entzündet hatte. Um die spuckenden und zischenden Flammen, die manchmal bläulich oder hellgrün aufzuckten, hockte eine Gruppe alter Frauen. Es waren zwischen siebzehn und zwanzig von ihnen. Sie genau zu zählen, war schlicht unmöglich; denn obwohl sie von unterschiedlicher Größe und Körperhaltung waren, wirkten sie alle gleich ausgemergelt und trugen die gleichen schmutzigen Gewänder, die wohl die Tracht ihres Ordens darstellten. Unter den Kapuzen schlängelten sich schmutzigweiße oder schmutziggraue Haarstränen, bei manchen allerdings nicht, was auf eine Glatze schließen ließ. Aus dem Rahmen von Kapuze und Haar stachen die Gesichter hervor wie die Köpfe von Schildkröten aus dem Panzer oder lagen unsichtbar im Schatten der Kopfbedeckung. Vor dieser Gruppe stand eine, die nur ihre Führerin sein konnte. Sie trug keine Kapuze und stellte hochmütig den ganzen -350- Verfall ihres Fleisches zur Schau. Ihr Gesicht war gänzlich eingefallen, die Augen, die Wangen, der Mund. Es war ein Totenschädel, überzogen von durchscheinender Haut, die jede Farbe verloren hatte bis auf die Farben, die der Widerschein der Flammen darauf zeichnete, jetzt Gold, dann Türkis, dann schimmerndes Grün. Sie mochte hundertfünfzig Jahre zählen. Sie. Ebenso gut konnte sie ein Neutrum sein. Die Zeit hatte sie ihres Geschlechtes und ihrer Persönlichkeit beraubt. Sie war nichts als nur eine Funktion. Sie selbst aber war wie versteinert, zu Stein geworden wie der Holzklotz an Deck des Schiffes, und bewahrte dadurch alle Merkmale ihres Charakters, alle Veranlagungen aus der Zeit, als sie noch gelebt hatte, und diese bestimmten noch immer ihr Handeln. Was davon am meisten auffiel, war eine Art geduldiger Boshaftigkeit. Sie war in ihren Augen zu erkennen, das Flackern einer Intelligenz, die noch nicht erstorben war, aber sich selbst nicht mehr begriff und auch nicht begreifen wollte. Statt einer Kapuze bedeckte ein Netz aus Goldfäden und Perlen ihre weißen Haarsträhnen und tropfte über die breite, von tiefen Falten gekerbte Stirn. Abgesehen davon gab es noch etwas Bemerkenswertes. An der rechten Hand der Frau fehlte der kleine Finger. Ihr gegenüber stand ein junger Mann, gekleidet in wolfsähnlichen Farben und mit wolfsähnlichen Augen, dem es keine Schwierigkeiten zu bereiten schien, dem bösen, irrlichternden Blick der Hexe zu begegnen. In seiner Hand blitzte ein Schwert, erst rot, dann blau, dann grün. Dann wieder rot. Mevary war in einer seiner weniger liebenswürdigen Stimmungen. »Ja, du hast mir alles erklärt, Tabbit. Der Mond ist nicht voll. Es ist nicht die Zeit für das Ritual. Dann verzichte ich auf das idiotische Ritual! Was kümmert’s mich, ob deine verhurte Göttin im Meer damit einverstanden ist? Ihr Gold geben soll sie nur, von dem ihr mir immer nur kleine Stücke gezeigt habt, den -351- Schatz aus der Höhle. Dann werde ich ihr ein paar Artigkeiten sagen, falls sie Wert darauf legt. Vielleicht.« Tabbit, die von ihren Schülerinnen›Oe‹genannt wurde (ein aus alter Zeit stammender Titel ihres Ordens, dessen Bedeutung niemand mehr verstand), öffnete die eingesunkenen Lippen. Cyrion erkannte die Stimme, die er schon einmal in der Höhle vernommen hatte, als Tabbit zu Gerris’ Tochter sprach. »Es ist nicht nur Vollmond, den wir abwarten müssen. Es ist auch noch nicht die rechte Zeit.« »Zur Hölle mit der Zeit. Habe ich es dir nicht schon gesagt, alte Frau? Ich kann meine Zeit nicht damit verschwenden, auf deine Göttin zu warten. Ich muß Flor verlassen – heute nacht. Wenn ihr mir nicht helfen wollt, so braucht ihr mir nur zu sagen, wo ich suchen muß. Ich kann dieses alte Wrack auch alleine rudern, möchte ich wetten, wenn deine vergreiste Mannschaft dazu in der Lage ist. Also los, ihr tatterigen alten Weiber. Tut, was ich sage.« Er hob das Schwert. »Oder glaubt ihr, daß ihr schneller seid als das hier?« Die Frauen raschelten und drückten sich zusammen wie ein Schwarm grauer Fledermäuse. Sie schienen sich nicht zu fürchten. Tabbit, die Oe-Tabbit genannt wurde, zeigte jedenfalls keine Angst. »Und du, Tochter, was sagst du dazu?« Mevary fuhr herum. Und entdeckte die schattenhafte Gestalt, die schon eine ganze Weile hinter ihm gestanden hatte. »Du«, sagte er. »Nun, was sagst du denn, Herzliebchen? Bekomme ich das Gold, das du und dein liebes altes Kinderfrauchen mir versprochen habt? Oder soll ich zurückgehen, vor Cousin Roilant ein Geständnis ablegen und mich in Cassireia hängen lassen?« »Es stimmt, was er sagt«, murmelte der Schatten. »Ich habe mich geirrt, was Roilants Tod betraf. Wie sich herausstellte, hatte er einen Verbündeten, der seine Rolle spielte. Mevary wird -352- in die Hände des Statthalters fallen, wenn er in das Haus zurückkehrt.« Weich wie Ziegelstaub fragte Tabbit: »Und suchen sie nach dir, da oben?« »Nein. Ich gab dem Jungen Zimir ein Mittel, das er in ihren Wein getan hat. Und einen anderen hat Mevary mit einem Kerzenhalter betäubt. Alle schlafen, bis auf das Mädchen. Und sie hat gelernt, sich Mevarys Launen zu fügen.« Tabbit senkte die faltigen Lider. Sie schien in sich hineinzulauschen, aber nur für eine Sekunde. Dann richtete sich der erschreckende Blick ihrer Augen wieder auf Mevary. »In diesem Fall, wenn es auch nicht die Zeit ist, soll dein Wunsch erfüllt werden.« Wieder raschelte es hinter ihr, knochige Hände tanzten wie Spinnen durch die Luft. »Seid still«, befahl Oe-Tabbit. »Sie wird uns gnädig sein. Sie weiß, daß die Regem nicht immer genau eingehalten werden können, von uns, die wir in dieser Höhle gefangen sind und ihr nur so gut dienen können, wie es uns möglich ist, und nicht, wie wir es gerne möchten. Bedenkt auch, Schwestern, wie lange sie schon wartet, wie lange sie danach hungert, daß das Ritual zu Ende geführt wird. Sie wird verzeihen. Sie wird zufrieden sein, wenn es geschieht und sei es auch die falsche Zeit.« Seufzend, zögernd, verstummten sie. Mevary stand in dem Feuerschein, in seinen Augen brannte Hinterlist, Gier und Mißtrauen. »Sie ist bereit, sagst du, mir ihr Gold zu geben?« »Wir haben dir oft erklärt, daß die Göttin für Gold keine Verwendung hat. Komm, meine Tochter«, sagte Tabbit und blickte an ihm vorbei in den Schatten. »Die Muscheln in dem Feuer sagten mir, daß du heute nacht zurückkehren würdest. Wir sind hier, wir haben dich erwartet, wie du siehst. Komm in -353- unsere Mitte, nimm dein Gewand. Werde eins mit uns, Valia, meine Tochter.« Die schattenhafte Gestalt bewegte sich. Sie glitt an Mevary vorbei in den Kreis des Lichts und nahm dabei den Schal aus hellgelber Seide vom Kopf. Die Nadeln, die den Schal auf ihren hochgesteckten Haaren gehalten hatten, regneten unbeachtet zu Boden. Einen Moment lang stand Valia zwischen ihrem Cousin und der Schwesternschaft. Etwas an ihrer Haltung verriet, daß sie zu keinem davon große Liebe empfand. Und doch drückte sich in jeder Linie ihres Körpers eine unentrinnbare Zusammengehörigkeit mit der alten Frau aus. In Männerkleidern, die für die Kletterpartien in dem Brunnenschacht am geeignetsten waren, ging viel von der sinnlichen Ausstrahlung ihres schlanken Körpers verloren, wenn auch nicht alles. In dem Feuerschein erwachte der Kupferglanz, der manchmal auf ihrem Haar lag, zu sprühendem Leben und bewies endgültig ihre Verbindung zu dem Haus Beucelair, zu der blonden Eliset, zu Mevary, mit seiner rotbraunen Haarpracht und zu dem ingwerhaarigen Ro ilant. Auch ihre grauen Augen stammten von Gerris, aber die olivfarbene Haut war ein Erbe ihrer Mutter, der Frau, die Gerris sich in Cassireia als Geliebte hielt und die vor Kummer starb, bald nachdem Valia verschwunden war. Valia, die von Dämonen geraubte, nachträglich legitimisierte Tochter. Ihre Kindheit hatte sie in dem kleinen Haus verlebt, das Gerris ihrer Mutter geschenkt hatte und in das er manchmal zu Besuch kam. Bei solchen Gelegenheiten hatte er einen schrägen Blick für sie, ein billiges Spielzeug – und dann wurde sie hinausgeschickt. Hinausgeschickt, um zu spielen, während Vater und Mutter mit anderen Dingen beschäftigt waren. Das war alles, was Valia von ihrem Vater sah, und alles, was er für sie bedeutete: als lästig und unerwünscht fortgeschickt zu werden. Und später, als das Geld auf Flor knapp wurde und das Haus -354- von Gerris’ Geliebter zu einem Stall verkam, wo Ratten statt der Singvögel zirpten, bedeutete ihr Vater auch das für sie. Kein Wunder, daß sie ihn haßte. Eines Tages geschah etwas, das ihr Leben veränderte. Gerris’ Frau war gestorben, in einem fremden Land, von dem Valia nicht einmal den Namen kannte. Gerris wurde von Schuldgefü hlen geplagt. Er beschloß, sich von seiner Geliebten zu trennen, jetzt, wo es kaum noch darauf ankam, da er sie ohnehin seit fast einem Jahr nicht mehr besucht hatte. An dem Morgen, als er mit dem neu gereiften Entschluß in Cassireia eintraf, spielt Valia im Hof und schaukelte kopfunter an dem toten Feigenbaum. Sie war unglaublich gelenkig und auch unglaublich schmutzig und zerlumpt und am ganzen Körper von den munteren Tierchen zerbissen, die jetzt in den Mauern des Hauses lebten. Bis auf den heutigen Tag erinnerte sie sich an den hin und her schaukelnden rotblonden Mann auf dem hin und her schaukelnden Pferd. Wie es schien, hatten seine Schuldgefühle noch eine ganz besondere Wendung genommen. Dieses verlauste Balg war seine Tochter. Er mußte seine Sünden wiedergutmachen. Er mußte das Kind retten. Er rettete sie. Er adoptierte sie. Er holte sie aus der Hütte, wo sie zwar nicht glücklich, aber zu Hause gewesen war, und brachte sie nach Flor, wo es zu der Zeit noch Diener gab, die sie beschimpften und verachteten, und einen Priester, der ihr von der Liebe Gottes erzählte und sie dafür schlug, daß sie sich an nichts dergleichen erinnern konnte. Und wo es eine Schwester gab, jünger, eine goldene Blume, zart und still, legitim und nicht nachträglich adoptiert, ein Geschöpf, das so nahtlos in dieses Haus paßte, wie Valia unpassend war. Und da war Gerris, der Valia jetzt mit unechter theatralischer Liebe überschüttete und mit Geschenken (immer noch billig, denn das Geld war knapp), der zurückzuckte, wenn er in ihre Nähe kam, und sich zwang, sie zu umarmen und zu loben – sie verstand den Grund nicht, -355- aber sie fühlte seine Schwäche, seine Abneigung und seine Furcht. Und haßte ihn um so mehr. Haßte jeden und alles. Außer Die alte Frau, das Kindermädchen der goldenen Schwester und jetzt auch ihr Kindermädchen… Meistens schenkte die alte Frau ihr nur wenig Beachtung, obwohl Valia einmal, als sie geschmeidig und geschickt einen Baum hinaufkletterte, bemerkt hatte, wie die alten Augen sie beobachteten. Danach, wenn sie allein waren, erzählte Tabbit ihr Geschichten. Es waren herrliche Geschichten, von einem wunderschönen Palast aus Kristall und Smaragd auf dem Meeresgrund, wo eine Göttin wohnte, die von den Menschen vergessen worden war, aber immer noch von einigen wenigen verehrt wurde, den Auserwählten, den Treuesten – alles Frauen. Und sie belohnte mit Macht, diese Göttin, alle, die ihr dienten. Macht, um andere Menschen, Männer wie Frauen, zu Sklaven zu machen. Macht, um zu bestrafen und zu befehlen. Schon zu der Zeit war Tabbit alt. Sehr alt, und an einer Hand fehlte ihr der kleine Finger. Tabbit erklärte das Opfer, das sie der Göttin des Meeres dargebracht hatte, der Mutter des Großen Wassers. Der abgeschnittene Finger hatte ihren Bund besiegelt. Es gab anderes, das man Ihr opfern konnte. Einen Zeh, ein Ohrläppchen, sogar eine Brustwarze – Valia, deren Busen sich schon wölbte, erschauerte vor Entsetzen. Aber was (sagte Tabbit) war ein kleines Stück Fleisch im Vergleich zu solcher Macht? Der Kummer war, daß nur so wenige geeignet waren, der Göttin zu dienen, daß ihre Gefolgschaft bis auf eine Handvoll zusammengeschmolzen war. Damit der Orden nicht ausstarb, war eine von ihnen ausgezogen, um ihre Gefährtinnen mit aller Nahrung zu versorgen, derer sie habhaft werden konnte; denn sie alle wurden alt und konnten sich nicht mehr gut aus dem Meer versorgen. Das Hauptanliegen aber war, die Welt nach einem leuchtenden Kind abzusuchen, das schön und klug und stark genug war, um in den Tempel der Göttin einzutreten und ihre übernatürlichen Gaben zu empfangen. -356- Das alles wurde so geschickt angefangen, viel geschickter, als es zu erzählen ist. Schließlich hatte es die zwei vorhersehbaren Höhepunkte gegeben. Tabbits Bekenntnis, daß sie selbst die suchende Priesterin war. Valias leidenschaftlicher Wunsch, daß die Wahl auf sie fallen möge. Sie war nie etwas Besonderes gewesen. Ein ungewolltes Kind, ein Klotz am Bein von zwei Liebenden, ein Mittel, Gott zu bestechen. Sie hatte keine Stellung oder glaubte, keine zu haben, und sie wurde nicht geliebt. Sie verabscheute Gerris, sie verabscheute die goldene Blume, Eliset, die all das darstellte, was Valia nicht war, und die aus irregeleitetem Mitleid ein- oder zweimal versucht hatte, freundlich zu ihr zu sein, wodurch Valias Haß nur noch mehr geschürt wurde. Valia sehnte sich nach dem Segen der Göttin. Sie bekam ihn. Tabbit sagte ihr, wie sie den Tempel erreichen konnte, von dem Weg durch den Brunnenschacht und dem Käfig. Diesen Weg, so berichtete Tabbit, gab es schon seit undenklichen Zeiten. Die aus dem Osten stammende Herrin des Hauses, auf dessen Grundmauern Flor erbaut war, war ein Mitglied der Sekte gewesen. Sie war es, die der Schwesternschaft Zuflucht bot, als sie sich aus Angst vor Verfolgung verbergen mußte. Der Brunnenschacht ermöglichte auch Tabbit ein unbeobachtetes Kommen und Gehen, wenn sie ihre Schwestern mit Lebensmitteln versorgte, die sie im Haus gestohlen hatte. Gelenkig wie ein Affe war Tabbit immer noch, aber die Aufgabe wurde ihr immer schwerer. Was jetzt gebraucht wurde, war Jugend. Jugend, die von derselben verrückten Treue und Besessenheit im Zaum gehalten werden konnte, wie sie all diese Frauen am Leben hielt, die da in ihren unterirdischen Löchern verfaulten, Männer haßten, die Welt haßten, das Leben haßten. Ja, in Valia hatte Tabbit die Eigenschaften erkannt, die die Göttin der Hexen schätzte. Nicht Weisheit oder strahlende Kraft, sondern schlaue, zähe Hinterlist, den ersten Funken von Verfolgungswahn. -357- Schließlich geschah es dann. Valia ließ sich in der Nähe des Turmes und der Klippen von den Dienern sehen. Sobald sie allein war, lief sie zu der Mauer des Badehauses und kletterte hinüber. Dann eilte sie zu dem Gang mit dem Brunnen, der damals noch überdacht war. Sie öffnete den Brunnen, wie Tabbit es ihr erklärt hatte, und ließ sich in den Schacht hinab. Kurze Zeit später kam Tabbit und schloß die Öffnung wieder. Dann kehrte sie zu Eliset zurück, die im Garten spielte und überzeugte das Mädchen, daß sie die ganze Zeit dort gewesen war. So gelangte Valia in ihr neues Reich. Sie hatte Pracht und Schönheit erwartet, etwas, das es mit dem Palast der Meeresgöttin aufnehmen konnte. Aber auch diesmal war sie betrogen. Es gab keine Herrlichkeit, nur Sklaverei. Sklaverei, die mehrere Jahre dauerte, und nur, wenn sie über die gefährlichen Felsbänder in der Höhle kletterte oder durch das eisige Wasser schwamm, konnte sie durch den schmalen Spalt in den Klippen die Sonne sehen, das offene Meer, den Himmel und einen Horizont, der nicht aus Felsen bestand. Natürlich hatte sie sich gewehrt, aber das führte zu nichts. Sie hatte abscheuliche Dinge getan, aber auch das bewirkte weder Erleichterung noch Anerkennung. Und es gab keine Fluchtmö glichkeit. Sie war nicht stark genug, um das alte Schiff in die Freiheit zu rudern, und der Brunnenschacht blieb verschlossen. Tabbit kam am Ende des ersten Monats, und Valia beschimpfte sie. Tabbit stand ungerührt vor dem dunklen Hintergrund des Uferstreifens. Und als Valia erschöpft verstummte, drehte sie sie herum, bis sie auf den unterirdischen See hinausblickte. Dann sprach Tabbit einige Worte und ein Wunder geschah. Eine grüne Muschel stieg aus dem schwarzen Wasser, besetzt mit funkelnden Lichtersternen. In der Muschel schwammen wunderschöne Frauen wie Meeres-Schmetterlinge, -358- und der Duft von tausend Blumen erfüllte die Halle und Musik wie von einer Harfe aus Kristall… Die Erscheinung verblaßte schnell. Es war nur ein Trugbild und kostete Tabbit viel Kraft. Ihre Anfänge waren nicht ganz so vergeis tigt, wie sie vorgegeben hatte. Sie war als Dienerin auf Flor geboren worden, und als es mit dem Haushalt allmählich bergab ging, hatte sie sich den Hexen angeschlossen, wie es bei den Frauen ihrer irdischen Familie Tradition war. Mit zunehmendem Alter verringerten sich ihre magischen Fähigkeiten. Bald würde ihr nur noch die Gabe geblieben sein, anderen Menschen zu befehlen, und diese wandte sie jetzt auf Valia an, als das Kind sich ihr verstört und zitternd wieder zuwandte. »Du wirst größere Wunder bewirken als ich«, sagte Tabbit, »und größere Macht erreichen. Aber nur, wenn du bei uns bleibst, von uns lernst und dich der Göttin mit Leib und Seele ergibst.« Und Valia, die nie etwas anderes gewesen war, als anderer Leute Furcht und Pflicht, begann zu ahnen, daß sie sich hier an dem für sie rechten Platz befand. Also beugte sie sich der Sklaverei mit widerstrebendem Einverständnis. Sie ertrug es dreizehn Jahre. Sie lernte die Kunst der Magie, und daß sie keine Meisterin war, wurde vor ihr geheimgehalten, bis sie sich mit der stets verläßlichen Blindheit des wahren Egoisten selbst für eine Meisterin hielt. In der Zwischenzeit ging sie auf Fischfang, arbeitete in den Kräuter- und Pilzgärten, die die Zutaten für die heilsamen und auch weniger heilsamen Trünke und Pulver lieferten, und backte Brot aus dem Mehl, das sie eigenhändig aus der Küche von Flor entwendete. Und wenn sie jetzt durch den Brunnenschacht hinaufstieg und die lebende Erde sah, empfand sie nur Verachtung und Ablehnung; denn sie hatte ihr nichts weiter gegeben als Demütigung, Zurückweisung und falsche Gefühle. Die Hexen hatten sie verführt und geraubt. Sie hatten sie wirklich gewollt. Sie blieb bei ihnen und wurde zu -359- einem Geschöpf voller Weisheit und Licht in der Dunkelheit oder glaubte es wenigstens. Und als Tabbit schließlich ihrer Herrschaft erklärte, sie wolle nach Hause zurückkehren, um dort zu sterben, statt dessen aber wieder ihren Patz im Kreis der Hexen einnahm, wurde Valia ihre Tochter, ihr verbunden durch ein Blutopfer, so wie Valia in ihr em fünfzehnten Lebensjahr durch das Opfer eines Ohrläppchens ihren Bund mit der Göttin besiegelt hatte. Und trotzdem war sie sich die ganze Zeit, während sie dort unten in der Dunkelheit leuchtete, bewußt, daß über ihr das Leben weiterging. Flor wurde für sie zu einer Welt auf der anderen Seite einer gewaltigen Tür. Sie sah ihre Verwandtschaft auch, wenn sie oben herumschlich. Den ersten Mevary – ihren Onkel -, aufgeblasen, wollüstig, ein Trunkenbold. Den jüngeren Mevary, häßlich in all seiner Schönheit, die ein Teil von ihr wohl bemerkte und deshalb verachtete. Und Eliset. Valias Mutter, die ihr Kind vernachlässigt hatte, war inzwischen selbst an Vernachlässigung und Verzweiflung gestorben. Gerris war gestorben. Seinen Tod hielt Valia für ihren Verdienst, denn sie hatte ihn mit Flüchen belegt – wenn auch nicht um ihrer Mutter willen. Manchmal des Nachts, wenn sie sich in der Oberwelt aufhielt und nicht den Lebenden nachspionierte, ging sie zu seinem Grab und spuckte darauf und vergoß Tränen der Freude, weil sie ihm Leid zugefügt hatte. Einmal sah sie Roilant. Einen dicklichen Jungen, der gerade ein Bad nahm, als sie ohne die geratene Vorsicht aus dem Brunnen stieg. Sie paßte auf, daß er sie in ihren gestohlenen Knabenkleidern und mit dem von einem Schal bedeckten Haar nicht sehen konnte. An seinem roten Haar erkannte sie ihn als einen Cousin. Und haßte ihn. Seit Gerris’ Tod hatte sich in ihr die Idee festgesetzt, daß sie gerne ihre ganze Familie in den Untergang treiben wollte. All jene, denen von Rechts wegen zustand, was man ihr nur gegeben hatte, um das schlechte Gewissen zu beruhigen. -360- Die Schwesternschaft liebte Blutvergießen. In der Jahrhunderte zurückliegenden Blütezeit der Sekte – wenn man es so nennen konnte – wurde der Göttin jedes Jahr ein Mann geopfert. Valia kam der Gedanke, daß man diesen Brauch Wiederaufleben lassen könnte. Nicht auf dem Wasser, das war unmöglich, aber vielleicht durch Wasser Tabbit war ihr gegenüber nachgiebig geworden, wie auch all die anderen Schwestern, jetzt, da sie wirklich zu ihnen gehörte. Sie war ihr Stern, ihr aufgehender Mond. Und auch Tabbit empfand keine Liebe für Flor und seine Bewohner. Sie hatte sie nur benutzt, und sie war verrückt. Die alte Führerin war gestorben, und Tabbit hatte ihre Stelle eingenommen. Sie umhüllte sich mit ihrem Fanatismus, versteinerte. Sie gab Valia ihr Einverständnis. Valia wartete eine Zeitlang in dem Badehaus, bis Onkel Mevary zu später Stunde und schwer berauscht kam, um ein Bad zu nehmen. Er war ein lüsterner Mann, aber in betrunkenem Zustand – und er war sehr betrunken – ungelenk, kraftlos und nicht in der Lage, sich selbst zu helfen. Als er des Mädchens ansichtig wurde, winkte er sie grinsend heran. Und sie kam und drückte ihm plötzlich ein angenehm riechendes Stück Stoff auf die Nase. Die Droge war stark, er nicht. In wenigen Augenblicken war er bewußtlos, und Valia stand über ihm in dem Heißwasserbecken und hielt ihn fest, bis er ertrunken war. Sie war gerade neunzehn. Es vergingen einige Jahre, bis schließlich ein Plan in ihr heranreifte. Zu der Zeit war sie eine mächtige Zauberin geworden; die Hexen hatten es ihr gesagt und sie glaubte ihnen. Daß sie allesamt senil waren, wofür sie sie verachtete, wenn sie das auch nach außen hin nicht merken ließ, hatte ansonsten für sie keine Bedeutung. Sie übersah die Tatsache, daß die alten Frauen längst keine Verbindung mehr zum Leben hatten. Sie atmeten nur noch, alles andere war ihnen längst entrückt. Sie schmeichelten und verhätschelten Valia, ihren leuchtenden -361- Stern, aus reiner Gewohnheit und weil sie sich dumpf von ihrer Jugend angezogen fühlten. Aber sie hatten keine wirkliche Beziehung mehr zu ihr oder zu irgend etwas anderem. Daß sie sie in ihre Reihen aufgenommen hatten, war ihr letzter Tribut an ihre Göttin gewesen. Daß sie sie weiterhin bei sich behielten – nun, sie hatten vergessen, daß sie nicht schon immer dagewesen war. Und Valia, die auf ihre Art ebenso blind war wie sie, bemerkte es nicht. Sie war der Meinung, daß für sie die Zeit gekommen war, die Schwesternschaft zu verlassen und an die Erdoberfläche zurückzukehren. Sie sah sich selbst als Priesterin einer geheimnisvollen Sekte, deren Ruhm sich über die ganze Welt ausbreitete. Mit der Macht, die ihr zu Gebote stand – welche Höhen konnte sie damit erklimmen! Daß sie dabei an die Göttin denken mußte, störte sie nicht im mindesten. Die Göttin würde die von Ihr Auserwählte freundlich ansehen. Und wenn Valia beschloß, daß sie die Sekte erneuern und dadurch zu einer Kaiserin werden wollte, würde die Göttin auch das mit Wohlwollen betrachten. Denn Valia hatte die Göttin nach ihrem eigenen Abbild geschaffen, sie war nur ein Phantasiegebilde in ihrem privaten Götterhimmel. Wie auch die Magie. Was vielleicht erklärte, warum ihre Begabung so gering war. Ohne sich dessen bewußt zu sein, träumte sie von dem Leben, das vor ihr lag. Ziemlich plötzlich fand sie dann einen Weg, der sowohl zur Rache als auch in die Freiheit führte. Sie gab ihrem Plan ein Gewand, das Tabbit täuschen würde, und legte ihn ihr dann vor: Obwohl Valia vor allen Dingen Priesterin war und ihr Leben dem Dienst an der Göttin geweiht hatte, fühlte sie doch das Verlangen, sich an denen zu rächen, die sie als Kind gedemütigt hatten. Befürwortete nicht auch die Göttin Gerechtigkeit und die Erlösung einer Schuld mit Blut? Valia hatte einen Plan entwickelt, fast, als hätte die Göttin selbst ihn ihr ins Ohr geflüstert. Sie würde für eine Zeitlang nach Flor zurückkehren, -362- sich in den heruntergekommenen Haushalt einschleichen und, während sie weiterhin die Hexen mit Nahrungsmitteln versorgte, auf eine Gelegenheit warten, ihre Familie zu vernichten. Eliset zu töten, würde keine Schwierigkeiten bereiten. Mevarys Tod würde gleich einen doppelten Zweck erfüllen. Zu lange hatte die Göttin auf ihr Opfer verzichten müssen. Jetzt ergab sich die Möglichkeit, das zu ändern. Die einzige Schwierigkeit, bemerkte Valia, bestand darin, Mevary in die unterirdische Höhle zu locken, nicht nur einmal, sondern oft, damit all die vorbereitenden Zeremonien durchgeführt werden konnten. »Da ist«, sagte Tabbit, »das Gold der Remusaner.«. Eines Abends, als Mevary aus dem Dorf zurückkam, wo er getrunken hatte, traf er eine Frau. Sie war schön genug, daß er sie betrachtete, und ihr vertrauliches, wissendes Lächeln war irgendwie faszinierend. Zuerst sagte sie ihm nicht, wer sie war, und er fragte nicht. Aber er gestattete ihr, ihn zu den Obstgärten von Flor zu begleiten, wo er bald zur Sache kam. Valia war nicht unvorbereitet, weder geistig, noch körperlich. Zwar hatte sie noch nie mit einem Mann gelegen – aber sie selbst war ihr feurigster Liebhaber gewesen. Jetzt hatte Mevarys Begierde sie erregt. Es war ein eigenartiges, herrliches Gefühl, mit einem zu liegen, den sie töten würde. Deshalb empfand sie ein perverses Vergnügen bei dieser Vergewaltigung, das allerdings nichts mit Lust zu tun hatte, sondern eher mit dem Gefühl überwältigender Allmacht. Er tat genau das, was sie vorausgesehen hatte. Er hielt sie für sein Opfer und Spielzeug. Ein köstlicher Irrtum. Als Mevary mit ihr fertig war, gestand sie ihm – scheinbar ganz schwach vor Entzücken -, wer sie war: niemand anders als die totgeglaubte Valia. Wie sie es darstellte, war sie als Kind entführt worden und obwohl sie als Sklavin gehalten wurde, hatte sie so viel gespart, daß sie sich schließlich die Freiheit kaufen konnte. Jetzt kehrte sie zurück, um ihr Geburtsrecht zu -363- verlangen. Das zu hören belustigte Mevary ungemein. Dann erzählte sie, worin dieses Geburtsrecht in Wahrheit bestand: in einem unermeßlichen Goldschatz, der in den Höhlen unter Flor verborgen lag. Ihre alte Kinderfrau hatte ihr davon erzählt. Diese Kinderfrau bewachte ihn auch, zusammen mit anderen alten Weibern. Man mußte sie bei Laune halten, aber das konnte doch weder ihr noch ihm allzu schwer fallen. Würde er ihr helfen, an den Schatz heranzukommen und ihn dann mit ihr teilen? Sie überzeugte ihn. Ihn von ihrer Liebe zu ihm zu überzeugen, war mehr als einfach. In dieser Beziehung war er, genau wie sie, ein von keinen Zweifeln geplagter Egozentriker. Noch war es schwierig, die Geschichte von dem Schatz zu beweisen. Sie hatte eine Handvoll antikes Gold mitgebracht, genug, um ihren Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen – remusische Münzen, ein Stück von einem Brustpanzer. Der eigentliche Schatz, erklärte sie, lag in einer unterseeischen Höhle der Grotte und mußte herausgefischt werden. Die Frauen kannten den genauen Platz und auch eine Methode, um ihn zu heben. Wenn ihre albernen Rituale zu Ehren einer Meeresgöttin befolgt wurden, konnte man auf ihre Hilfe rechnen. Mevary war seit geraumer Zeit knapp bei Kasse, was ihm gar nicht zusagte. Er hatte sich vorgenommen, Eliset zu heiraten und damit sicherzustellen, daß das wenige, was Flor noch zu bieten hatte, in seine Taschen wanderte. Träge und von sich selbst überzeugt, wie er war, hatte er in dieser Angelege nheit keine besondere Eile an den Tag gelegt. Jetzt schien er auf etwas viel Besseres gestoßen zu sein. Er brachte Valia nach Flor. Da sie nicht wollte, daß jemand anders erfuhr, wer sie war, gab er sie als eine Sklavin aus, die er beim Würfeln gewonnen hatte. Die Lüge machte ihm Spaß. Wie es ihm Spaß machte, die neue Sklavin seiner anderen Bettgefährtin, Eliset, zu schenken. Schließlich brachte das Mädchen, das aus Gründen der Geheimhaltung den Namen ihrer Mutter, Jhanna, angenommen hatte, der außer Gerris kaum -364- jemandem bekannt gewesen war, Mevary durch den gefährlichen Brunne nschacht in die Höhle hinab. Und bei diesem ersten Besuch, nahm›Jhanna‹ein Geschenk für Oe- Tabbit mit, um zu prüfen, wie es mit seinen Gefühlen für die blonde Cousine beschaffen war und ob er etwas von der Tücke der dunkelhaarigen Cousine ahnte. Es war ein Haarschmuck aus Gold und Perlen, den sie gestohlen hatte – Elisets letzte Kostbarkeit. Mevary schien sich nicht daran zu stören, noch wunderte er sich, daß die goldgierige Valia ein solches Stück verschenkte. Mit ein bißchen mehr Nachdenken hätte er eine interessante Schlußfolgerung daraus ziehen können – daß Valia nicht an Geld, Schätzen oder Besitz gelegen war. Ihre Ziele waren höherer Natur. Wie auch immer, der Pakt wurde geschlossen. Wie vereinbart, kletterte Mevary in Vollmondnächten in Käfig und Höhle, wurde in ein alles andere als seetüchtiges Schiff gesetzt, von Fackeln angeleuchtet, besungen, herumgerudert und mit Ruß, Farben und Fischblut bepinselt. Er ertrug es geduldig, in der Erwartung, daß der Schatz gehoben und ihm aufgedrängt würde. Die Göttin verachtete das Gold, sagte man ihm; es machte sie krank. Und hin und wieder wurde ihm ein Stückchen Gold in die Hand gedrückt, um ihn bei Laune zu halten. Er war ärgerlich, aber voller Hoffnung. Seine Faulheit und der unerschütterlicher Glaube, daß ihn niemand zum Narren halten konnte, trugen mit dazu bei, daß er nicht aufbegehrte. Dann geschah etwas, von dem Mevary nichts bemerkte, von Eliset ganz zu schweigen. Ein an Eliset gericht eter Brief kam an und wurde, wie es sich in letzter Zeit eingebürgert hatte, Jhanna übergeben. Es war Harmul, der ihn ihr brachte, Harmul, der sie fürchtete. Sie hatte sich einige Mühe gegeben, ihn von ihren Hexenkräften zu überzeugen und ihm noch Schlimmeres angedroht. Valia hatte gesehen, daß er Eliset anbetete, wie auch der andere Knabe, Dassin. Sie folgten ihr mit treuem Hundeblick, erbleichten bei ihrer Berührung, waren närrisch in -365- sie verliebt, aber diesem Zauber hatte Jhanna mit ihren eigenen Zaubern entgegengewirkt. Sehr bald eingeschüchtert von ihrer Bosheit, brachten Harmul, Dassin und sogar Zimir, Mevarys Geschöpf, ihr kleine Geschenke. Wie sich herausstellte, war der Brief die gesetzlich einwandfreie Auflösung von Roilants Verlobung mit Eliset. Anscheinend hatte er die Absicht, eine andere Dame zu heiraten. Jhanna wanderte in ihrer Kammer umher – eine Kammer, in der es weiche Kissen und Flakons mit kostbaren Parfüms gab, von der eine Sklavin in ihrer Stellung nicht einmal zu träumen gewagt haben w ürde. Da war ihr etwas in den Schoß gefallen, das ganz ausgezeichnet in ihren schurkischen Plan paßte. Sie hatte einmal gehört, wie Mevary als Witz über diese lange zurückliegende Verlobung sprach, an deren Einhaltung längst niemand mehr glaubte. Diese Botschaft nun, statt die Zweifel zu bestätigen, konnte dazu benutzt werden, genau das Gegenteil zu bewirken. Jhanna zerriß den Brief und behandelte die Fetzen mit einem gewissen Mittel, das den Hexen bekannt war. Wurden die Papierstücke gleich wieder in den Umschlag gesteckt und versiegelt, geschah gar nichts, bis sie wieder mit der Luft in Berührung kamen – dann gingen sie sofort in Flammen auf. Den solcherart hergerichteten Brief übergab sie Harmul mit der Anweisung, daß er zu Roilant nach Heruzala gebracht werden müsse. Eliset würde den Boten bezahlen, wenn Harmul ihr erzählte, Mevary hätte ihn gebraucht, um bei irgend jemandem Aufschub für seine Spielschulden zu erbitten. Eliset war daran gewöhnt, für Mevary zu bezahlen, ohne Fragen zu bestellen, da sie keinen Wert auf die Wiederholung der Ohrfeige legte, die sie gleich zu Anfang bekommen hatte. Valia war über ihre eigene Klugheit begeistert. Diese Botschaft an Roilant konnte nur auf eine Art gedeutet werden: Ich weise dein Ansinnen zurück. Natürlich würde er glauben, der Brief käme von Eliset. Danach blieb ihm nichts anderes -366- übrig, als persönlich nach Flor zu kommen, entweder um seinen Willen durchzusetzen oder seine Absicht zu ändern und das vor langen Jahren gegebene Versprechen einzulösen. Um ihn dahingehend zu beeinflussen, strengte Valia all ihre magischen Kräfte an. Er würde tatsächlich den Wunsch verspüren, Eliset zu heiraten. Und statt dessen mit ihr sterben. Diese kleine Zusatzteufelei versetzte Valia in Hochstimmung. Alle drei würden sterben. Die ga nze Familie Beucelair ausgelöscht – bis auf sie selbst. Sie dachte sich aus, wie sie vorgehen mußte: sie, Jhanna, würde Roilant töten. Der Tat beschuldigen würde man Eliset, die als seine Witwe den größten Nutzen von seinem Tod hatte. Man würde sie, das zarte Blümchen, in ein stinkendes Gefängnis werfen und von dort, nur mit einem Hemd bekleidet, zu einer schmachvollen öffentlichen Hinrichtung führen. Wie sie vorausgesehen hatte, erschien Roilant auf Flor, nachdem ihn die übernatürlichen Mahnungen gehörig in Furcht versetzt hatten. Mevary paßte das gar nicht. Das letzte, was er jetzt brauchen konnte, war ein ingwerhaariger Cousin, dessen Reichtum neben dem, was nur darauf zu warten schien, aus dem Meer gefischt zu werden, ziemlich erbärmlich wirkte. Eliset spielte die große Dame. Valia hatte ein nächtliches Zusammentreffen mit dem übergewichtigen Dummkopf. Als sie Roilants Licht in dem Badehaus sah, glaubte sie sich von dem älteren, verstorbenen Mevary angegriffen. Seit sie sich jetzt ständig auf Flor aufhielt, zeigte er sich des öfteren. Sie schützte ihren Schlafplatz, den Küchenhof, mit Amuletten, die Tabbit für sie anfertigte. Diese Grenze konnte er nicht überschreiten – aber da er sie jetzt außerhalb des schützenden Kreises überrascht hatte, hatte sie versucht, sich seiner zu erwehren, und das führte zu einem fürchterlichen Durcheinander. Nachher allerdings hatte sie Roilant umgarnt, den Trottel, ihn unsicher gemacht, seinen Befürchtungen neue Nahrung gegeben (es war vergnüglich, -367- Eliset der Hexerei zu bezichtigen) und ihm schließlich ein Fläschchen mit einer parfümierten Flüssigkeit überreicht, in dem sich angeblich starkes Gift befand. Es würde ihn in die Lage versetzen, Eliset, die böse Hexe von Flor, zu beherrschen, denn wenn er es in ihren Wein schüttete und sie davon tränke, würde es sie gefügig und willenlos machen. Er hatte behauptet, ihrem Rat gefolgt zu sein, hatte aber wohl nur geprahlt. Das Mittel führte zu starkem Erbrechen, etwas, das Valia der makellosen Eliset von Herzen gegönnt hätte. Dann aber endete die Nacht nach dem Hochzeitsessen, die so vielversprechend begonnen hatte, am folgenden Morgen mit Schrecken und Verwirrung. Als Valia den Teller mit Fleisch in den Pavillon getragen hatte, war selbst Mevary vor ihr auf der Hut gewesen und brachte seine Abneigung mit viel Geduld zum Ausdruck – ein Spiel, das er manchmal mit den beiden Frauen spielte. Als er hinausgega ngen war, um mit Eliset zu sprechen, gelang es Valia, das mitgebrachte Gift in Mevarys Becher zu schütten, ohne daß der Ingwerkopf etwas bemerkte. Dann hatte sie den Ingwerkopf gemahnt, auf seinen Becher achtzugeben. So, wie die Dinge lagen, war sie sicher, daß der ahnungsvolle Roilant versuchen Würde, seinen Becher gegen Mevarys auszutauschen, dem er noch mehr mißtraute als Eliset. Allerdings hatte sie vorher schon Mevary gegenüber angedeutet, daß so etwas vorkommen könnte. So, wie Mevary gebaut war, würde er das Spiel bis auf die Spitze treiben und Roilant zwingen, aus jenem Becher zu trinken, der auf dem Tisch stand. Und auch dann, wenn Mevary das Gift trank, erschütterte das Valias Träume nicht übermäßig. Sie wollte sie alle sterben sehen. Starb das auserwählte Opfer während des Abendessens, war die Hexe vielleicht enttäuscht, aber die Mörderin zufrieden. Anschließend würde sie Roilant eigenhändig umbringen und hatte dann immer noch das Vergnügen, zu erleben, wie man Eliset die Schuld an diesem Mord anlastete, während der arme Mevary offensichtlich bei seinem Versuch zu helfen -368- umgekommen war. Für die Schwesternschaft und die Göttin blieb immer noch Harmul, den sie mit List oder durch Drohung dazu bringen konnte, in die Höhle hinabzusteigen. Natürlich mußte man mit der Zeremonie noch einmal von vorne anfangen, und vielleicht würde Valia nicht lange genug bleiben, um das eigentliche Opfer zu erleben. Aber es wäre ein Abschiedsgeschenk an Tabbit. Und die Göttin, dessen war sich Valia sicher, würde sich gnädig zeigen. Das waren Valias Gedankengänge, in denen sich die Hexe der Frau beugte und die Frau der Hexe, wie es gerade nötig war. Schließlich stellte sich heraus, daß es unnötig war, sich Gedanken zu machen. Die Becher wurden ausgetauscht, ganz wie sie es sich vorgestellt hatte, ausgetauscht und wieder ausgetauscht… Dann gab es ein Handgemenge, und Mevary zwang Roilant, aus dem einen, vorbestimmten Becher zu trinken. Es war nicht das Gift, das sie benutzt hatte, um Jobel zum Schweigen zu bringen. Nach Mevarys Bericht über Jobels Beobachtungen war es darauf angekommen, daß der alte Mann eines natürlichen, wenn auch unangenehmen Todes starb. Was Roilant betraf, sein Tod sollte alles andere als natürlich aussehen. Das Mittel, das sie ihm bestimmt hatte, war eine Säure, die die Gedärme zerfraß. Sie hatte sich darauf gefreut, seine Schreie zu hören. Seltsamerweise gab es nur einen und ziemlich gedämpft. Das betrübte sie, aber trotzdem freute sie sich über seinen Tod. Sie war in die Dunkelheit hinabgestiegen, um Tabbit davon zu berichten. Dann, in der Abgeschlossenheit ihrer Kammer, hatte Valia vor Freude geweint, wie sie damals freud ige Tränen über dem Grab des verhaßten Gerris vergossen hatte. Oh, sie würde die Zeichen ihrer Macht in der Welt zurücklassen, wie die Krallenspuren einer Tigerin. Aber dann. Dann erfuhr sie, daß sie es gar nicht mit Roilant zu tun gehabt hatte. Daß sie ihn nicht genarrt, geängstigt, umgarnt, getötet hatte. Daß sie vielleicht überhaupt niemanden -369- getötet hatte. Angst vor den Rädern des Schicksals, die von der vorgezeic hneten Spur abgekommen waren, überwältigte sie. Was war jetzt zu tun? Mevary löste dieses Problem. Er schlug vor, Roilant und seinen Leibwächtern ein Schlafmittel zu verabreichen. Er wußte von ihrem Geschick im Umgang mit Trunken und Pulvern. Vor kurzer Zeit erst hatte sie ja auch Roilant – der gar nicht Roilant war – betäubt. Mit einer gelben Rose, als Elisets schriftliche Nachricht einen so günstigen Vorwand für die Überreichung einer Blume geliefert hatte. Als Roilants Männer unschädlich gemacht waren, hatte Mevary ihr mitgeteilt, daß er fliehen wollte. Er war nur um Haaresbreite von einer Anklage wegen Mordes an Roilants Beauftragtem entfernt und war doch unschuldig – Valias Rat, den Leichnam zu verstecken, hatte unangenehme Folgen gehabt. Es hatte Mühe gekostet, ihn davon zu überzeugen, daß die Hexen ihn nicht entwendet hatten. Außerdem tat Eliset ihr Bestes, um Mevary dem Gesetz in die Arme zu treiben. Mevary hatte sie für harmlos gehalten, wie Valia auch. Sie hatte vorher nie auch nur einen Funken von Aufsässigkeit erkennen lassen. Sie waren beide ein wenig erstaunt über diese gänzlich neue selbstmörderische Veranlagung, die darauf abzuzielen schien, sowohl sich selbst als auch Mevary vor den Statthalter zu bringen. Aber Mevary durfte nicht verschwinden, Valia erinnerte ihn an den Schatz. Woraufhin Mevary beschloß, die alten Frauen in der Grotte zur Herausgabe des Goldes zu zwingen und es auf seiner Flucht mitzunehmen. Die Hexe in Valia hatte sich dagegen gewehrt – wieder kam der Zwiespalt in ihrer Persönlichkeit zum Ausdruck. Die Zeit für die Opferung war noch nicht gekommen, die Zeremonien noch nicht -370- abgeschlossen. Dann kam ihr, wie Tabbit, der Gedanke, daß ein Opfer zur falschen Zeit besser war als gar keins. Und außerdem, schrie ihr anderes Ich in Valias Herz und brachte die Priesterin zum Schweigen, was kümmerte es sie, solange dieses verhaßte, schöne Tier, das die abartigen Träume ihrer Jugend genährt hatte, eines blutigen Todes starb? Was kümmerte sie die Zeit! Valia trat vor, und die Hexen umringten sie. In dem Schutz ihrer graugekleideten Gestalten legte sie ihre Männerkleidung ab und schlüpfte in ihr Gewand, das so fleckig und zerschlissen war wie das der anderen Frauen. Sie verabscheute den Geruch, wie sie auch vor den Ausdünstungen der seit Jahrzehnten ungewaschenen Körper zurückzuckte. Und doch war es wie eine Heimkehr. Der Geruch vermittelte ihr ein Gefühl der Geborgenheit. Sie würde ihn vermissen, in dem duftenden, herrlichen Leben, das vor ihr lag. Noch während sie das Gewand anlegte, wanderten ihre Gedanken über das bevorstehende Opfer hinaus zu ihrer Flucht durch den Brunnenschacht. Jede noch so weit hergeholte Ausrede – alles – würde es ihr ermöglichen, nach dem Ritual fortzugehen. Erst wenn sie nicht zurückkehrte, würden sie erkennen, daß sie endlich frei war, auch von ihren Schwestern. Oder vielleicht glaubten sie, sie sei gestorben. Aber na türlich würde sie nicht sterben. Valia hatte alles getan, daß auch nicht der Scha tten eines Verdachts auf sie fallen konnte. Niemand würde bezweifeln, daß die Familie sich gegenseitig ermordet hatte, und ein paar unschuldige Außenstehende dazu. Sie würde sich um Roilant kümmern, wenn sie später wieder nach oben stieg. Sie hatte ihn noch nicht getötet, weil sie befürchtete, Mevary könne es merken und mißtrauisch werden. Einen Menschen einmal zu töten war die eine Sache – Mevary hatte seiner Feigheit die Schuld gegeben und sogar Eliset verdächtigt. Aber zweimal – ah, nein. Erst wenn Mevary aus dem Weg war, konnte Valia sich mit Roilant beschäftigen. Und Eliset die Folgen tragen lassen. Mevarys Überreste würden nie gefunden -371- werden. Harmul und Zimir würde sie vielleicht auch beseitigen. Natürlich auch Elisets Werk. Schade, daß Dassin geflohen war, aber er zählte nicht… Sie war jetzt bereit, und die Wucht ihrer Entschlossenheit machte sie schwindelig. Endlich frei zu sein, wie herrlich, wie erschreckend! Aber zuerst die Rache, nach der sie mehr als dreizehn Jahre gedürstet hatte. Ihre Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück und ergötzten sich an ihrem Glanz. Im Gegensatz zu ihr hatte Mevary die Brauen gerunzelt und die Augen zusammengekniffen. Schweiß glitzerte auf seiner Stirn. Und zwar nicht, weü er so nahe bei dem zischenden Feuer stand. Etwas in ihm versuchte, ihn zu warnen, aber seine Handlungen und seine Gier hatten sich seinem Einfluß entzogen. Es war zu spät zur Umkehr. »Komm«, sagte sie. »Das Schiff.« Gerris’ dunkelhaarige Tochter trat aus dem Kreis der Hexen heraus und ging voran zu dem altersschwachen Schiff. Die alten Frauen folgten ihr, und jetzt war es noch schwieriger, ihre genaue Anzahl zu erkennen, weil immer mehr aus den Höhlen kamen, um sich der Prozession anzuschließen. Die Fackeln zischten und qualmten. Mit fast obszön anmutender Kraft schob die Versammlung alter Vetteln das Schiff ins Wasser, wankte an Bord und nahm die Ruder auf. Der Anblick war lächerlich und furchteinflößend zugleich. Mevary kam als letzter an Deck. Ächzend und schwankend, ein Gebilde aus zerfressenem Holz, Feuer und unbegreiflichen alten Kräften, bewegte sich das Schiff auf den See hinaus, während die ebenso alte Mannschaft wild die Ruder bewegte. Mevary stand wie angewachsen am Heck, das schmale Schwert immer noch in der Hand. Tabbit hatte sich langsam zum Bug begeben, wo sie schweigend auf den Altar und die Steinwerkzeuge blickte. Das Schwert in der Hand des Mannes blinkte ungesehen, unbeachtet in ihrem -372- Rücken. Ihre grausame n, seelenlosen Augen, die diese Welt schon seit Äonen beobachtet zu haben schienen, glitzerten. Es war nicht das Licht einer Geburt, aber einer Auferstehung. Dich neben ihr begann Valia mit dem leisen und mitleidlosen Opfergesang. Diese geheimnisvollen Worte, wie das unverständliche›Oe‹, hatten längst jede eigene Bedeutung verloren. Nur das Wesentliche blieb, und das, wenn man darum wußte, war erschreckend genug. Valia, die die Worte sprach und ihren Sinn kannte, war in eine ruhige, religiöse Entrücktheit verfallen. Ihre Stimmung hätte sich beträchtlich verändert, hätte sie gewußt, daß irgendwo, hoch über ihr, ihre blonde Cousine bei dem Licht von zwei Kerzen eine Botschaft las, nicht glauben konnte und wieder las. Das knirschende und leckende Schiff hatte die Mitte der Grotte erreicht. Es begann ziellos zu treiben, aber die Ruder und die Arme der alten Weiber hielten es ungefähr an diesem Punkt. Zwei der Schwestern hatten allerdings ihren Platz verlassen und schöpften das eingedrungene Wasser aus. Die Höhlenwände wölbten sich über ihnen wie eine Kuppel und verbreiteten ihr mattes, auf einzelne Stellen begrenztes, ewig gleiches Licht. Tabbit hob ihren mit Gold und Perlen gedeckten Kopf. »Also«, sagte Mevary scharf. »Zur Sache, Großmutter.« »Schhh«, erwiderte Tabbit, beinahe zärtlich. »Bald wirst du bekommen, was die Göttin dir zugedacht hat. Bald. Du darfst die Anrufung nicht unterbrechen. Die Worte müssen gesprochen werden. Die Hörner geblasen. Die Lieder gesungen.« Mevary bewegte sich mit verächtlicher Geschmeidigkeit über das schwankende Deck. Die rudernden Hexen schauten zu ihm auf, als er vorbeiging. Valias Stimme murmelte weiter und weiter. »Wie wollt ihr es anfangen?« erkundigte sich Mevary bei Tabbit, hinter der er jetzt stand, spottend und schwitzend. »Du -373- hast mir von einer Höhle unterhalb der Wasserlinie erzählt. Benutzt ihr einen Magnet? Oder eine Angelrute? Oder wollt ihr den Schatz mit einem Zauberspruch heben?« »Schhh. Du wirst es sehen.« »Nichts da mit Schhh.« Er hob sein Schwert und rieb damit über ihren knochigen Arm. »Ich bin hier der Herr. Vergiß es nicht.« »Nein. Sie ist die Herrin. Die Göttin – Gottkönigin -, die wir verehren und der wir gehorchen.« »Verflucht sei -« Mevary verstummte abrupt. Eine der schöpfenden Hexen hatte ihre Arbeit im Stich gelassen, war hinter ihn getreten und griff plötzlich nach seinem Arm. Der Griff war überraschend kräftig für ein so altes und dürres Geschöpf. »Es ist alles wirklich sehr unterhaltsam«, bemerkte eine junge Stimme, die nicht nur melodisch, sondern überdies eindeutig männlich klang. »Wie auch immer, jeder Spaß muß ein Ende haben.« Mevarys Schwertarm sank herab. Er wirbelte herum, und niemand hinderte ihn daran. Tabbit drehte sich gleichfalls um und auch Valia, deren letzte Worte verklangen, ohne von anderen gefolgt zu werden. Die vormals wasserschöpfende Hexe ließ zuvorkommenderweise ihr graues Gewand fallen. Zum Vorschein kam eine strahlende Gestalt, unter einem flammendorangefarbenen Haarschopf. Es war nicht das erste Mal, daß Cyrion die Kleider von Toten genommen hatte, um sich zu verkleiden, allerdings hatte er sie nicht immer abgenagten Knochen in unterirdischen Gängen ausgezogen. Mevary, der in mancher Hinsicht ein Dummkopf war, verfügte doch über die schnelle Auffassungsgabe derer, die langer Gedankengänge nicht fähig sind. -374- »Roilants Beauftragter«, rief er. »Roilants Beauftragter«, gab Cyrion ihm recht. »Und Ihr seid natürlich Mevary. Und Ihr«, mit einer Verbeugung in Tabbits Richtung, »die zauberkundige Kinderfrau Tabbit.« Die kühlen Augen richteten sich auf das Sklavenmädchen Jhanna. »Und Ihr müßt die Lady Valia sein. Ich bin so froh, Euch wohlauf zu sehen.« Valia hielt den Atem an. Ohne den Blick von ihm zu wenden, sagte sie: »Er muß gleichfalls sterben, Oe-Tabbit.« Tabbits Lippen bewegten sich, aber sie brachte keinen Ton heraus. So klar und deutlich hatte ihr Ziel vor ihr gelegen, und jetzt das. Die klare Ordnung ihres Willens wurde von diesem Durcheinander in Aufruhr gebracht. »Wußtet Ihr, daß man Euch hier hergebracht hat, um zu sterben, Mevary?« fragte Cyrion. »Nein? Aber es ist so. Ein Imbiß für die Göttin, die auf ihren wäßrigen Lippen zu gerne das Blut junger Männer spürt. Aber Ihr wart in dem Glauben, sie würden für Euch den Goldschatz der Remusaner heraufholen. Nichts anderes hätte Euch dazu bringen können, an so etwas teilzunehmen.« Cyrion lächelte Valia an, dann Tabbit, wieder Valia. »Kann ich es ihm noch erklären? Gewährt die Göttin mir so viel Zeit?« Niemand sprach. Die Schwestern an den Rudern verrenkten sich die Hälse, waren aber gleich ihrer Anführerin im Dschungel des Unvorhergesehenen gefangen. »Meiner Ansicht nach hat es sich folgendermaßen abgespielt«, erklärte Cyrion, wobei seine Blicke zwischen Mevary, Tabbit und Valia hin und her wanderten, »vor Hunderten von Jahren entfernte sich ein Trupp Soldaten von ihrer Einheit, nachdem sie diese um eine bestimmte Menge Goldes erleichtert hatten. Dann stahlen sie ein kleines Schiff und takelten es, da sie kein Segeltuch hatten, mit ihren aneinandergenähten Umhängen. Es ist nicht mehr viel davon übrig, aber das ist das Rot der remusanischen Legionen, wenn -375- auch stark verblaßt und fleckig vor Ruß. Entweder kannten die Männer diese Grotte oder entdeckten sie durch Zufall und beschlossen, ihre Beute hier zu verstecken, bis Gras über die Sache gewachsen war. Aber dabei wurden sie von den damaligen Mitgliedern dieser eifrigen Schwesternschaft überrascht und getötet. Das muß ein vergnü glicher Abend gewesen sein, Tabbit, nicht wahr? Vielleicht ist Euch aufgefallen«, sagte Cyrion im Gesprächston zu Meva ry, »daß die Höhlenwände hier und da ein eigenartiges Leuchten verströmen. Es rührt zu einem Teil von den Pilzkulturen her, die diese reizenden Damen angelegt haben, um ihre wenig angenehmen Mittelchen und Gifte zu brauen. Aber es hat noch eine andere Ursache. An manchen Stellen sind Menschenknochen an den Wänden befestigt, eine beachtliche Menge, und daher rührt der aparte Schimmer. Das Gold der toten Legionäre«, fuhr Cyrion fort, »wurde als zusätzliche Weihegabe in diesem See versenkt. Es dürfte unmöglich sein, es wieder herauszuholen. Gelegentlich wird mal ein Stück angeschwemmt, durch eine Laune der Wasserströmung. Was das Schiff betrifft, so eignet es sich ausgezeichnet für die Rituale. Es trägt die Diener der Göttin fröhlich auf ihren Busen hinaus. Also haben die Damen das Schiff behalten.« Mevary grinste. »Das ergibt durchaus einen Sinn«, sagte er. »Alles ein Trick, he?« Auch er blickte von Tabbit zu Valia, und sein Lächeln erinnerte an einen Wolf. »Und du hast mich angebetet, Cousinchen? Ich hatte gle ich so eine Ahnung, daß ich bei dir auf der Hut sein sollte. Aber ich hätte nie geglaubt, daß wir einen so bösen Streit bekommen würden. Aber schließlich bist du verrückt, oder etwa nicht, mein Liebling?« Ohne Cyrion anzusehen, fügte Mevary hinzu: »Und du, Stellvertreter des geliebten Puddings. Wenn du das herausgefunden hast, weißt du doch bestimmt auch alles andere? Obwohl ich dich begraben ließ, war ich an deinem Tod so unschuldig wie ein Engel.« -376- »Ich weiß, daß Ihr keinen Mord begangen habt«, sagte Cyrion. »Dann kannst du mir wieder zu einem guten Platz in Puddings Adreßbuch verhelfen, und wir -« Mevary brach ab. Valia, die sie beide beobachteten, hatte ihre Haltung verändert. Sie hatte eine Steinschüssel und ein Feuersteinmesser vom Altar genommen. In jeder Hand einen dieser Gegenstände, näherte sie sich mit langsamen, gleitenden Schritten ihrem Cousin. Mevary lachte. Es war ein Lachen aufrichtiger Geringschätzung. Gleichzeitig verkürzte er seinen Griff an dem Schwert. Er war für sie bereit. »Und du«, meinte er, »glaubst du wirklich, du kannst gegen mich etwas ausrichten? Ich werde dir eine Tracht Prügel verabreichen, Liebste. Mit Stahl, wenn du Wert darauf legst. Noch einen Schritt und dir springt der Kopf von den Schultern. Glaub mir, mein Häschen. Ich kann es tun. Ich werde es tun.« Valia blieb stehen. Sie starrte ihn an. In dem Schatten ihrer Kapuze leuchteten ihre hellen Augen beinahe weiß. Sie waren voller Lust. Er, der Jüngling, den sie aus ihren Verstecken beobachtet hatte, der Gegenstand ihrer pubertären Träume, die erste und letzte Regung fleischlicher Begierde, die sie ausmerzen mußte. Valia ließ sich nicht gerne beherrschen. Tabbit beherrschte sie nicht. Die Göttin nicht. Mevary, der für die geschlechtliche Lust stand, der sie abgeschworen hatte, hatte sie nie beherrscht und würde es auch nie. Hätte sie die Hand mit dem Messer bewegt, hätte er sie augenblicklich mit dem Schwert angegriffen. Aber sie bewegte die andere Hand, in der sie die Steinschale hielt. Sie schleuderte den schweren Gegenstand in seine Richtung, und eine schwarze Flüssigkeit flog in seine Augen. Es war die Tinte, die eigentlich dazu bestimmt gewesen war, ihn für das Ritual vorzubereiten, und sie blendete ihn. -377- Instinkt ist nicht in jedem Fall ein Verbündeter. In diesem Fall veranlaßte der Instinkt Mevary dazu, die Hände zu heben, um seine Augen zu schützen. Sein Schwert kam aus der Richtung. Und Valia, die sich darunter hinwegduckte, stieß das Feuersteinmesser bis zu einem Drittel in seine Brust. Dann ließ sie die Schale fallen und rammte ihm die Klinge bis zum Griff zwischen die Rippen. Nach der Ordnung durchgeführt, hätte das Opfer wohl anders ausgesehen. Aber das Herz zu treffen war einfach. Kaum jemand wußte nicht, wo es lag. Mevary, der stolze Aristokrat, der brutale Liebhaber, der Parasit, Fechter, Schläger, Spieler und Modegeck, fiel auf den Rücken. Zwischen dem Bug und den Reihen der rudernden Hexen war gerade so viel Platz, daß er sich ausstrecken konnte, während ihre aufmerksamen grauen Gesichter sich über ihn beugten. Auch Valia blickte aufmerksam erst auf den Mann, den sie getötet hatte, dann auf den anderen, der gleich hinter ihm stand. Cyrion hatte sich nicht bewegt. Das war aufschlußreich, für jeden, der ihn kannte. Seine unglaubliche Schnelligkeit, sein Reaktionsvermögen, gehörten zu der Legende, die sich um ihn gebildet hatte. Und dennoch war er nicht schnell genug gewesen, um Mevary von Beucelair vor einem Schicksal zu retten, das er ohne große Mühe hatte voraussehen können. Valias Gesicht war von wissender Ausdruckslosigkeit. Und Cyrion beglückte sie mit dem strahlendsten aller nichtssagenden Lächeln. Dann, schnell wie ein Blitz, sprang Valia an die Reling und darüber hinweg, tauchte in die im Fackelschein golden schimmernde Wasseroberfläche und in die dunklen Tiefen darunter. Die Hexen an den Rudern schrieen auf, es war ein dünnes, klagendes Geräusch. Verwirrung machte sich breit. Cyrion hatte keinen Blick für sie und nur einen ganz kurzen -378- für den Teich, in den das Mädchen sich geworfen hatte. Daß sie darin schwimmen gelernt hatte, bezweifelte er nicht; es war eine Herausforderung, der sie bestimmt nicht ausgewichen war. Nach diesem kurzen Blick trat er einen Schritt beiseite und entging damit dem zweiten Messer, das Tabbit nach ihm warf. Es rutschte hinter ihm über die Holzplanken, und sie zog die Lippen von dem dahinterliegenden Abgrund und fauchte ihn an. »Das Ritual ist entweiht«, zischte sie. »Aber du bist noch da. Du, den ich im Feuer sah, weißhaarig, mit weißerem Haar als ich.« »Mein Haar«, vertraute Cyrion ihr an, »hatte einst die Farbe von Butterblumen. Furchtbare Schicksalsschläge färbten es weiß, als ich ein Knabe von siebzehn Jahren war. Eine Tatsache, die nicht allgemein bekannt ist. Ich hoffe auf Eure Diskretion.« Tabbit warf die Arme in die Luft. Es waren grausame Arme, mit grausamen Händen; ihre ganze Haltung drückte Erbarmungslosigkeit aus. »Laßt die Ruder, meine Schwestern«, rief Tabbit. »Und ergreift ihn.« Es zappelte und raschelte, als die Armee alter Frauen von ihren Bänken aufsprang und nach ihm griff, mit Armen und Händen, die so grausam und blutdurstig waren wie die Tabbits. »Er«, sagte sie, »soll unsere Göttin mit seinem langsamen und blutigen Sterben erfreuen.« »Zu meinem größten Bedauern muß ich ablehnen«, meinte Cyrion. In einer Sekunde stand er zwischen der Priesterin und ihrem Gefolge, in der nächsten schon an der Reling. Im Sprung riß er eine der Fackeln aus der Halterung und ließ sie in den Ölkrug fallen. Mit makelloser Perfektion, die niemand zu würdigen wußte, zerteilte er das Wasser und zwei Atemzüge später explodierte -379- der Krug. Valias dunkler Kopf mußte seit langem wieder aufgetaucht sein. Cyrion, der aus der düsteren Tiefe aufstieg, machte sich nicht die Mühe, danach Ausschau zu halten. Obwohl die Beleuchtung inzwischen sehr viel besser geworden war. Auch kümmerte er sich nicht darum, was hinter ihm vor sich ging. Dadurch entgingen ihm die Schreie, der Qualm, die Feuersbrunst, der Zusammenbruch des faulenden, zu blutigen Zwecken mißbrauchten Schiffes unter dem Schleier seines brennenden Segels. Noch genoß er den Anblick der Schwesternschaft, die wie ein Bündel heulender Stöcke ins Wasser stürzte. Höchstwahrscheinlich konnten die meisten von ihnen schwimmen. Manche auch nicht. Alle waren sie alt, alle versengt. Wenn sie auch in ihrer verrückten Frömmigkeit die Ruder eines Schiffes handhaben konnten, waren sie doch denkbar schlecht für einen unerwarteten Sprung in eiskaltes Wasser ausgerüstet. Und noch weniger imstande, ihre gebrechlichen Leiber, die sich so lange nicht mehr an dem Anblick dunkelroten Männerblutes genährt hatten, zu einem der glitschigen, felsigen, abweisenden Uferstreifen zu quälen. Einige starben sofort. Andere, mit der zusätzlichen Last ihrer kreischenden, des Schwimmens unkundigen Schwestern beladen, kämpften sich durch die Fluten und gingen unter. Trotzdem konnte man annehmen, daß einige das Ufer erreichten. Cyrion hielt sich nicht damit auf, als er selbst festen Boden unter den Füllen hatte. Der Glanz des sterbenden Schiffes war schon beinahe erloschen, als er durch einen der Gänge zwischen den einzelnen Höhlen lief. Als er auf dem Felsvorsprung weiter oben herauskam, schwammen nur noch einige brennende Ölflecken auf der Wasseroberfläche. Allerdings hatte es genug Lärm gegeben, daß ihm ein bestimmtes Geräusch entgangen war. Erst als er den Balkon über den Höhlen erreichte, entdeckte er den herabgestürzten -380- Käfig inmitten eines Gewirrs abgeschnittener Taue. Valia hatte ihr Bestes getan, um eine Verfolgung unmöglich zu machen. Cyrion hielt sich bei dem Wrack nicht auf. Er sprang darüber hinweg und lief auf dem Felsband entlang. In der Dunkelheit des überdachten Ganges blieb Valia stehen, lehnte sich gegen den Brunnen, um Atem zu schöpfen, und lachte boshaft. Trotz der Einmischung des Fremden hatte sie ihr Ziel erreicht. Was mit dem Schiff geschehen war, wußte sie nicht genau, obwohl sie einmal zurückgeblickt und das Feuer gesehen hatte. Offensichtlich hatte es einen Kampf gegeben. Und Tabbit – was war aus Tabbit geworden? Bei dem Gedanken, daß Tabbit vielleicht verbrannt war, spürte Valia eine schreckliche Erleichterung, als wäre ihr ein Bleigewicht von der Seele gefallen. Und gleichzeitig mit der Erleichterung kam das Gefühl eines unersetzlichen Verlustes. Und gleichzeitig mit dem Verlust ein unerlaubtes Entzücken. Und gleichzeitig mit dem Entzücken… Valia schüttelte sich und rief sich selbst zur Ordnung. Obwohl sie dafür gesorgt hatte, daß der schlaue Fremdling für immer dort unten gefangen war, mußte sie jetzt an die Zukunft denken. Roilants Tod mußte noch vollbracht werden, bevor die Nacht vorüber war. Und dann ihr eigener Weggang, eingehüllt nur in ihre Lumpen und ihre Macht. Was sie Mevary getan hatte, würde sie in ruhiger Abgeschlossenheit genießen, wie es ihre Gewohnheit war. Und dann würde sie auch die Tränen der dem Wahnsinn verwandten Freude vergießen, wie sie es vorher schon getan hatte. Es tat ihr nur leid, daß sein Tod so rasch gekommen war. Aber immerhin. Bestimmt konnte sie noch ein Weilchen bleiben, um Roilants Ableben zu beobachten. Und in Cassireia, oder wo immer Eliset hingerichtet werden würde, konnte Valia da nicht eine unter vielen Zuschauern sein? Mit der ganzen Blindheit ihres von Scheuklappen begrenzten Verstandes übersah sie ein Dutzend Fehler in ihren Plänen. Und die sie erkannte, hielt sie nicht für so wichtig, womit sie letztlich -381- recht hatte. Der schwache Lichtschimmer, den sie entdeckte, beunruhigte sie. Sie hielt ihn für ein Anzeichen der Morgendämmerung. Dann nahm der Schimmer Gestalt an. Er zog sich um einen Schatten zusammen, drang in diesen Schatten ein, und der Schatten bewegte sich auf sie zu. Ohne irgendeine sichtbare Lichtquelle war er doch sehr gut zu erkennen, als leuchtete er von innen heraus. Ein Mann in mittleren Jahren, mit rotbraunem Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war, und dem Gesicht Mevarys – nur zwanzig Jahre älter und vierzig Jahre verderbter. Valia begann zu frieren. Nicht wegen der Kälte der Nacht, dem eisigen Bad in der Grotte. Es war die Kälte des Entsetzens. Trotzdem tasteten ihre tauben Hände in ihrem Gewand nach dem gravierten grünen Stein, dem Amulett, das Tabbit ihr gegeben hatte, damit sie sich vor dieser Erscheinung schützen konnte – die einmal Valias Onkel gewesen war, Mevary, Mevarys Vater. Der liebe Anverwandte, den sie in dem Heißwasserbecken ertränkt hatte. Niemals war sie so wenig vorbereitet gewesen, ihm entgege nzutreten, niemals so weit weg von den Schutzzaubern, die den Geist daran gehindert hatten, sich ihr zu nähern. Aber der grüne Stein hatte Macht. Sie hatte gesehen, wie er die Teufel abschreckte, die Tabbit ein- oder zweimal beschworen hatte. Warum konnte sie ihrer Furcht nicht Herr werden? »Dämon oder Geist«, zischte sie und hielt den Stein vor sich, »löse dich auf oder hebe dich hinweg. Ich befehle es dir bei der Macht dieses Steines.« Es gab eine kleine Schwierigkeit. Die Wirkung all der Schutzzauber und des Steines – wenn es jemals eine gegeben hatte – stammte von Tabbit. Und aller Wahrscheinlichkeit nach war Tabbit jetzt tot. Obwohl er sich langsam bewegte, erreichte der Geist Valias -382- regungslose Gestalt. In seinem Gesicht zeigte sich keine Freude, keine Wut. Er packte sie nur und zog sie zu sich heran. Und wenn er auch körperlos war, konnte sie sich doch nicht gegen seine Umarmung wehren. Die furchtbare Kälte der Angst wurde ausgelöscht von der Kälte und Starre, in die der Untote sie hüllte. Der Schrei, den sie ausstoßen wollte, erstarb. Ihr Körper wurde kraftlos, schien zu schweben, alles Bewußtsein zu verlieren. Nur ihr Gehirn lebte weiter. Mit einem leisen Knacken fiel der Talisman zu Boden und zerbrach in zwei Teile. In dem Badehaus, im Zwielicht des dämmernden Morgens traf Cyrion noch einmal auf Valia. Sein Weg an die Erdoberfläche war einfach gewesen. Er war zu der Stelle zurückgekehrt, an der er das Seil verborgen hatte, und war in Gerris’ unruhiges Grab zurückgeklettert. Der Eisenhaken begann tatsächlich, sich zu lösen, aber er hatte immerhin seinen Dienst getan. Cyrion sah sich gezwungen, Elisets Vater noch einmal von seinem Ruheplatz zu entfernen, legte ihn aber mit Ehrerbietung zurück, bevor er aus dem Grab stieg, dessen Deckel noch nicht wieder geschlossen worden war, wie Cyrion es auch am frühen Abend Eliset gegenüber erwähnt hatte. Sonst war alles noch so, wie er es verlassen hatte. Die betäubten Wachen und Roilant lagen in tiefem Schlaf. Und niemand war auf einem Pferde geflohen. Im Küchenhof gab es nur trockene Blätter. Harmul und Zimir waren anscheinend einer der vernünftigen Traditionen von Flor gefolgt und hatten sich davongemacht. Seine Suche führte ihn schließlich in das Badehaus. Und dort lag sie, Gerris’ zweite Tochter. Ihr Haar wirkte schwarz in dem Rest Wasser, der sich noch in dem Becken befand, und trieb ziellos umher wie eine Wolke Tinte. Und auch sie hatte jetzt keine Ziele mehr, als sie dort auf dem Gesicht lag, alle ihre Hoffnungen und Träume und all ihre -383- Zauberkraft waren für immer verloren. Zum zweiten Mal, und diesmal endgültig, war Valia ertrunken. Nachwort Im rosigen Licht des frühen Morgens trafen die Abgesandten des Statthalters von Cassireia ein. Nach einer ziemlich verworrenen und nicht eben liebenswürdigen Unterhaltung mit Roilant von Beucelair ritten sie wieder davon. Eine Stunde später, nach einer sogar noch weniger liebenswürdigen Unterhaltung, wurde aus Roilants angeworbenem Söldner sein Ex-Söldner, und auch er verließ Flor. Irgendwann gegen Mittag brachte Harmul, der von seinem Versteck auf einem Apfelbaum zurückgekommen war, einen leichten Imbiß in den Pavillon auf der Dachterrasse. Der Tag war sehr heiß; die Sonnenstrahlen bohrten sich wie Pfeile in abgeschabtes Holz, zerschlissene Seide und müdes Fleisch. Roilant, der von Kopfschmerzen und Übelkeit geplagt wurde, betrachtete das Essen mit Abscheu. »Ist es diesmal sicher, was meint Ihr?« »Ganz sicher«, beruhigte ihn Cyrion und machte sich über Brot und Käse her. »Auch der Wein?« »Auch der Wein.« »Ich hätte vorsichtiger sein sollen.« »Allerdings. Es hat mich überrascht, daß Ihr es nicht wart.« »Ich hatte mein Hauptaugenmerk auf Mevary gerichtet und – auf Eliset.« »Und jetzt wißt Ihr, daß Ihr Euch geirrt habt.« »Ich kann niemals – was muß sie von mir denken?« »Ihr solltet sie fragen.« »Dieser Bericht, den Ihr für mich geschrieben habt«, -384- murmelte Roilant. »Ihr glaubt, daß Eliset ihn gelesen hat?« »Oh, ich glaube schon. Um sich zu schützen, hat sie sich dumm gestellt und getan, als wüßte sie nicht, was hier vor sich ging. Aber sie ist weder unwissend noch dumm.« »Und Valia – diese Einzelheiten, die Ihr über ihr Leben und ihre Beweggründe berichtet habt. Wie in Gottes Namen seid Ihr darauf gekommen, daß Jhanna Valia war – und daß sie das auslösende Moment hinter all diesen Vorgängen war?« Cyrion trank einen Schluck Saft. Dann sagte er: »Ihre Stimme verriet sie sofort.« »Ihre Stimme?« »Sie war wunderschön und der Elisets sehr ähnlich. Nicht ungewöhnlich bei Schwestern, auc h wenn es nur Halbschwestern sind. Es gab auch noch andere Hinweise. Die ungewöhnliche Zusammenstellung von grauen Augen und olivfarbener Haut und der rote Schimmer in ihrem Haar, der mich sofort an Eure Familie erinnerte. Während für eine Sklavin, als die sie sich ausgab, ihr Benehmen einigermaßen hochfahrend war. Daß sie eine Mörderin war, wurde bei der Hochzeitsfeier offenbar. Vorher hatte sie mir bereits ein Mittel gegeben, mit dem ich mich vor Eliset schützen sollte. Ich untersuchte es und fand heraus, daß es sich lediglich um eine parfümierte Flüssigkeit handelte, die heftigen Brechdurchfall verursachte, aber sonst nichts. Jhanna war begierig darauf, Unheil zu stiften. Ihr Geschenk erwies sich aber doch als nützlich. Sie versuchte, mich mit einer entsprechend hergerichteten Rose in tiefen Schlaf zu versenken. Nachdem ich diese losgeworden war, benutzte ich das Mittel, um mein Zimmer zu parfümieren, damit nicht auffiel, daß ich die Falle entdeckt hatte. Dann kam das bewußte Abendessen. Selbst der ungeschickteste Mörder hätte mir nicht Gift serviert, das sich durch unübersehbare – und unappetitliche – Folgen als solches verrät. Ich kam zu dem Schluß, daß, wer -385- immer Euch aus dem Weg haben wollte, es darauf anlegte, daß der Mord nicht nur vermutet, sondern bewiesen wurde. Und wenn das so war, dann warum? Seht Dir«, sagte Cyrion, »die ganze Geschichte, wie Ihr sie damals erzählt habt, war von Anfang an zu flach. Gerüchte hängen sich wie Kletten an jedes Vorkommnis und geben ihnen vertraute Formen. Eine adoptierte Schwester verschwindet unter geheimnisvollen Umständen. Die ehelich geborene Schwester war neidisch und entledigte sich ihrer. Eine wenig begüterte Frau heiratet einen reichen Mann. Also muß sie es auf sein Vermögen abgesehen haben. Ich kam hierher in der Hoffnung, hinter diesen ewig gleichen Vermutungen etwas anderes zu finden. Und ich fand es.« »Aber darauf zu kommen, daß Valia noch lebte.« »Das vermutete ich von Anfang an. Während die Geschichte von im Meer wohnenden Sirenen, die Kinder entführten, m ir schon ganz aufschlußreich vorkam. Dann entdeckte ich, daß der Brunnen als eine Art Tür benutzt wurde. Zum Nachteil für Valias Gesundheit befand er sich ein wenig zu nahe beim Badehaus. Onkel Mevarys Geist war eindeutig auf der Suche nach jemandem. Ich hatte mich gefragt, nach wem.« Roilant erschauerte. »Ich will Euch den Geist glauben«, meinte er. »Ich habe sie in dem Wasserbecken liegen gesehen.« »Gerechtigkeit«, bemerkte Cyrion unbeeindruckt. »Immerhin hat sie ihn umgebracht, das solltet Ihr nicht vergessen. Ich glaube, daß ihr Wunsch, den Sohn zu töten, den Vater beflügelte. Ihr Erfolg in der Sache scheint dem Onkel die Macht gegeben zu haben, nun sie zu töten. Obwohl ich mich des Gefühls nicht erwehren kann, daß Vater und Sohn nicht eben mit überschwänglicher Liebe aneinander hingen. Vielleicht war es das frische Blut, das den alten Knaben anspornte.« Roilant nahm einen Schluck Wein, lauschte in sich hinein, ob er ihn bei sich behalten konnte, und seufzte dann erleichtert. »Und Ihr habt von Anfang an Elisets Unschuld erkannt! Hätte -386- ich nur so viel Vernunft bewiesen.« »Nicht von Anfang an. Aber nachdem ich den Eindruck gewonnen hatte, daß sie keine Närrin war, überraschte es mich, sie sagen zu hören, daß Ihr erst sterben dürftet, nachdem Ihr sie geheiratet hättet – und das, wo sie Euch ganz in der Nähe vermuten mußte, auf dem Weg zum Abendessen und erpicht auf jede Bemerkung über Eure Person. Hätte sie tatsächlich geplant, Euch zu ermorden, wäre sie vorsichtiger gewesen. Wie auch Mevary – eine andere Möglichkeit kommt in Anbetracht seines etwas beschränkten Denkvermögens nicht in Frage. Beide hätten sich nie auf das Glücksspiel eingelassen, daß Ihr diese Unterhaltung etwa belauschen und prompt nach Heruzala flüchten könntet. So wie ich Euch spielte, wart Ihr nur nach Flor gekommen, weil ihr Euch selbst eingeredet hattet, daß sie nichts Böses im Schilde führten. Die geringste Bedrohung hätte Eure Flucht zur Folge gehabt. Nein. Was sie bei diesem Gespräch beabsichtigte, war, Mevary an die regelmäßige Geldsumme zu erinnern, mit der er nach der Hochzeit rechnen konnte. Und er wollte sie zu der Hochzeit ermuntern. Womit bewiesen war, daß er ihr gege nüber nie erwähnt hatte, daß es noch eine andere Möglichkeit gab, zu Reichtum zu gelangen. Später gab es noch einen ähnlichen Vorfall, bei dem sie, wie ich glaube, Mevary davor warnte, irgend etwas gegen Euch zu unternehmen. Ihr war der Verdacht gekommen, daß etwas Außergewöhnliches im Gange war und sie wollte Euch retten, wenn es in ihrer Macht stand.« »Tatsächlich?« Roilant riß die Augen auf. Und wurde rot. »Ihr seht«, meinte Cyrion liebenswürdig, »wie einfach es für Euch ist, ihr zu trauen. Trotz all der Befürchtungen Eurer Jugendjahre.« »Vielleicht war es nur meine – meine beunruhigende, erwachende Zuneigung zu einer – Aber da war mein Vater. Warum hat er sie noch auf dem Totenbett verleumdet?« -387- »Auch er hatte die Gerüchte gehört. Wie die Person, die Euch später brieflich davon Mitteilung machte. Sie hatte Liebhaber gehabt. Sie betrieb Zauberei.« »Und sein Sturz vom Pferd?« »Ein Unfall. Es sei denn, er hatte Feinde bei Hofe, die an dem Tag in seiner Nähe waren.« »Er wurde für einen ausgezeichneten Reiter gehalten.« »Von sich selbst? Wie jeder andere Mensch konnte er sich irren. Warum nicht auch bei einem Pferd?« »Ja. Mein Vater war von der Art. Nicht, daß ich ihm etwas Schlechtes nachsagen will. Es lag in seiner Natur. Dann fiel nur mein Onkel Mevary einem Mord zum Opfer. Oder etwa nicht?« »Ich merke, daß Ihr lernt, in mir zu lesen wie in einem offenem Buch. Ich kann es nicht beschwören, aber ich glaube, daß auch Gerris vor seiner Zeit aus dem Weg geräumt wurde.« »Von Valia?« »Nein. Von dem reizenden Onkel Mevary höchstpersönlich. Er hatte es auf Flor abgesehen, da ihm von seinem eigenen Besitz nichts mehr geblieben war. Das war für ihn Grund genug. Wenn ich recht habe, machte ein zynisches Schicksal Valia zur Rächerin ihres gehaßten Vaters.« »Ich kann mich erinnern, wie er – mein Onkel Mevary – meine Hochzeit mit. Eliset hinauszögerte, nachdem er sich durch das Verlöbnis Vorteile gesichert hatte. So lange wie eben möglich wollte er der Herr auf Flor sein. Und über sie. Ein Ungeheuer. Wie auch sein Sohn. Ich kann für keinen der beiden Mevarys Trauer empfinden, weder für den Onkel noch für den Cousin. Obwohl mein Cousin Mevary den Tod nicht verdient hatte.« »Er hindert ihn aber daran, seiner Umgebung weiterhin Schaden zuzufügen.« Roilant runzelte die Stirn. »Außerdem gab es wohl keine -388- Möglichkeit, ihn zu retten.« Cyrion, der sein Mahl beendet hatte, stützte einen Ellenbogen auf den niedrigen Tisch. Er begegnete Roilants Blick mit zwei Augen, die so klar waren wie ein klarer See im Winter, nur sehr viel kälter. »Keine«, bestätigte Cyrion sanft. Die Mischung von überirdischer Unschuld und dämonischer Liebenswürdigkeit war niemals offener zutage getreten. Einen Augenblick lang war Roilant erschüttert. Fühlte sich beinahe abgestoßen. Dieser Mann, dem er sein Leben und Glück anvertraut hatte, was, in Gottes Namen, war er? »Sagt mir«, fragte Roilant, »sagt mir aufrichtig, was habt Ihr von dieser Sache gehabt?« Cyrion lächelte sein engelsgleiches Lächeln. »Das Vergnügen, Euch behilflich gewesen zu sein, mein Lieber. Plus der atemberaubenden Belohnung, die Ihr mir in die ausgestreckte Hand drücken werdet.« »Eine Belohnung, über deren Hö he Ihr nie mit mir gesprochen habt.« »Habe ich nicht? Ein betrübliches Versäumnis.« »Welches vermuten läßt, daß es Euch nicht kümmert, wie viel man Euch bezahlt oder ob man Euch überhaupt bezahlt. Was wiederum vermuten läßt -« »Die Erregung der Jagd ist Be lohnung genug?« Cyrion wirkte gelangweilt. »Wie schrecklich albern.« Roilant sprang auf. »Ich bin mit dem Statthalter verabredet. Valias Leichnam ist – ist für den Transport hergerichtet. Anschließend werde ich wahrscheinlich gleich nach Heruzala Weiterreisen. Hier hält mich nichts mehr. Natürlich werde ich mit Eliset korrespondieren und ihr Geld schicken. Die ganze Apanage, auf die sie seit langem Anrecht hatte.« »Solltet Ihr das ihr nicht persönlich sagen?« -389- »Ich glaube, ich habe genug getan. Ich habe ihr gesagt, daß Mevary in der Höhle getötet wurde und daß Valia – Eliset hat sich eingeschlossen. Sie kann nichts weiter als Verachtung für mich empfinden. Haß vielleicht. Ich hätte sie zur Frau haben können. Bei allem, was sie sagte, sprach sie die Wahrheit. Ja, kh weiß, daß sie Liebhaber hatte. Zum Teufel damit. Was stören sie mich. Aber trotzdem. Ich bin – oder ich war – einer Dame in Heruzala verbunden, die viel besser zu mir paßt, nachdem -« »Nachdem Ihr Euch selbst eingeredet habt, daß Ihr so wenig wert seid, daß nur eine schlichte und anspruchslose Frau Euch ertragen kann«, beendete Cyrion gnadenlos den Satz. Roilant wurde von einer, für ihn ungewöhnlichen, Wut übermannt. »Seid still!« schrie er. »Verdammt, was seid Dir? Eine Kreuzung zwischen Gänseblümchen und Rasierklinge? Eine Art Mischling aus Himmel und Hölle? Ihr habt meine Arbeit für mich getan. Alles andere geht Euch nichts mehr an.« »Eigentlich -« »Ruhe!« brüllte Roilant wieder. Hob den Weinkrug auf und warf ihn nach Cyrion. Der sich träge duckte. Der Krug zerschmetterte eine der fünf noch unbeschädigten Türen des Pavillons und riß sie aus den Angeln. Krachend fiel die Tür auf das Dach, und Elfenbein splitterte. Ohne ein weiteres Wort trat Roilant durch die neu geschaffene Öffnung und gab ihr damit einen Sinn. Am Rand der Dachterrasse bemerkte er: »Euren Lohn wird man Euch schicken.« »Oh?« sagte Cyrion. »Und wohin werdet Ihr ihn schicken?« »Zum›Olivenbaum‹. Also kehrt besser dorthin zurück.« Zehn Minuten später ritt Roilant, in der verständlichsten schlechten Laune seines Lebens, gefolgt von seinen Leibwächtern in Richtung Cassireia. -390- Unberührt von all diesen Vorgängen ging die verwilderte Landschaft um Flor nach einem geschäftigen Morgen in die dösende Stille des späten Nachmittags über. Innerhalb der dicken grünen Mauern der Obstgärten summten die Insekten, naschten überreichlich und fielen berauscht zu Boden, die Früchte gärten an den Asten und im Gras und verbreiteten ihre alkoholischen Dämpfe. Eliset, statt in ihrem Zimmer jetzt in diesem grünen Sonnenkeller aus Wachsen und Vergehen eingeschlossen, stand regungslos wie eine weiße Statue in dem lichten Schattenspiel der Blätter, atmend, schauend, als hätte sie nach hundertjährigem Schlaf das erste Mal wieder die Augen geöffnet. Ihr Haar schimmerte grüngolden, wo die Sonne darauf schien, und die weitgeöffneten Augen waren dunkel vor Aufmerksamkeit. Sie trug das zerschlissene Kleid, in dem Cyrion sie zuerst gesehen hatte und dessen Saum jetzt von dem Saft der ze rquetschten Früchte fleckig war. Ob sie fröhlich war oder ernst oder traurig, war nicht erkennbar. Sie existierte ganz einfach nur und fügte sich damit nahtlos in die Stimmung des Ortes und dieser Stunde ein. Und als Cyrion, ohne ein Geräusch zu verursachen, durch eine Lücke zwischen den Bäumen vor sie trat, machte sie keine Bewegung, weder auf ihn zu, noch von ihm weg oder sonst wie. »Ihr bietet«, sagte er leise, »einen sehr fesselnden Anblick. Es bedarf jetzt nur hoch eines heidnischen Gottes, der sich zu Euch gesellt, um das Bild vollkommen zu machen.« »Ein heidnischer Gott«, meinte sie nachdenklich. »Er hat sich bereits zu mir gesellt.« Er sagte: »Roilant ist nach Cassireia aufgebrochen.« »Ich weiß. Wie es scheint, muß ich jetzt doch Trauer vortäuschen. Mevary und Valia. Theater, sonst nichts. Ich traure nicht. Außerdem wird die ganze Angelegenheit vertuscht -391- werden.« »Zweifellos. Selbst Harmul wurde bestochen und weggeschickt. Zimir und Dassin würde es genauso ergehen, wenn man sie finden könnte.« »Und so werde ich endlich frei sein, mein Leben allein zu leben – umgeben von Verfall. Ihr müßt wissen, ich war gezwungen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Ich liebe Flor, aber Flor ist tot. Ich habe mich an einen Leichnam geklammert, in dem Glauben, daß ich ihn verlieren würde. Jetzt scheint es, daß ich dazu verdammt bin, ihn zu behalten. Ja, hier ist Schönheit. Und auch meine Vergangenheit. Vielleicht kann ich zufrieden sein. Aber auf diesem Boden haben zu viele Kämpfe stattgefunden. Alles, was ich an Schönem sehe, erinnert mich an etwas anderes, Bitteres.« Cyrion schwieg. »Ich kann mir vorstellen«, fuhr sie fort, »daß Ihr, Geschöpf der Tat, das Ihr seid, mich verachtet. Mein großer Fehler ist gewesen, daß ich mit Absicht vor allem, was hier vor sich ging, die Augen verschlossen habe. Es schien die einzige Möglichkeit, um überleben zu können. Mit allem einverstanden zu sein. Zu schmeicheln, zu loben, alles zu tun, was man mir befahl – sogar bei einem verbrecherischen Begräbnis zu helfen. Ach, mein blindes Vertrauen. Ich glaubte fest daran, daß der Alptraum vorübergehen würde, wenn ich ihn einfach nicht zur Kenntnis nahm. Jetzt ist er vorbei. Und jetzt ist mir – sehr wenig geblieben. Nun, ich werde hier umgehen. Mit den Geistern.« »An die Ihr glaubt?« »Ich glaube, daß es hier Geister gibt. Oh, nicht die, an die zu glauben ich vorgab. Das Getümmel hielt ich für Orgien, die Mevary und Jhanna – Valia – miteinander feierten. Ich fürchtete auch irgendwelche abscheulichen magischen Rituale und versteckte mich, natürlich. Als Ihr von den Träumen gesprochen habt, die Euch – die Roilant – veranlaßten, hier herzukommen… -392- Ich fragte mich, ob sie sie Euch gesandt hatte, auf Mevarys Anweisung. Ihr seht, ich glaube nicht an Zauberei, aber an die Macht eines entschlossenen, bösen Gehirns, daran glaube ich, und sie, Jhanna, Valia – sie fürchtete ich von dem Augenblick an, da sie das Haus betrat. Seine Hure, wie auch ich es war, nachdem er mich dazu gemacht hatte, bediente mich, versuchte, sich in mein Vertrauen einzuschleichen, meine Schwächen herauszufinden. Ich gab ihr nicht nach. Aber sie war wie ein kalter Wind in meinem Rücken.« Eliset schwieg einen Augenblick. Dann fuhr sie fort: »Da ist noch etwas, das mir Angst macht. Mein Vater. Ich las Euren Brief, wie Ihr es vorausgesehen hattet. Gerris wurde darin nicht erwähnt. Wurde er vergiftet?« »Es kann sein.« »Von meinem Onkel.« »Ihr habt Eure Frage selbst beantwortet. Auch ich glaube, daß er es war.« Langsam wandte sie sich von ihm ab. Schließlich sagte sie: »Als ich bei unserem fürchterlichen Hochzeitsessen Euren Becher nahm, schien Euch das zu beunruhigen. Glaubtet Ehr, ich würde mich vergiften?« »Es war möglich. Jemand hatte Gift in einen der Becher getan. Zu dem Zeitpunkt war ich mir nicht sicher, in welchen.« »Also wart Ihr inzwischen von meiner Unschuld überzeugt, nach unserem dramatischen Wortwechsel auf dem Marktplatz von Cassireia?« »Nicht ganz. Da war immer noch ein Teil dieses faszinierenden Puzzles übrig, das sich einfach nicht unterbringen ließ. Und das hatte mit Euch zu tun, Eliset. Ein Rätsel. Trotz Eurer offe nsichtlichen Unschuld hätte ich nicht schwören mögen, daß Ihr keine Zauberin seid.« »Und könnt Ihr es jetzt beschwören? Sollte ich zittern?« -393- »Ich sagte, ein Rätsel. Ich bin sicher, daß ich die Lösung gefunden habe.« »Und ich bin freigesprochen?« »Ihr seid freigesprochen. Außer, daß es vielleicht Auswirkungen auf Euer zukünftiges Leben haben wird.« Sie wartete. Ein Vogel sang zwischen den Blättern. Statt ihr von der Lösung des Rätsels zu erzählen, begann Cyrion über den Vogel zu sprechen, sein Lied, sein Gefieder, seine Wanderungen. Eliset lauschte verblüfft. Bald ging sie neben ihm durch das gärende Herz des Obstgartens. Er erzählte von den Blumen, an denen sie vorbeikamen, und als zwischen den Stämmen ein Stück der alten remusanischen Mauer zu sehen war, erzählte er ihr von den Remusanern. Seine Stimme, klangvoll und makellos, nahm sie völlig gefangen. Irgendwo tief drinnen wußte sie, daß sie nie mehr vergessen würde, daß der kleine Vogel im Winter nach Kyros und Askandris flog oder daß man die weiße Blume für ein Mittel gegen Schlaflosigkeit hielt oder daß ein Offizier der Remusaner, dem die Mittagshitze zusetzte, in die Mauer eines alten Gasthauses in Teboras die Worte geritzt hatte: Legionäre wurden hier gebraten. Aber dann sagte sie doch: »Das ist eine eigenartige Unterhaltung, die wir hier führen.« »Oh«, meinte er. »Ich bin der Ansicht, für einen oder zwei Tage hat es genug Blutvergießen und Gewalt gegeben. Abwechslung muß sein.« Sie ließen die Obstgärten hinter sich und traten auf den dürren Rasen unterha lb des Abhangs. Vor ihnen stieg der Boden an, bis zu der verdorrenden Buche, dem baufälligen Haus, dem schiefen Turm und dem dahinter verborgenen Meer, dessen zeitlose Schönheit den Verfall ringsherum gnadenlos betonte. -394- Eliset nahm das Bild in sich auf. »Meine Mitgift. Bedenkt nur. Wenn Ihr mich tatsächlich geheiratet hättet, würde all das Euch gehören.« »Und bedenkt Dir, welch unwürdigen Gatten Ihr Euch damit eingehandelt hättet.« »Ich hielt Euch für Roilant.« »Wirklich?« Sie sah ihm in die Augen. »Ihr wiß t, daß es so war.« »Ich glaubte es«, gab er zu. »Rückblickend bin ich mir nicht mehr so sicher. Aber diesmal kann ich weder auf Beweise noch auf Logik zurückgreifen.« Sie senkte die Augen. »Also gut. Da Ihr nichts fordert, werde ich es Euch umsonst geben. Ich spielte meine Rolle weiter und nahm nicht zur Kenntnis, was ich entdeckt hatte, wie ich auch alles andere nicht zur Kenntnis nahm, was mir gefährlich werden konnte. Vielleicht war es ein Spiel von Mevary. Oder von Roilant. Denn ich wußte, daß ich in Euch nicht Roilant vor mir hatte. Es war mehr, als nur eine Ahnung.« »Was hat mich verraten?« fragte er. Und dann, so leise, daß sie es kaum verstehen konnte: »Eliset?« Sie hob den Blick. Die Sonne verlieh ihren Augen jede Schattierung von Blau, die es auf der Welt gab. »Auf den Klippen«, sagte sie. »Euer Kuß hat Euch verraten.« »Weil Roilant Euch nicht geküßt haben würde?« »Weil es nicht der Kuß Roilants war.« »Und trotzdem habt Ihr mich geheiratet, einen Betrüger.« »Ich ahnte inzwischen, daß die Zeremonie nicht gültig sein würde. Obwohl ich Angst genug hatte, um Euch zu bitten, für diese Nacht nach Flor zurückzukehren.« »Ihr hattet nicht die Befürchtung, daß ich die Rechte eines Ehemannes geltend machen würde?« -395- Sie antwortete: »Davor hatte ich keine Angst. Wie Ihr wißt, gab es andere, die sich mir aufgezwungen haben.« »Und ich war lediglich noch einer.« »Einer, den ich selbst gewählt hätte, und mit Freuden.« Was sie sagte, schien ihren Stolz und ihre Gelassenheit nicht zu beeinträchtigen, nur der heftige Pulsschlag an ihrem Hals ließ ihre Haut weiß aufleuchten, wie eine schwankende Blüte. Cyrions Hände, jetzt nicht mehr die eines Kriegers, sondern die eines Musikers, strichen leicht über ihre Haare, ihren Mund, ihre Stirn. Sie schloß die Augen, als seine Lippen den Händen folgten. Seine Arme umfingen sie, und einen Augenblick lang schwebte sie im Nichts, und dann vergaß sie alles außer dem Mann, der sie hielt. Vergas die Wärme der weit entfernten Sonne und den Gesang des kleinen Vogels, der im Winter in die Wüste flog. Entlang einer Straße in Heruzala, die wegen ihrer Nachbarschaft zu einem alten remusanischen Gefängnis Festungsstraße genannt wurde, stand eine Anzahl schöner Häuser, die jetzt allmählich verfielen. In dieser einst vornehmen Gegend sprachen hohe Mauern und feste, verriegelte Tore von vergangenem Reichtum. Eines der Häuser an der Festungsstraße hatte, zumindest für Roilant von Beucelair, eine besondere Bedeutung. Es war das Heim der Dame, von der er sich getrennt hatte, um sie vor der Zauberkraft Elisets zu schützen – oder, wie sich herausgestellt hatte, vor der Valias. Sehr früh an einem Sommermorgen wurde Roilants Dame von der Ankündigung, daß ein rothaariger Herr sie zu sprechen wünschte, in größte Verwirrung gestürzt. Ihre Verwirrung steigerte sich noch, als sie beim Betreten des Empfangsraums feststellen mußte, daß der Besucher nicht der war, den sie erwartet hatte. Cyrion verneigte sich höflich. -396- »Vergebt mir«, sagte er. »Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich mir die Gelegenheit, mit Euch zu sprechen, unter der Vorspiegelung falscher Tatsachen erschlichen habe.« Roilants Auserwählte gewann ihre Haltung zurück. Ihr nicht schönes, aber angenehmes Gesicht glättete sich. Sie sagte: »Eigentlich hätte ich wissen müssen, daß es nicht Roilant war. Sein Brief kündigte an, daß er gegen Mittag hier eintreffen werde. Daß er sich ein wenig verspätete, wäre möglich, aber zu dieser unschicklich frühen Stunde würde er nie bei mir vorsprechen. Auch meine Zofe neigt gewöhnlich nicht zu rätselhaften Scherzen. D sie mit den Augen rollte und etwas aß von einem rothaarigen Besucher quiekte, erschien mir einigermaßen ungewöhnlich, um nicht zu sagen unästhetisch.« Cyrion lächelte. »Ihr seid sehr liebenswürdig, trotz Eurer Enttäuschung. Denn ich weiß, wie groß Eure Enttäuschung sein muß, daß ich nicht Roilant bin.« Cyrion machte eine bedeutungsschwere Pause. »Ihr wißt natürlich, daß er beabsichtigt, um Eure Hand anzuha lten.« »Ich -«. Die Dame errötete. »Sein Brief schien mir so etwas anzudeuten. Seine Verlobung mit dem Fräulein Eliset -« »- scheint sich als wenig wünschenswert erwiesen zu haben. Ihr werdet mich doch nicht für voreilig halten, wenn ich Euch meinen Glückwunsch entbiete?« »Ganz – und gar nicht.« Auf dem Gesicht der Dame erschien ein Zug von Entschlossenheit. »Ganz besonders dann nicht, wenn Ihr mir erklärt, wer Ihr seid und weshalb Ihr mit nur sprechen wollt.« »Dazu kommen wir noch«, erwiderte Cyrion. »Aber geduldet Euch noch ein wenig.« »Weshalb, bitte sehr?« »Weil das, was ich zu sagen habe, Euch vielleicht von Nutzen -397- ist.« Roilants Auserwählte verschränkte die Hände und setzte sich. Nichts verriet ihre Unruhe, nur ihre Finger waren ein wenig zu fest ineinander verschlungen, als fürchtete sie, daß etwas zwischen ihnen hinausschlüpfen könnte. Oder hinein. »Nun?« »Nun«, sagte Cyrion. »Roilant wird Euch nicht damit beunruhigt haben, aber bevor er seinen – darf ich es sagen? – festen Entschluß aufgab, Euch um Eure Hand zu bitten und statt dessen Anstalten machte, seine ihm seit langen Jahren versprochene Cousine Eliset zu heiraten, geschahen einige merkwürdige Dinge. Es hatte den Anschein, daß die Fürstin Eliset ihn heimsuchte, um ihn an sein Versprechen zu erinnern. Diese Heimsuchung äußerte sich in Amuletten, die durch die Luft flogen, und getrockneten Blüten, die auf sein Kissen fielen.« »Vielleicht«, warf Roilants Auserwählte ein, »waren diese Vorfälle die Folge eines schlechten Gewissens, weil er sie verlassen hatte. Und deshalb quälen sie ihn vielleicht immer noch, oder nicht?« »Die Vorfälle waren eine Folge von Zauberkraft«, entgegnete Cyrion. »Bewirkt von einer sehr fähigen Hexe, die imstande war, Trugbilder zu erschaffen und toten Gegenständen Leben einzuhauchen. Ich will gerne zugeben, daß solche Macht mich beeindruckt.« »Ja«, meinte Roilants Auserwählte, »wenn Ihr an so etwas glaubt, soll es Euch wohl beeindrucken. Andererseits, wenn man die Existenz von Magie anerkennt, können die Andenken, die Eliset ihm schickte, sehr wohl ihr eigenes Leben entwickelt haben, um ihn zu strafen.« »Dann wußtet Ihr, daß das Amulett und die Blumen Andenken waren, die sie ihm geschickt hatte?« Roilants Auserwählte holte tief Atem. Wieder stieg ihr eine -398- feine Röte ins Gesicht. »Er erzählte mir, im Vertrauen, einiges von dem, was zwischen ihnen vorgegangen war. Und daß er diese Dinge erhalten hatte.« »Das Amulett also und die Blumen. Aber ein Paar billiger Handschuhe scheint nicht erwähnt worden zu sein. Sonst hättet Ihr sie nicht ausgelassen.« »Handschuhe? Nein, er sagte nichts von Handschuhen. Aber was geht mich das an? Oder Euch?« »Verratet mir«, sagte Cyrion, »wollt Ihr wirklich Euch und ihn zu einer unglücklichen Ehe verdammen, nur weil Euer Vater sich das in den Kopf gesetzt hat und Eure Zaubereien erfolglos blieben?« Roilants Auserwählte sprang auf. War sie bei seinem Eintreffen verwirrt gewesen, so war sie jetzt außer sich. Ihre Wangen glühten purpurrot, ihre verkrampften Hände waren weiß. »Was sagt Ihr da?« »Ihr wißt sehr gut, was ich sage.« Cyrion trat an ein Fenster und bewunderte den Blick auf einen verwilderten Rosengarten. »Ich weiß von nichts. Ich -« »Um es ganz offen zu sagen. Obwohl Ihr sehr sorgfältig vorgegangen seid, habt Ihr doch einiges übersehen. Erstens, selbst der wenig phantasievolle Roilant, der plötzlich Erscheinungen sah und sich wenig erfolgreich vor herumfliegenden Amuletten duckte, gab weder seinem schlechten Gewissen noch Gottes Zorn die Schuld, sondern ließ die Vorfälle untersuchen. Der Mann, den er damit beauftragte, versicherte ihm, daß Zauberei am Werke war. Da das nun geklärt war, mußte Roilant Eliset für die Zauberin halten. Ich bin sicher, daß Ihr niemals die Gerüchte gehört habt, die Eliset der Zauberei bezichtigten, und Roilant wird sich ritterlich -399- darüber ausgeschwiegen haben, oder Ihr hättet das berücksichtigt. Inzwischen hat Roilant herausgefunden, daß Eliset schuldlos ist, und verdächtigt eine andere Person. Aber ich hatte Gelegenheit, diese Person zu beobachten. Ihre magischen Fähigkeiten waren kaum der Rede wert. Ohne Unterstützung von Trunken und Giften war sie so gut wie machtlos. Obwo hl sie selbst vielleicht davon überzeugt war, daß sie das, was Roilant zugestoßen war, mit ihrer Willenskraft bewirkt hatte, war es nicht an dem. Und da ist noch etwas. Da bestimmte Gegenstände bei diesen geheimnisvollen Vorfällen eine Rolle spielten – Amulett, Blumen – muß man davon ausgehen, daß derjenige, der dafür verantwortlich war, davon wußte. Eliset wußte natürlich Bescheid. Sie hatte die Geschenke an Roilant geschickt. Aber Eliset war nicht die Zauberin. Während die zweite Person, von der ich sprach, kaum Bescheid gewußt haben dürfte. Eliset hatte weder zu der Frau, noch zu ihrem anderen Cousin, Mevary, genug Vertrauen, um ihnen irgendwelche Geheimnisse anzuvertrauen. Was mir außerdem auffiel, war das Aussehen der Eliset, die Roilant als Geist erschien. Sie war schlank und hatte goldenes Haar, aber kein Gesicht. Auch sprach sie kein Wort. Was sie zu sagen hatte, erschien als Flammenschrift in der Luft. All das lief auf ein Rätsel hinaus. Wer konnte über Elisets Haarfarbe und ihre kleinen Geschenke Bescheid wissen – ohne aber – verständlicherweise – solche Einzelheiten wie die Gesichtszüge und Stimme zu kennen, da er sie nie getroffen hatte?« Es gab eine kleine Unterbrechung, und Cyrion betrachtete rücksichtsvoll den Rosengarten, während hinter ihm eine Reihe von Protesten geäußert wurden. Dann schloß er: »Es tut mir leid, aber das sind die Tatsachen. Aber was ist der Grund? Es scheint, daß Ihr doch nicht den Wunsch habt, den unglücklichen Roilant zu heiraten. Sobald Euch klar wurde, aus welcher Richtung der Wind seiner Zuneigung wehte, trieb Euch der Schreck das Blut in die Wangen, wie auch jetzt. Was er bedauerlicherweise für -400- Zustimmung hielt. Daraufhin habt Ihr Eure beachtlichen Fähigkeiten dazu benutzt, seine Aufmerksamkeit von Euch ab- und auf seine langjährige Verlobte zurückzulenken. Ihr mußtet ihn nur an seine Pflichten gegenüber Eliset erinnern, und er würde Euch nicht mehr belästigen.« Roilants Auserwählte blieb der Mund offen stehen. Da das einen unvorteilhaften Eindruck machte, entschloß sie sich etwas zu sagen. »Wer seid Ihr?« »Ach ja. Mein Name ist Cyrion. Hilft Euch das weiter?« »Ihr – Ihr Schuft, Ungeheuer! Beschuldigt Ihr mich ungesetzlicher Handlungen?« »Eure magischen Fähigkeiten interessieren mich absolut nicht, nur in diesem besonderen Fall. Ihr könnt Schlangen aus König Malbans Ohren hervorzaubern und werdet nichts von mir hören, außer vielleicht einen gedämpften Applaus. Was Roilant betrifft, so sehe ich mich genötigt, ihn zu unterrichten. Allerdings gibt es noch eine andere Möglichkeit.« Roilants Auserwählte preßte die Lippen zusammen. Sie war blaß geworden. »Geld. Ihr wollt mich erpressen.« »Ich will eine unglückliche Ehe verhindern. Die andere Möglichkeit ist die, daß Ihr selbst Roilant zurückweist, wie Ihr es von Anfang an tun wolltet.« Sie fing an ihn zu beschimpfen, hörte aber bald wieder damit auf. Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, daß Streiten sinnlos war. »Ja«, sagte sie schließlich. »Ja, ja. Es ist, wie Ihr sagt. Roilant ist ein guter Mann, aber ich verspüre nicht die geringste Neigung, ihn zu heiraten. Oder sonst jemanden. Was ich mir mein ganzes Leben lang gewünscht habe, ist zu reisen, zu lernen – allein, ungehindert. Roilant will von mir, was er in mir zu -401- sehen glaubt: meines Vaters Tochter. Sittsam, gut erzogen, fröhlich, gehorsam. Das war ich für meinen Vater und werde es weiter sein, solange er lebt. Aber danach hoffe ich auf Freiheit. Die Freiheit, das zu tun, was ich und nicht mein Mann – Gatte, Vater – wollte. Oh, mein Vater besteht auf dieser Hochzeit. Wir sind nicht vermögend, wie wir es einst waren, obwohl es uns nicht schlecht geht. Aber er redet sich ein, daß er sich nach Luxus sehnt – der großen Anzahl von Dienern, deren Anwesenheit er zu vergessen pflegte und die er nie in Anspruch nahm, den kostbaren Gewändern, die er niemals trug. Seine Erinnerung gaukelt ihm vor, daß er nur damals glücklich war. Und wie das wieder erreichen? Nun, ein reicher Mann für sein Kind. Ich bin nicht hübsch und hoffte, verschont zu bleiben, aber wie sich herausstellte, war mir das nicht vergönnt. Roilant stolperte über etwas in mir, das ihm gefiel, obwohl er mich nicht liebte. Es war Eliset, die er liebte und immer noch liebt. Er sprach fortwährend von ihr.« Roilants Auserwählte, die nicht seine Auserwählte sein wollte, schüttelte den Kopf. »Armer Roilant. Ich mochte ihn sehr gern. Aber ist das ein Grund zum Heiraten? Ich mag meine Katze sehr gerne. Und meinen alten Lehrer. Soll ich sie heiraten? Warum«, rief die junge Frau in offensichtlicher Verzweiflung, »glaubt nur jeder, daß ein unscheinbares Mädchen sich dem ersten Mann an den Hals wirft, der sie haben will? Und ich war so in Bedrängnis. Mein Vater – oh, er drängte mich unaufhörlich, den Antrag anzunehmen. Also versuchte ich, Roilant durch Zauberei zu beeinflussen. Natürlich w es schändlich. Wie viele Vorwürfe ar ich mir gemacht habe! Aber da ich diese Künste studiert hatte und über ein wenig Talent verfügte – sehr wenig Talent… Auch drohte die Sache mir zu entgleiten – ich befürchte, daß das Amulett heiß wurde und ihn traf – während die Blüten ihn zu erschrecken schienen – es tat mir aufrichtig leid, in meiner Kristallkugel zu sehen, wie er sich quälte… Aber da ich wußte, daß er nicht mich wollte, sondern sie, fühlte ich mich auch -402- wieder gerechtfertigt; denn ich wollte, daß er schuldbewußt zu ihr zurückgehen und mit ihr glücklich werden sollte. Das war alles. Und ganz bestimmt hat er mir nie etwas erzählt, das mich auf den Gedanken gebracht hat, er könnte sie für eine Zauberin halten, die ihn verhexte. Er sagte nur, daß sein Vater auf dem Totenbett die Verbindung verboten hätte, weil sie arm war. Wie auch ich es bin. Aber es scheint, daß ich mich wie eine Närrin benommen habe. Was soll ich jetzt tun?« »Was ich Euch vorgeschlagen habe. Erklärt ihm, daß Ihr ihn nicht heiraten werdet. Von der Zauberei braucht Ihr nichts zu sagen. Wie ich bereits erwähnte, wurde eine andere Person dafür verantwortlich gemacht, aber es stört sie nicht.« »Er hat so viele Zurückweisungen erfahren. Und mein Vater wird jammern und klagen. Himmel! Muß ich es Roilant sagen?« »Ja. Denn Ihr wollt ihn nicht.« »Aber dieser Verdruß. Das wird Wochen dauern.« »Aber nicht ein Leben lang.« Cyrion hatte sich von dem Fenster und dem Garten abgewandt, obwohl ein beachtlicher Schutthaufen auf der Terrasse seine Aufmerksamkeit erregt hatte. »Ich nehme an«, meinte sie langsam, »mir bleibt keine andere Wahl.« »Nein.« »Und über das andere werdet Ihr Stillschweigen bewahren, wenn ich meinen Teil der Abmachung erfülle?« Cyrion überzeugte sie mit einem Lächeln, das strahlender und vertrauenerweckender nicht sein konnte. Sie berührte ihr Haar und ihr Kleid, als wollte sie sich nach einem anstrengenden Kampf vergewissern, daß noch alles in Ordnung war. Cyrion war schon auf dem Weg zur Tür. Aber er blieb noch einmal stehen. »Da ist noch eine abschließende Frage, die ich Euch stellen -403- möchte«, sagte er. Beunruhigt schaute sie ihn an. »Und welche wäre das?« »Als der Regen die Terrassenüberdachung zum Einsturz brachte, wart ihr da in der Nähe?« »Das Dach -«. Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« »Euer Vater, muß ich Euch sagen, hat den Vorfall anders geschildert. Er schrieb Roilant einen Brief des Inhalts, daß die herabstürzenden Ziegel Euch nur um Haaresbreite verfehlt hätten.« Die junge Frau lachte befreit auf. »Das hat er getan? Nun, Ihr Herr mit Namen Cyrion, als das Dach einstürzte, befand ich mich in der Bibliothek meiner Tante, drei Straßen weiter. Ich hörte nicht einmal den Lärm.« Die rosenrote Asche der untergehenden Sonne überpuderte die Dächer und den Hof des Gartenhauses›Der Olivenbaum‹. Eine rosenrote Katze spielte mit einem kleinen rosenroten Ball, in dem eine winzige Glocke klingelte und klapperte. Unter den dunkelroten Blättern der Ranken, die den Hof überschatteten, waren ein Mann und eine Frau in ein Gespräch vertieft. Ihr Haar erinnerte an golden glänzende Flammen, für den Sonnenglanz seines Haares gab es keine Worte. »Nein«, sagte sie. »Ich kann mich nicht länger von Träumen nähren. Du, wie alles andere, würdest verschwinden, sobald ich erwachte. Du bist nicht das, was ich brauc he, Cyrion. Mein ganzes Leben bestand aus Unsicherheit, dem Zusammenbruch von Mauern und Hoffnungen. Ich will nicht lieben und dadurch verwundet werden. Ich möchte – brauche – endlich Sicherheit. Und er ist ein freundlicher Mann, mit vielen guten Eigenscha ften, denen man nur Gelegenheit geben muß, sich zu entfalten.« »Und die Gelegenheit würdest du ihnen geben.« -404- »Ich würde es versuchen. Jedenfalls würde ich nicht entwürdigen oder beschmutzen, was er mir geben kann. Für einen Hafen, mit Ankerplatz – für Frieden – könnte ich ihm eine Art Liebe entgegenbringen. In gewissem Sinne tue ich das schon seit vielen Jahren.« »Und wirst du damit zufrieden sein, Eliset, mein Herz?« »Ja. Während ich niemals zufrieden sein könnte, würde ich es mir gestatten, dich zu lieben. Was einfach ist, ist auch oft dumm. Es wäre dumm, dich zu lieben.« Cyrion betrachtete sie in dem verblassenden rosenroten Licht. Er antwortete nicht. Also sagte sie: »Denn du würdest mich verlassen, Cyrion. Götter und Engel sind für ihre Unbeständigkeit und Treuelosigkeit bekannt. Du würdest mich verlassen.« »Ja«, erwiderte er mit seltsamer und unveränderlicher Zärtlichkeit, »ich würde dich verlassen.« »Dann liegen unsere Wege deutlich vor uns. Und es sind nicht dieselben.« Bald darauf erlosch der letzte Lichtschimmer, und es blieb dem Blau des Abends überlassen, allen Dingen neue Farbe zu geben; blauer Himmel, blaue Blätter, blaue spielende Katze. Als Roilant in den Hof trat (zur gleichen Zeit, wie der erste Stern, wenn auch weniger schön), schaute er sic h um und spürte nichts von der Ruhe und dem Frieden des Abends. Seine Gedanken waren bereits woanders. Da er eine Nachricht vorausgeschickt hatte, daß er herkommen würde, um Cyrion sein Geld zu übergeben, hatte er das Versprechen eingehalten, obwohl er keinen anderen Wunsch verspürte, als möglichst schnell zu seinen Besitzungen bei Heruzala zu reiten und sich gründlich zu betrinken. Denn Roilants Auserwählte hatte ihm einen Korb gegeben. Sie war reizend und taktvoll gewesen, aber eisern. Von allen Männern h ätte sie ihn erwählt, wäre die Ehe das, was sie erstrebte. Aber sie wollte nicht heiraten. Sie war -405- eine Gelehrte und glücklicher allein. Ihr niedergeschlagener Vater, der sich im Gang herumdrückte, hatte Roilants Bestürzung noch vergrößert, indem er die Entscheidung seiner Tochter bejammerte. Offe nsichtlich wußte er auch nicht, wie man sie umstimmen konnte. Aber Roilant wollte sie auch nicht umstimmen müssen. Er hatte geglaubt, daß sie ihn wollte Jetzt, mit dieser Bürde zerbrochener Hoffnungen auf der Seele, dem Stempel endgültigen Versagens auf der Stirn, trat Roilant in den Hof der Schenke, hielt nach Cyrion Ausschau und konnte ihn nicht finden. Daraufhin machte er sich mit einem lauten, unanständigen und völlig uncharakteristischen Fluch Luft. Auf den er peinlicherweise eine Antwort erhielt. »Er wird inzwischen die Straße nach Jebba erreicht haben und kaum anhalten, um das zu tun.« Roilant verschluckte seinen nächsten Atemzug und hustete. Als der Anfall vorbei war, näherte er sich vorsichtig der dunklen Laube, aus der die. Stimme erklungen war. »Eliset?« fragte er ungläubig. Dann gingen in dem Haus hinter ihm plötzlich die Lichter an und ein warmer Goldschimmer strömte an ihm vorbei und vertrieb die Schatten. In ihrem Herzen saß, eingerahmt von Lampenlicht und Haaren so gelb wie Narzissen, der Traum seiner Kindheit und Jugend und lächelte. Und die eine, die er immer gewollt hatte und von der er all die Jahre durch Lügner und Betrug und Böswilligkeit, durch Narren und Gerüchte und Selbstbetrug ferngehalten wo rden war, antwortete: »Ja, mein Freund. Ich bin dir gefolgt.« Und streckte ihm die Hand entgegen. -406-