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MAURICE RENARD

DER DOKTOR LERNE

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RGL e-Book Cover©


Ex Libris

Published by Hans von Weber, Munich, 1908

Originally published as Le docteur Lerne: sous-dieu
Mercure de France, Paris, 1908

Other French editions:
Editions G. Crès (ill. Joseph Hémard), Paris, 1908
Illustrated French edition, Paris, 1919
Editions Tallandier, Paris, 1958
Belfond Editions, Paris, coll. "Domaine fantastique" No. 3, 1970
Marabout, Verviers, coll. "Marabout Fantastique" No. 567, 1976
Éditions Robert Laffont, Paris, coll. "Maurice Renard,
Romans et contes fantastiques," 1990
Editions José Corti, Paris, 2010

This e-book edition: Roy Glashan's Library, 2023
Version Date: 2023-04-10

Produced by Roy Glashan

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"Der Doktor Lerne," Hans von Weber, Munich, 1908


INHALTSVERZEICHNIS


Das Präliminar

Solches begab sich an einem Winterabend, vor über einem Jahr. Es war nach dem Abschiedsdiner, das ich meinen Kameraden in der Avenue Victor Hugo, in jener kleinen Privatwohnung gab, die ich vollständig möbliert gemietet hatte.

Da diesen Domizilwechsel nichts anderes als meine Vagabundenlaune motivieren konnte, nahmen wir meinen nomadischen Einweihungsschmaus von unlängst an diesem selbigen Herd gleicherweise fidel da wieder auf, wo wir ihn ehedem verließen; und als die Stunde der Schnäpse und Witze geschlagen hatte, grub ein jeder von uns aus sich aus, womit er brillieren könnte, zuvörderst natürlich Gilbert, der Schlüpfrige, Marlotte, der Held der Paradoxa und Possenreißer der ganzen Bande, und Cardaillac, der ständige, angestellte Mystifizierer mit festem Gehalt.

Ich weiß nicht mehr sehr genau, wie's kam, daß nach einer Stunde Tabakqualmens irgendeiner das elektrische Licht löschte, den Dringlichkeitsantrag auf Tischrücken stellte und uns in der Finsternis um einen Nipptisch gruppierte. Und dieser Jemand — man merke sich's wohl — war nicht der Cardaillac. Aber vielleicht hatte ihn Cardaillac als seinen Helfershelfer gewonnen, wenn ja Cardaillac der Schuldige war. Wir waren also acht Mann stark, ziffernmäßig acht Ungläubige gegen eine Null von einem Nipptischchen, das einzig auf seinen Dreifuß rechnen konnte und das sich mit seiner runden Platte unter unsern sechzehn Händen bog, die sehr nach den Regeln des Okkultismus aufgelegt waren.

Jener Marlotte war's, der uns diese Regeln lehrte. Der war früher einmal eifrig auf Beschwörungen ausgewesen und, wenn auch nur als ziemlich ruchloser Laie, mit solchen tanzenden Möbeln vertraut; aber da er uns sonst unsern Gewohnheits-Hanskasper abgab, ließ sich jetzt jeder von uns bereitwilligst herbei, daß er als Autorität die Oberleitung der Seance an sich riß, und wir alle freuten uns im voraus auf einen Mordsspaß.

Cardaillac, der war mein Nachbar zur Rechten. Und ich hörte, wie er ein Lachen verschluckte und hustete.

Währenddessen rückte der Tisch.

Und Gilbert stellte eine Anfrage, und — maßlose Verblüffung Marlottes! — der Tisch antwortete. Antwortete mit trockenen Knarrlauten, so wie Holz, das sich verzieht, und genau nach dem esoterischen Alphabet.

Marlotte übersetzte mit einer Stimme, der nicht wenig von ihrer sonstigen Sicherheit abging.

Nun wollte ein jeder den Nipptisch befragen, der in seinen Repliken bedeutenden Scharfsinn aufwies. Ernst wurde es um die Sache; verzweifelte Gehirnarbeit hub an. Die Fragen drängten sich auf unsere Lippen, und die Antworten geschahen überaus prompt aus dem Fuß des Tischchens — ein wenig mehr meiner Seite zu, wie mir schien, und zu meiner Rechten.

— Wer wird in einem Jahr hier wohnen? kam nun der an die Reihe, der diese spiritistische Erlustigung angeregt hatte.

— Oho! Wenn du ihn über die Zukunft interviewst, schrie Marlotte, dann wirst du lauter Aufschneidereien zu hören kriegen — oder er schweigt dann gar vollends.

— Laß doch! mengte sich Cardaillac ein.

So fragte man auf ein neues:

— Wer wird in einem Jahr hier wohnen?

Der Tisch knarrte.

— Niemand, bedeutete der Interpret.

— Und in zwei Jahren?

— Nicolas Vermont.

Alle hörten den Namen zum allererstenmal.

— Was wird der zu dieser Stunde machen, das Jahr auf diesen Tag? ... Wir wollen doch einmal sehen, was er macht...

Antwort!

— Er beginnt ... hier auf mir zu schreiben ... seine Abenteuer hinzuschreiben.

— Vermagst du zu lesen, was er schreibt?

— Ja ... und auch, was er in der Folge schreiben wird, das eine wie das andere.

— So sag es uns an ... Nur den ersten Anfang, nur den...

— Müde. Alphabet ... zu umständlich. Gebt eine Schreibmaschine her, will es Daktylographen eingeben.

Ein Murmeln lief durchs Dunkel. Ich stand auf, holte meine Schreibmaschine und stellte sie auf den Nipptisch.

— Das ist eine Watson, sagte der Tisch. Mag ich nicht. Bin Französin, verlange französische Maschine, muß eine Durand haben.

— Eine ... Durand? machte mein Nachbar zur Linken höchlichst verwundert. Existiert denn eine solche Marke? Ich kenne keine.

— Ich auch nicht.

— So wie ich.

— Und ich.

Uns blutete das Herz über solchem Pech. Da kam die Stimme Cardaillacs deutlich und langsam einher:

— Ich benutze ausschließlich eine Durand. Wollt ihr? Soll ich sie holen?

— Wirst du schreiben können, ohne zu sehen?

— In einer Viertelstunde bin ich wieder da, sagte der. — Und ging, ohne uns zu antworten.

— Wenn Cardaillac sich dreinmischt, sagte ein Tischgenosse, dann gibt's was zu lachen.

Jedoch der neuaufflammende Lüster zeigte strengere Gesichter als gut war. Marlotte sogar war aschfahl.

Cardaillac kam nach einer winzigen Spanne Zeit zurück — man könnte sagen: erstaunlich winzig. — Er setzte sich an den Nipptisch vor seine Durand-Maschine, man machte wieder Nacht, aber unversehens erklärte die Platte:

— Die übrigen unnötig. Stell du bloß deine Füße auf die meinigen. Schreib.

Und man vernahm das Klimpern der Finger auf den Tasten.

— Seltsam! rief das Typewriter-Medium nun aus. Verflucht! ... Meine Hände gehen von ganz allein!...

— Pfff! So ein Schwindel... zischelte Marlotte.

— Wenn ich's euch schwöre!... ich schwör's euch zu... versetzte Cardaillac.

Wir verharrten eine ganze Weile und vernahmen nichts als das Geklapper dieses «Fernschreibers», das nur alle Augenblicke durch das Kling-kling am Ende einer Zeile und durch das Rack-lack des Schlittens unterbrochen wurde. Und alle fünf Minuten ein vollgeschriebenes Blatt. Wir beschlossen, in den Salon hinüberzugehen und da eins ums andere laut zu lesen, so wie sie Gilbert mir von Cardaillac überbrachte.

Blatt 79 dechiffrierten wir ums Morgenlicht, in dem Augenblick, als die Maschine stillstand.

Aber was die Durand uns da alles gedruckt hatte, das fesselte uns so, daß wir Cardaillac um die Liebe baten, uns die Sache bis zum Schluß zu liefern.

Und der ging auch ans Werk. Und als er so manche Nacht vor dem Nipptisch an seinem Schreibe-Clavicembalo verbracht hatte, besaßen wir die Abenteuer jenes Vermont vollständig. Der Leser wird auf den folgenden Seiten Bekanntschaft mit ihnen machen.

Sie sind äußerst wunderlich, und sie sind sehr heikel. Ihr zukünftiger Verfasser darf sie nicht dem Druck übergeben. Er wird sie verbrennen, sobald sie nur geschrieben sein werden. Dergestalt daß, wär der Nipptisch nicht so zuvorkommend gewesen, kein lebendiges Wesen je in ihnen zu blättern vermöchte. Und das ist so prickelnd für mich, der ich von der Echtheit der Urkunde überzeugt sein muß, daß ich die Zeilen veröffentliche, noch ehe sie überhaupt geschrieben sind.

Denn ich halte sie für echt. Obgleich sie einen Charakter zeichnen, der verzerrt bis zur Grimasse erscheint; und wiewohl sie seltsam jenen auf das flüchtigste hingeworfenen Skizzen ähneln, spielerischen, beinahe in der Art von Glossen hingekritzelten Randbemerkungen zu etwas, das freilich dann die Wissenschaft selber wäre ...

Oder sollten sie apokryph sein? Märchen kommen leicht in den Ruf, daß sie verführerischer seien als die Historie. Und dieses Märchen von Cardaillac, dieses brauchte so vielen andern in nichts nachzustehen.

Gleichwohl wünschte ich mir, dieser Doktor Lerne sei die getreue Niederschrift von wahrhaftigen Mißgeschicken, denn in dieser Voraussicht — da ja der Nipptisch es prophezeit hat — haben die Drangsale unseres Helden in Wirklichkeit noch gar nicht angefangen und werden sich zweifellos erst in der Zeit abspielen, in der sie dieses Buch schon unter die Leute bringt — welch über alle Maßen aufrüttelnde, fieberische Aktualität!

Überdem werd ich ja heut in zwei Jahren wissen, ob Herr Nicolas Vermont meine kleine Privatwohnung in der Avenue Victor Hugo bewohnt. Und dieses ist's, was mich in fast allem im voraus sehr bestärkt und in nichts zweifeln läßt: wie soll ich von Cardaillac, einem so tiefernsten und so hochintelligenten Burschen, annehmen, er hätte soviel Stunden und Stunden verschwendet, um einen ähnlichen Blödsinn einfach zu fabrizieren? ... Ja, und das ist mein Hauptargument, das für seine Lauterkeit ficht.

Nun, und wenn ein spitzfindiger Leser ganz sichergehen will? Dann möge er nach Grey-l'Abbaye fahren! Dort wird man ihm schon Auskunft geben über die Existenz des Professor Doktor Lerne wie über seine Gewohnheiten. Ich allerdings, ich hab soviel freie Zeit nicht, aber ich ersuche diesen etwaigen Forschergeist dringend, mich die Wahrheit wissen zu lassen, der ich doch so sehr darauf brenne, ob der folgende Bericht weiterhin eine Mystifikation Cardaillacs bleibt oder ob er in der Tat von jenem tanzenden Geistertisch daktylographiert wurde.


1. Kapitel

Notturno

Jener erste Tag im Juni neigte sich. Der Schatten des Kraftwagens, dem mein eigener Schatten noch wie ein Stachel voraufsaß, hetzte vor mir her und ward länger jeden Augenblick.

Seit dem frühen Morgen an verstörten Menschengesichtern vorüber — die an mir alle gewiß etwas aus einem Spektakelstück zu erschauen vermeinten. So wie ich daherkam, die Lederkappe auf, einen Schädel wie ein Knochenmann, mit dem Brillenzeug, daß ich Augenhöhlen wie ein Skelett hatte, und ganz in lohfarbenem Leder steckend, muß ich den guten Seelen wie ein höllisches geisterndes Robbenvieh vorgekommen sein, wie ein teuflisch Tier aus der Versuchung des heiligen Antonius — auf der Flucht vor der Sonne und gleichwie um die Wette Nacht und Grauen entgegen.

Und ernstlich, in mir hauste etwas wie die Seele eines Verdammten. Mir war so fürchterlich, wie's eben nur in dem auszusehen vermag, der sieben Stunden todverlassen auf einem sich wie tobsüchtig gebärdenden Rennwagen hockt. Dampf im Hirn. An Stelle des winzigsten Gedankens eine einzige währende Qual. In meinem Fall die eine kleine befehlshaberische Zeile: «Komm allein und schreib zuvor», ein scheußlicher Kobold, ein unaufhörlicher Rumor in mir Einsamem, der ich vor Erregung und Rennfieber bebte.

Dieses bizarre, von meinem Onkel Lerne in seinem Brief doppelt unterstrichene Kommando: «Komm allein und schreib zuvor» hatte mich indes nicht gleich von Anfang an so maßlos frappiert. Erst seit ich der Weisung gemäß — ganz allein und nachdem ich zuvor richtig geschrieben hatte — dem Schloß Fonval zustrebte, veranstaltete der mysteriöse Befehl Privat- und Extravorstellungen vor mir, in seiner ganzen Absonderlichkeit. Überall las ich und allenthalben hörte ich nur dies und wieder dies — ich mochte mich noch so sehr anstrengen, die fixe Idee abzuschütteln. Wollte ich den Namen eines Dorfes erfahren, stand auf der Ortstafel: «Komm allein». «Und schreib zuvor» diktierte mir der Flug der Vögel. Und der Motor wiederholte unablässig und wie außer sich — tausend- und tausendmal: «Komm allein, komm allein, zuvor schreib, zuvor schreib, zuvor schreib» ... Ich fand, wie ich suchte, keine Erklärung für diese Zeile meines Onkels und wünschte mir nichts sehnlicher als anzukommen, um den Schleier vom Geheimnis fortgerissen zu sehen, doch ersehnte ich weniger die zweifellos banale Antwort, die mir auf all das werden würde, als meine endliche Erlösung von soviel tyrannischer Qual und Folter.

Aber ich kam ja glücklich immer näher, und wie die Gegend mir bekannter wurde und mir vertraut von früher erzählte, fiel manches von meiner Pein ab. — Das volkreiche und geschäftige Nanthel hielt mich an, aber am Ausgang der Vorstadt sah ich endlich in vagen Schattierungen und sehr fern die Ardenner Höhen.

Abend fällt. Vor der Nacht am Ziel zu sein, stelle ich auf höchste Geschwindigkeit. Der Wagen schnaubt, die Chaussee schwindet unter ihm — wahnwitzig — der Wagen ist nur noch eine Spule, die das Straßenband kilometerweise aufhaspelt. Gesang um die Ohren — siebt mir ein Schwarm Moskitos die Gesichtshaut? — wie Bleikörner tun, wie Schrot und Vogeldunst — tausend kleine Dinge knistern gegen meine Brillen an. Jetzt hab ich die Sonne zu meiner Rechten. Steht noch überm Horizont. Aber die Wegwand, die mich bald hohl vergräbt und bald steil auswirft, zwingt das Gestirn, mir ein paarmal hintereinander Sonnenauf- und -untergang vorzuspielen. Sonne versinkt. Ich durchs Abenddämmer, was meine wackere Maschine aufbringen kann — wer überholt meine 234-XY? Keiner! — Das Tempo ist wohl angetan, den Ardenner Wald auf die Beine zu bringen. Was Wolke schien, nimmt grüne Färbung an, Waldfarbe, wird Wald. Mein Herz singt ein Lied. Fünfzehn Jahre! Fünfzehn Jahre, ach Gott, daß ich dich lieben großen Wald nicht sah! Alter Ferienkamerad!

Denn hier ist es, ja, in deinem Schatten liegt das Schloß versteckt, tief in einem Riesenbecken ... Ich kann mir's ungewöhnlich deutlich vorstellen, das Becken, nein, nein, ich unterscheid's doch schon, hier voraus, voran, der große dunkle Flecken ist's. Diese seltsame Bucht! Lidivina Lerne selig, meine Tante, die voller Legenden steckt, die wollte wahrhaben, Satan hätte sich über irgendeiner getäuschten Hoffnung einmal einfach sehr fuchtig auf seiner Riesenferse umgedreht und damit dieses hier zustande gebracht. Welcher Ursprung indes bestritten wird. In einem jeden Fall aber malt dies Bild die Gegend auf das überraschendste: ein ungeheurer Zirkus mit ganz abschüssigen Wänden und mit keinem anderen Auslaß als einem einzigen riesigen Tor auf die Felder heraus. Anders gesagt: ein terrestrischer Golf inmitten von Höhn, die ringsum steil anstreben. Derart, daß man ganz eben nach Fonval gelangt, ganz ohne den geringsten Hang anklettern zu müssen, wiewohl das Schloß tief im Bergesschoß ruht. Der Park, das ist das Innere des Zirkus, und die Felsen sind überall Wall und Wehr, außer nach dem Auslaß zu. Den aber verbaut eine Mauer, und in dieser wiederum ist das Portal. Und dann ist eine lange schnurgerade mit Lindenbäumen bestandene Allee. Die ich in wenigen Minuten haben will ... und kurze Zeit drauf muß ich wissen, warum mich keine Seele nach Fonval begleiten durfte. »Komm allein und schreib zuvor!« ... Weshalb diese Maßregeln?

Geduld. Die Masse der Ardennen zerfällt in Massen. Wie ich in diesem Tempo weiterfliege, bewegt sich alles. Bergkuppen taumeln und stürzen an mir vorüber, da eine fern, da eine nah, diese duckt sich klein, diese andere schäumt groß auf, wie eine königliche Welle — es ist das ewige Schauspiel des großen Meeres ...

Da hebt sich etwas ungetüm und eilends weg — ein Nest liegt vor mir da. Sehr wohl bekannt. Jedes Jahr im August erwartete einst der Wagen meines Onkels — mit dem vorgespannten Biribi — vor diesem Bahnhof Mama und mich. Und grad bis hierher brachte man uns zur Abfahrt ... Sei mir gegrüßt, mein Grey-l'Abbaye! Nun ist es bis Fonval nur noch drei Kilometer. Blind fänd ich hin! Siehst du, das ist der direkte Weg, der nun bald unter Bäumen hinlaufen und sodann groß Allee heißen wird ...

Fast Nacht. Ein Bauersmann schreit mich an ... Beleidigungen natürlich. Bin ich gewöhnt. Meine Hupe antwortet ihm — drohend und klagend.

Der Wald! Ah! Mit seinem starken Arom! Nach schulfreien Zeiten duftet's. Mein Erinnern und der Wald fühlen eins ... Köstlich! Ausgesucht! ... Wie möcht ich dies Fest der Nasenflügel verlängern ...

Gedämpftere Eile. Das Auto fährt sanfter hin. Sein Gefauch wird Summen. Links und rechts steigen die Kesselwände an. Hoch. Höher. Wenn's heller wär, müßt ich schon Fonval sehn. Am Ende der wie mit dem Lineal gezogenen Allee ... Holla! Was heißt das?

Wir hätten beinahe umgeschlagen. Unerwartet — unerwartet krümmt sich der Weg.

Noch kleinere Geschwindigkeit.

Ein wenig weiter — wieder ein Winkel — dann wieder einer. Da hielt ich an.

Am Firmament hing perlend Stern bei Stern, wie leuchtender Tau. So ließ mich die Frühjahrsnacht hoch über mir die steilen Kämme unterscheiden; nur die Winkel, in denen sie abfielen, verwirrten mich. Und wie ich rückwärts wollte, stieß ich auf eine Weggabelung, die ich vorhin beim Anfahren übersehen hatte. Ich nahm nun die Straße rechts, und nach mehreren Windungen — wieder eine Abzweigung. Rätsel, Rätsel, Rätsel. Ich orientierte mich noch einmal genau und lenkte in diesem Sinne grad auf Fonval zu — ein neuer Kreuzweg. Wohin wollte denn dieser Weg rechts? ... Ich war bestürzt.

Die Lampen angezündet. Und bei ihrer Helle fuhr ich nun Schlinge um Schlinge. Ohne mich auszukennen. Sternförmig liefen die Wege. Stern um Stern. Dann wieder Sackgassen. Zum Donner, bei dieser einen Birke, da war ich doch schon! Und die Wände um mich hielten sich auf gleicher Höhe. Ein wahrhaftiges Labyrinth, darin ich irrte. Ich kam um keinen Preis vorwärts. Hatte mich das Bäuerlein aus Grey darum angeschrien? Sehr wahrscheinlich.

Jetzt einfach auf den Zufall vertrauen. So hitzig machte mich das ... Brennenden Auges sah ich voraus. Im feurigen Lichtfeld der Laternen — glücklich zum drittenmal die nämliche Kreuzung. Dreimal aus verschiedenen Wegen heraus die gleiche infame weiße Birke.

Rufen, rufen. Da versagte die Hupe, und ich saß ohne Trompete. Und mit der Stimme? Von hier war's so weit nach Grey als nach Fonval. Ausgeschlossen, daß ...

Angst wurde mir. Wenn nun das Benzin zu Ende sein sollte? Ich hielt mitten auf dem Kreuzweg und sah nach. Das Reservoir ... fast leer. Durch vergebliches Hin und Her nun noch vollends austrocknen? Da schien es mir doch ein Leichteres, zu Fuß quer durchs Gehölz bis zum Schloß ... Ich wollte es. Und rannte gegen ein tückisches Drahtgitter in den Gebüschen ...

Augenscheinlich. Das war keine müßige Kombination. War eine dädalische Leistung, diese Verwehr zum Garten. Höchst, höchst geflissentlich. Alle Achtung vor solcher Defensive. Ganz aus dem Konzept, fing ich an zu räsonieren:

»Verehrter Onkel Lerne. Ich kann Sie absolut nicht begreifen. Heute morgen erreichte Sie die Nachricht von meinem Eintreffen. Und nun stecke ich in der hinterlistigsten Falle und Haft, die je eine Landschaftsarchitektur ausknobeln konnte. Wie kamen Sie nur auf so eine Idee? Haben Sie sich noch wunderlicher verändert, als ich mir dachte? Vor fünfzehn Jahren wären Ihnen ähnliche Fortifikationen nicht im Traum eingefallen ...

Vor fünfzehn Jahren. Eine Nacht wie die. Zweifelsohne. Der Himmel taute Licht wie heut, und Krötengetier zündete die Stille mit klaren, kurzen, feinen, süßen Schreien an. Eine Nachtigall sang. Wie jetzund. Onkel! Auch jene ferne Abendzeit war köstlich. Meine Tante und meine Mama, die beiden Schwestern schwesterlich in einer Woche gestorben — und wir allein, wir zwei beiden, von Angesicht zu Angesicht, Sie Witwer und ich Waise...«

Und der Mann aus jener Zeit stand auf in meiner Erinnerung und stand, so wie ihn ganz Nanthel kannte, den mit fünfunddreißig schon weltberühmten Chirurgen, den Mann mit der geschicktesten Hand und soviel Glück bei soviel Wagen, der bei allem Ruhm seiner Vaterstadt treu blieb: der Doktor Frédéric Lerne, Professor der Klinik an der Medizinischen Schule, korrespondierendes Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Gesellschaften, Inhaber vieler Orden und — daß ich es ja nicht vergesse — der Vormund seines Neffen Nicolas Vermont. Mit diesem meinem neuen Vater, von Gesetzes wegen, hatte ich bislang wenig Umgang gehabt. Der nahm sich niemals Ferien. Verbrachte nur die Sommersonntage auf Fonval und verwandte auch die, ganz abwegs, zu rastloser Arbeit. Seine große Leidenschaft für die Gärtnerei, die er wochentags zügeln mußte, sperrte ihn dann den ganzen Tag über in sein kleines Gewächshaus, zu seinen Tulpen und Orchideen.

Ungeachtet aber unseres seltenen Zusammenseins, kannte ich ihn gut und liebte ihn sehr.

Robust und lustig. Gleichgewichtig und nüchtern. Ein wenig kalt vielleicht. Aber doch so gutmütig! Unehrerbietig genug verglich ich sein ganz glattrasiertes Gesicht oft mit dem einer alten lieben Dame, indes mußten solche Pfeile meines Witzes als reichlich verfehlt angesehen werden, denn bald legte er es antik in Falten und sah hohe und ernst aus, und bald verzog er's zu feinstem Lachen und sah aus wie einer aus der berüchtigten Zeit Philipps von Orleans. Unter allen modernen glattgeschabten Gesichtern trug mein Onkel eins von jenen etwelchen, die durch ihren angestammten Adel ebensosehr nach unsern in Togen drapierten Altvordersten wie nach unsern atlasgekleideten Großvätern auszuschauen vermögen und deren künftige Enkel sich unbeschadet die Kostüme der Ahnen anlegen könnten ...

In diesem Augenblick erschien mir Lerne, in einem schwarzen miserabel zugeschnittenen Überrock vermummt, darin ich ihn zum Abschied, bei meiner Abreise nach Spanien gesehen hatte. Da mein Onkel reich war und mich recht bald gleich ihm begütert sehen wollte, schickte er mich dahin, auf daß ich Handel mit Kork triebe als Kommis des Hauses Gomez zu Badajoz.

Und dieses mein Exil hatte fünfzehn Jahre gewährt. Und in dieser Zeit mußte der Professor seinen Reichtum noch erheblich angehäuft haben, nach den sensationellen Operationen zu schließen, die er ausführte, und von denen laute lärmende Kunde bis zu mir ins innerste Estremadura drang.

Meine Geschäfte? Mit denen haperte es gewaltig. Nach fünfzehn Jahren zweifelte ich sehr, jemals unter meinem eigenen Namen Rettungsgürtel und Flaschenkorkstöpsel zu verkaufen, und so war ich soeben nach Frankreich zurückgekehrt, mir einen andern Stand zu suchen, als das Schicksal mich zum Rentier stempelte: Ich gewann das Millionenlos, aber darüber möchte der Erbe gern alles Inkognito bewahren.

In Paris richtete ich mich ein. Komfortabel, ohne luxuriös zu sein. Meine Appartements waren bequem und einfach. Ich hatte, was ich brauchte, jedennoch mehr ein Auto und weniger eine Familie.

Aber ehe ich mir eine solche frisch anschaffen wollte, schien es mir korrekter, mit meiner einstigen, das will sagen mit Doktor Lerne, wieder anzuknüpfen. Und ich schrieb ihm.

Nur soll man dabei nicht meinen, daß wir nicht allezeit in einer ziemlich ununterbrochenen Korrespondenz miteinander gestanden hätten. Anfangs hatte er mir weise Ratschläge gegeben und sich auch mächtig väterlich erwiesen. In seinem ersten Brief schrieb er mir sogar von einem Testament, das sehr zu meinen Gunsten wäre und streng verborgen in einem geheimen Möbelfach auf Fonval läge. Auch nach der Rechnungsübergabe der Vormundschaft blieben unsere Beziehungen die alten. Dann aber plötzlich trat eine starke Veränderung in seinen Nachrichten ein, sie kamen nur noch in größeren Zwischenräumen, ihr Ton klang erst gelangweilt und dann mürrisch, ihr Inhalt wurde banaler und trivialer, der Stil linkisch; und selbst die Schrift wurde immer unleserlicher. Und da all die Anzeichen von Schreiben zu Schreiben immer auffallender hervortraten, beschränkte ich mich zuletzt darauf, ihm nur noch zu Neujahr zu gratulieren. Und der Onkel dankte mit irgendzwei hingeklecksten Wortzeichen ... Die einzige Liebe, die ich fühlte, war tief verwundet. Ich war untröstlich.

Was war nur über ihn gekommen?

Ein Jahr vor diesem plötzlichen Wechsel — fünf Jahre vor meiner jetzigen Rückkehr nach Fonval und meiner Gefangenschaft hier in diesem Labyrinth — hatte ich in der Epoca gelesen:


«Aus Paris wird uns geschrieben: Professor Lerne verabschiedet sich von all seinen Patienten, um sich gänzlich bereits begonnenen wissenschaftlichen Forschungen im Hospital zu Nanthel zu widmen. Zu diesem Behufe zieht sich der ausgezeichnete Arzt in die Umgebung der Ardenner Stadt, auf sein ad hoc eingerichtetes Schloß Fonval zurück. Er hat sich einige namhafte Kollaboratoren, unter ändern den Dr. Klotz aus Mannheim, beigeordnet, sowie die drei Präparatoren des Anatomischen Instituts, das jener Klotz Friedrichstraße 22 ins Leben rief und das jetzt eben seine Pforten geschlossen hat. — Wann hören wir von den Resultaten?»


Lerne hatte mir das Ereignis auf einem enthusiastischen Billett zwar bestätigt, aber das dürftige Entrefilet um keine Silbe ergänzt. Und ich wiederhole es — ein Jahr darauf hatte sich jener Umschwung in ihm vollzogen. Hatten zwölf Monate Arbeit einen solchen Schaden bei ihm eingerissen? Hatte ein herbes Mißgeschick den Professor so schwer angegriffen, daß er mich wie einen Fremden, ja, wie einen Lästigen behandelte?...

Und dann setzte ich all seine feindselige Gesinnung hintan und schrieb ihm ehrerbietig und mit viel Liebe jenen Brief, machte ihm Mitteilung von meinem großen Glück und bat ihn um die Erlaubnis, ihn besuchen zu dürfen.

Nie wohl war eine Einladung weniger einnehmend als die seinige. Er ersuchte mich, ihn von meinem Kommen zu benachrichtigen, damit er einen Wagen bestellen könne, der mich an der Station abhole: «Du wirst jedenfalls nur kurze Zeit hier bleiben. Der Aufenthalt auf Fonval ist kein lustiger. Man arbeitet viel hier. Komm allein und schreib zuvor.»

Aber hol mich der Teufel! Ich hatte doch zuvor geschrieben und kam doch nun allein! Und ich hatte diesen Besuch für kindliche Pflicht angesehen, für Sohnesschuld! Jawohl, ja! Blödsinn! Ganz einfach Blödsinn!...

Und ich sah furchtbar mißgestimmt auf den Stern, den die Alleewege bildeten, und auf den meine verlöschenden Laternen nur noch einen Totenlämpchenschimmer warfen.

Nun galt's also für mich, diese Nacht in diesem Walddunkelarrest zu verbringen. Und nichts würde mich vor Tag daraus befreien. Die Kröten im Weiher gen Fonval, die hatten mich gut rufen. Und vergebens sang die Glocke von Grey Stunde um Stunde her und wollte mir das bessere Nachtlager weisen — denn die Glocken sind in Wahrheit tönende Leuchtfeuer — ich war ein Gefangener.

Ein Gefangener. Lächeln machte mich's. Doch wie hätt ich mich früher geängstigt! Der Gefangene der Ardennen! Brocéliande ausgeliefert, dem ungeheuren Wald, der innerhalb seiner Grenzen — bei Blois die eine, die andere bei Konstantinopel — eine Welt in Grabesfinsternis tauchte! Brocéliande! Du Schaubühne der Heldengedichte und Kindermärchen, du Land der vier Haimonskinder und des kleinen Däumlings, Wald voller Druiden und voll von Kobolden — in deinem Hain schlief Dornröschen süß ein, und Carolus Magnus hielt Wache! Welche Historie, die nur ein wenig phantastisch war, hatte nicht diesen Hochwald zumindest zur Dekoration, wenn die Bäume schon einmal nicht selber Akteure waren? — »Ach, teuerstes Tantchen Lidivina«, so murmelte ich, »ja, du wußtest ähnlichen Schnickschnack zu beleben, allabendlich, nach dem Diner. Treffliche Dame, du! Ob du jemals den Zauber deiner Märchen geahnt hast? ... Tantchen, mein Tantchen, weißt du denn, daß all deine unerhörten Puppen mein Leben an sich rissen, all meine Träume besitzen? Glaub mir, zuweilen noch singt mir eine Zauberfanfare im Ohr — du hast in meinen Nächten auf Fonval Rolands Olifant und Oberons Horn erschallen lassen!«

Den Augenblick geschah etwas Unverzeihliches, und ich konnt's nicht hindern: Nach einem letzten Aufflackern der Lebensflamme erloschen die Lampen. Eine Sekunde lang war dunkelstes Dunkel und stillste Stille. Ich kam mir stockblind und stocktaub vor.

Bis ich dann mählich wieder sehen lernte. Und die Mondsichel aufleuchtete und die kalte Nacht in schneeiges Licht gewandete. Der Wald starrte in eisiger Weiße. Mich fröstelte. Zu Lebzeiten meiner Tante hätt's mich vor Schreck gefröstelt. Da hätt ich in all diesem Wallen und Brauen Drachen sich wälzen, Schlangen sich aufheben und hingleiten erschaut. Eine Eule flog um. Mir wär's der gefiederte Helm eines zauberischen Paladins gewesen. Die Birke rechts flammte her mit Lanzenflamme. Der Sohn — nicht? — des Zauberbaums, des Gemahls der Prinzessin Léélina. Eine Eiche rauschte. Riesenhaft und druidisch. Ein Mistelpage hing treu seiner mondhaarigen, silbergepuderten Gebieterin an. Und über allem das gleißend heilige Sichelzeichen ...

Ei ja, Traum und Fieber wob diese nächtliche Landschaft. — Nun, an Stelle eines geeigneteren wollte ich just dies ausdenken. Wohlan. — Und gar nicht mitzählen, warum ich einst so wie heut all der Suggestion der Gegend unterlag und, wenn der Abend kam, mich nur sehr ungern in dies alles herauswagte. Fonval war eben selber, glaub ich, trotz seiner unzählbaren Blumen und seiner herrlichen vielgewundenen Alleen, der abstoßendste Ort. Einst eine Abtei und dann ein Schloß geworden, seine spitzbogigen Fenster, sein hundertjähriger von Statuen bestandener Park, das tote Wasser seines Weihers, die schroffen Höhen, die rings herab zur Tiefe dräuten, und jenes Höllentor — das machte den Flecken Erde sogar am hellichten Tage also fremd, daß es nicht groß hätte überraschen dürfen, wenn es jedermann hier nur mit Mythologie, Märchen und Fabelgetier gehalten hätte. Das wäre die rechte Sprache für hier gewesen.

Ich wenigstens — ich redete in den Ferien hier in solchen Zungen und tat solche Taten. Alles bot sich mir dar und wurde mir ein endloses Zauberstück, und ich spielte es mit imaginären oder bildlichen Statisten, daß sie auf dem Wasser lebten, in den Bäumen wohnten und unter der Erde hausten — öfter unter der Erde als auf ihr. Wenn ich über den Rasen hin meine nackten Waden zum Galopp rührte, o wie sehr sah man da an mir, daß viele Eskadronen Reiter hinter mir ansprengen mußten. Und gar der alte Nachen! Der wurde zu der Gelegenheit mit drei Besenstielen bemastet, daran sich schlecht und recht drei Segel blähten, und wurde mir so zum Schiff und der Weiher zum Mittelländischen Ozean, der die Kreuzritter auf seinem Schaumrücken schaukelte. Und da sah ich gedankenvoll und tiefsinnig auf die Seeroseninseln und die Rasenhalbinseln und proklamierte also: «Das ist Korsika, und das ist Sardinien! ... Italien in Sicht! ... Wir umsegeln Malta!...» Und eine Minute später: «Land!» Und man landete auch schon in Palästina. Und «Montjoie und Saint Denis, Montjoie und Saint Denis ...» erbrauste der mittelalterliche Schlachtruf. — Mich befiel die Seekrankheit da draußen, und Heimweh; der Heilige Krieg rieb mich auf; — und ich lernte so Schwärmerei und Geographie zugleich ...

Am häufigsten aber waren die übrigen Akteure simuliert. Da war dann — ein jedes Kind sieht so wie Don Quichotte - da war dann der hundertarmige Riese Briareus (das war unser verwildertes Lusthaus); und da war der Drache der Andromeda (das war in Wirklichkeit nur ein Faß gewesen). Aber dieses Faß! Ein Haupt hatte ich ihm verfertigt — aus einem Kürbis, der schielte; und zwei Drachenflügel —aus zwei Regenschirmen. Und dann ward die Maschine an einer Biegung der Allee in schauerlichen Hinterhalt gelegt, aus dem sie jeden Augenblick auf eine Nymphe aus Terrakotta hervorzubrechen schien. Und dann zog ich aus — auf seinen Spuren —, heldenmütiger als der leibhaftige Perseus, und schwang einen Rebenpfahl als Waffe und tummelte einen unsichtbaren Hippogryphen. Aber wenn ich das Untier dann stellte, schleuderte mir der Kürbis einen so entsetzlichen Blick zu, daß Perseus beinah die Flucht ergriffen hätte und die Regendächer sodann die Wallung büßen mußten und in tausend Stücken und mehr im gelben Blut des furchtbar komischen Gemüses schwammen und ertranken.

Meine Irrwische machten mich in der Tat rasend durch die Rollen, die ich an sie verteilte. Und da ich mir stets die Rolle der Hauptperson, des Helden, des Siegers vorbehielt, überwand ich leichthin alle Furcht — das heißt am Tage. Aber in der Nacht, wenn der Reisige und Ritter längst wieder zum kleinen Nicolas Vermont, zum winzigen Bürschchen und Knirps geworden war, blieb das Faß noch immer das Ungeheuer. Und tief unter der Bettdecke verkrochen und das Gemüt verstört durch die Geschichte, die mir die Tante gradeben erzählt hatte, da sah ich den Garten mit meinen schauerlichen Phantasien bevölkert, sah, wie Briareus auf Wache zog, und sah, wie das von den Toten auferstandene Faß die Krallen seiner Flughaut kräuselte und von ferne mein Fenster belauerte.

In jenem Alter verzweifelte ich bald daran, daß ich später so wie jedermann werden und jemals den Schatten die Stirn bieten könnte. Und dennoch, jener tausendfältige Tod verlor all seine Schrecken und ließ mich, zu jedem Augenblick empfänglich, gewiß, aber nie feige, zurück: also daß es mir in diesem wüsten Walde jetzt, ach!, viel zu leer an Feen und Zauberern war!

Ich war mit meinen Träumereien just bei diesem Punkte angelangt, als in der Richtung auf Fonval zu ein verworrenes Getöse aufstand. Ein Rind brüllte. Und wie Hundegeheul klagte etwas langhin ... Aber das war alles. Und dann schlief alles wieder ein.

Ein paar Minuten — und ich hörte irgendwo zwischen mir und dem Schloß ein Käuzchen weinen. Und da voran flog nun eins auf. Und wieder andere da und dort. Als ob irgendein Wesen an ihnen vorbeikäme und sie aufscheuchte.

Und wirklich, da kommt ein leiser Schritt an, im Doppeltrott eines Vierfüßers. Und kommt vielverschlungen und so gewunden her, als ob es gleichfalls in der Irre liefe. Und taucht vor meinen Blicken auf.

Ein großes ausgebreitetes Geweih. So stolzer Hals. So feine Ohren. Jede Täuschung unmöglich: ein Hirsch ist's, ein Zehnender. Aber kaum dachte ich dies, witterte er mich und wich aus. Und sprang an ... und da schien mir sein Leib seltsam klein und schmächtig und — war's ein Widerschein? — war mir, als ob er ganz weiß wäre ... Den nächsten Augenblick verschwunden. Sein Galopp fernhin. Verhallt.

Was war's von diesen beiden? Hatte ich zuerst einen Ziegenbock für einen Hirsch — oder hierauf einen Hirsch für einen Ziegenbock gehalten? ... Man muß mir zugeben, daß ich vor Neugierde brannte. Und ich fragte mich sehr, ob ich nicht auf Fonval jenen meinen Kinderglauben wiederfinden könnte, den ich dort einst gelassen hatte. Aber ein wenig Nachdenken brachte mich auf dies: Hunger, Mattigkeit und Schlafsucht können im Verein mit etwas Mondschein gar leicht das Auge täuschen, und ein unsicheres Licht auf eine Gestalt macht noch kein Phänomen.

Und ich bedauerte es. Hatte ich gleich das Grauen vor dem Wunderbaren längst verlernt — alle meine Liebe bewahrte ich ihm doch.

Das Wunderbare hielt mich für immer in Bann. Als Kind sah ich es überall. Als Jüngling noch legte ich mir alles Fremde, jeden bizarren Effekt einer mir unerklärlichen Sache so aus. An der Idee jenes Philosophen: «Wenn das Wasser einen Stab krummbiegt» ist dies mir heute noch unangenehm, daß «mein Verstand ihn wieder gerade macht». Und was gäb ich dafür, wüßte ich nicht, daß ohne die Brechung der Sonnenstrahlen der Bogenschütze Phöbus seinen zugleich furchtbaren und himmlischen Regenbogen nicht spannen könnte.

Aber selbst indem du dich bemühst, die Illusion eines Wunderbaren zu zerstören, fühlst du etwas wie zauberischen Reiz. Du sagst dir: «Vielleicht ist es da. Aber es ist nur eine Vermutung. Nun, da will ich, um mehr davon zu genießen, es besser sehn, mit Sicherheit sehn ...» Und näherst dich. Die Wahrheit präzisiert sich. Und das Wunder erlischt. — Wie alle meinesgleichen reizt mich ein Mysterium schon allein durch den Schleier, und ich wünsche mir, auf die Gefahr gröbster Täuschung hin, nichts weiter, als es ans Licht zu bringen...

... Kurz — das Tier war in Wahrheit seltsam ...

Und ich schweifte weit im Unbegreiflichen, fand's aller Rätsel voll, und meine Wißbegierde stieg.

Aber ich war zum Umfallen müde und schlief ein. Und lief im Traum noch manche Polizeipatrouille und verrichtete spitzfindigste Detektivarbeit.

Um Tagesgrauen erwachte ich. Und fühlte sofort meine Befreiung.

Nicht weit von mir, ach, kamen Männer durchs Dickicht her. Sprachen miteinander. Kamen so vielverschlungene und gewundene Wege her wie der Hirsch (?). In einem Augenblick gingen sie unsichtbar nur einige Meter vom Wagen. Nur von ihrer Unterhaltung verstand ich nichts. Es schien, als ob sie Deutsch redeten.

Endlich tauchten sie auf. Drei waren es. An der Stelle, an der das Tier aufgetaucht war. Und sahen immerzu auf den Weg, als ob sie eine Spur verfolgten.

Auf dem Fleck, auf dem das Tier mir dann ausgewichen war, rief der eine etwas und gestikulierte so, als ob sie beinah falsch gegangen wären. Aber da hatten sie mich auch schon bemerkt, und ich ging auf sie zu.

— Meine Herren, sagte ich mit meinem verbindlichsten Lächeln, würden Sie so gut sein, meine Herren, und mir den Weg nach Fonval sagen? Ich hab mich verfahren...

Die drei sahen mich stumm, inquisitorisch, tückisch an.

Ein groteskes Trio.

Der erste hatte auf einem dicken und gedrungenen Leib ein derart regelwidrig ebenes Gesicht sitzen und in diese Scheibe eine also dünne und spitze Nase eingesteckt, daß man meinte, eine Sonnenuhr vor sich zu haben.

Der zweite stand militärisch stramm. Mit einem Bart — es ist erreicht! Und sein Kinn war so spitz aufwärts gekrümmt wie ein Schnabelschuh.

Und ein großer Alter mit goldenen Brillen, grauem und geringeltem Haar und einem ganz zerzausten Bart, der war der dritte im Bunde. Und fraß Kirschen, mit einem solchen Lärm, wie ein Bauernlümmel Kaldaunen schlingt.

Sicher die Deutschen. Sicher die drei Präparatoren des Ex-Anatomischen Instituts.

Erst spie der große Alte zu mir her eine Ladung Kerne aus und zu seinen Landsmännern einen jener urdeutschen Sätze, darin sich eine Kartätsche von Worten neben vielen andern unsagbaren Geräuschen entlädt. Dann tauschten die drei solcherart einige Ratschläge aus — unter Donnerhall — und ganz ohne sich um mich zu kümmern. Und nachdem sie mit ihren Mäulern neben mir sattsam genug Wortgeprassel vollführt hatten — was sie jedenfalls einen Rat halten nannten —, drehten sie mir ihre Rückseiten zu und gaben mir Zeit, mich aus meiner Betäubung über ihre Roheit zu erholen. Gingen einfach davon...

Wie da heraus? Diese Expedition wurde stündlich lächerlicher! Was bedeutete das alles? So ein Komödienspiel! Am Ende machte man sich über mich lustig! — Wütend war ich. All die heimlichen Heimlichkeiten, die ich aufzuspüren glaubte: törichteste Kindereien waren sie, erzeugt aus Mattigkeit und Nachtdunkel. Raus! Nur fort mit mir! Raus!

Ich schäumte und kurbelte den Wagen an, daß unter der Haube die achtzig Pferde laut wurden wie ein Schwarm in einem Bienenkorb. Hebel her! ... Da riß mich eine gelle Lache herum.

Das Käppi schief auf dem Ohr, war in seiner blauen Bluse und mit umgeschwungenem Briefsack heiter und triumphierend der Herr Briefträger zur Stelle.

— Ha! Haha! sagte ich's Ihnen nicht gleich ... gestern auf den Abend ... daß Sie sich festfahren würden? sagte er schleppend.

Ich erkannte mein Bäuerlein aus Grey-l'Abbaye wieder. Aber ich wollte ihm nicht antworten vor Wut.

— Sie möchten gern nach Fonval? fragte er.

Ich wünschte die da vorne auf Fonval alle miteinander zu allen Teufeln.

— Nämlich, beharrte der Postalische, wenn Sie dahin wollen, weise ich Sie gerne hin. Ich trage sowieso die Post aufs Schloß. Aber beeilen müßten Sie sich. Heute ist's noch einmal soviel, heut ist Montag ... und feiertags trag ich nicht aus.

Und er zog Briefe aus der Tasche und spielte mit ihnen.

— Zeigen Sie her! schrie ich. Jajajaja, ebenderselbige gelbe Umschlag ...

Er sah mich mißtrauisch von oben bis unten an und ließ mich den Brief nur sehr per Distanz sehen.

Mein Brief war's! Die Ankündigung, daß ich ankommen würde! Aber eine Nacht später statt einen Tag früher als ich selber!

Dieses Unglück entschuldigte meinen Onkel und dämpfte meine Rachegelüste.

— Sitzen Sie auf, sagte ich. Sie weisen mir den Weg ... und ... dann ... plaudern wir ein wenig ...

Und das Gefährt fuhr in den neuen Tag hinein.

Dicker Nebel begann zu zerfließen. Wie wenn Waschfrau und Näherin Sonne, nachdem sie die Dunkelheiten gebleicht, sie nun auch noch aufzutrennen hätte. Um dann dieses schon sehr fadenscheinige aus Schatten zu Nebeln gelichtete Laken, diesen letzten luftigen Rest der Nacht am Tage, dieses entschwindende Hemd eines entschwundenen Gespenstes, vollends zu Scharpie und zu Nichts zu verzupfen.


2. Kapitel

Mitten unter Sphinxen

Das Auto wand sich langsam die mäandrischen Wege hin. Manchmal, an Punkten, an denen eine Kurve sich selbst durchschnitt, zögerte sogar der Briefträger einen Augenblick.

— Seit wann sind denn diese Zickzackdinge anstatt der einstigen schnurgeraden Allee? fragte ich.

— Vier Jahr, Herr. Ungefähr ein Jahr, nachdem sich Herr Lerne definitiv im Schloß eingerichtet hatte.

— Und wissen Sie — warum? ... Sie können ruhig reden: ich bin der Neffe des Professors.

— Ach ja ...! Weil... weil... er ist ein Sonderling.

— Was treibt er denn so Sonderliches?

— Gottchen ... nichts. Man bekommt ihn fast nie vor Augen. Das ist es ja eben. Ehe er diese ... besoffenen Wege da hat anlegen lassen, traf man ihn oft und oft. Wenn er in den Feldern spazierenging. Aber seit... er kommt knapp alle Monat einmal nach Grey.

Da sah man: All seine Überspanntheiten waren ganz zur selbigen Zeit bei ihm ausgebrochen. Dieser Irrgarten hier und der verwandelte Stil seiner Briefe, die fielen auf Jahr und Tag zusammen. Was wohl so schwer auf seinen Geist eingewirkt haben mochte...

— Und seine Mitarbeiter, fragte ich jetzt. Diese Deutschen da?

— Tja, Herr, die sind durchaus unsichtbar! Übrigens ... wenn ich Ihnen sage, daß ich die Woche sechsmal auf Fonval komme und mich nicht erinnern kann, wann ich einen einzigen Blick in den Garten geworfen hätte! Der Herr Lerne kommt immer selber an die Pforte und holt die Briefsachen! Ach ... was für eine Veränderung! Kannten Sie den alten Jean noch? Fort! Und seine Frau ebenfalls! Wenn ich es Ihnen sage, Herr, keinen Kutscher! Keine Haushälterin! Kein Pferd!

— Seit vier Jahren, nicht wahr?

— Wohl, Herr.

— Sagen Sie mir, Postbote, gibt's hier viel Wild, was?

— Weiß Gott, nein. Paar Kaninchen. Zwei oder drei Hasen ... Aber Füchse. Füchse gibt's viel zuviel.

— Was? Keine Rehböcke - keine Hirsche?

— Nie!

Eine sonderbare Freude zuckte in mir auf.

— So. Aber da wären wir, Herr ...

Und richtig. Gleichsam aus einem Schlußschnörkel heraus ging's nun das letzte Stümpfchen der früheren Allee lang, das Lerne gelassen hatte. Zwei Reihen Lindenbäume steckten die Wegseiten ab, und vom Ende her schien nun die Pforte von Fonval gradaus auf uns zuzulaufen. Vor ihr verbreiterte sich die Allee in Form eines Halbmonds zu einem freien Platz. Und dahinter sah man, wie das Schloß sein blaues Dach über dem Grün der Bäume malte und die Bäume mit ihrem Grün vor den düstern Abhang des Schlundes, in dem ja das Schloß lag, hintraten.

Die Pforte inmitten der Mauer, die von den Abhängen zu beiden Seiten her den Weg verbaute, die Pforte unter dem alten Ziegeldach, o sie war sehr gealtert. Das Gesims morsch, das Türholz wurmstichig und stellenweise tief eingefressen ... aber die Klingel — die Klingel klang unverändert. Die läutete aus meiner Jugend her, so froh, so rein, so weit ... ich hätte weinen mögen ...

Augenblicke des Wartens vergingen.

Dann endlich klapperten Holzschuhe her.

— Guilloteaux, sind Sie's? rief eine Stimme, aber mit ganz überrheinischem Akzent.

— Jawohl, Herr Lerne.

Herr Lerne? — Ich sah auf meinen Führer mit weit aufgerissenen Augen! — Was! Das soll mein Onkel geredet haben? ...

— Sie sind früh dran heut, erklang die Stimme von neuem.

Riegel klirrten zurück. Durch die Öffnung kam eine Hand.

— Geben Sie her ...

— Hier, Herr Lerne. Aber ... aber ... da ist wer mit mir gekommen, gab der Postbote plötzlich ganz klein zu verstehen.

— Wer? schrie's von drinnen. — Und der geschrien hatte, der erschien in der Türspalte.

Es war wohl mein Onkel Lerne. Aber wie seltsam hatte den das Leben angerührt, und wie so grauenvoll gereift. Eine wilde, verkommene Gestalt. Graue und viel zu lange Haare hingen ihren Unrat bis auf den Plunder herab, den er anhatte. Viel zu früh in schweres Greisenalter ausgestoßen, so stand er da und glühte mich an wie einen Feind, mit zerquälter Stirn und mit bitterbösen Augen.

— Was wollen Sie? fuhr er mich an. Und sprach's: Fas follen Sie ... Ich zögerte eine Sekunde. Kein Äderchen mehr von dem Gesicht einer lieben alten Dame — nein, eine glatte, grause Siouxgrimasse! Ich fand mich nicht zurecht: ich erkannte ihn und er war mir doch unkenntlich.

— Aber Onkel! Onkel! Onkel! stammelte ich dann. Ich bin's ja... zu Besuch komm ich ... mit Ihrer Erlaubnis ... Und geschrieben hab ich Ihnen ... aber der Brief ... da, hier ist er ... wir kommen zu gleicher Zeit an ... Entschuldigen Sie, daß ich so unbesonnen war...

— Ah! Sehr gut! Da muß man wohl sagen ... Aber, mein lieber Neffe, da hab ich ja bei Ihnen um Entschuldigung zu bitten...

So jäher Umschwung. Lerne war zuvorkommend, errötete, verwirrte sich und dienerte beinahe. Solches Verlegensein mir gegenüber tat weh.

— Ha! Haha! Und gar mit einer Maschine sind Sie gekommen! Hm ... die will doch hier herein, ja, was?

Er machte die beiden Türflügel auf.

— Hier, hier ist man oft sein eigener Knecht, sagte er, und die Türangeln kreischten ein Lied.

Und er griff schwerfällig zu, mein Onkel. — Aber man sah's ihm deutlich an, es war ihm unbequem und sauer, und seine Gedanken waren ganz anderswo.

Der Postbote war gegangen.

— Die Remise ist immer noch da? sagte ich und zeigte rechts auf den Schuppen aus Backsteinen.

— Ja, ja ... Ich habe Sie mit Ihrem Bart gar nicht wiedererkannt, hm! ... Ja ... mit Ihrem Bart. Den haben Sie doch damals nicht gehabt, he, he? ... Wie alt sind Sie jetzt?

— Einunddreißig, Onkel.

Beim Anblick des Schuppens krampfte sich mir das Herz. Die Tapete verschimmelt und zur Hälfte abgeschält; und hier wie nebenan im Stall ein tausendfacher Trödel. Das Dach hing in spinnwebartigen Fetzen her; und die Rosettenzier von einst?

— Einunddreißig sind Sie schon! sprach er mechanisch und sichtbarlich zerstreut.

— Aber so duzen Sie mich doch, Onkel, so wie früher.

— Ja, das ist wahr, mein lieber ... eh ... eh ... Nicolas, ha?

Wie war ich verlegen. Aber er war's nicht minder. So lästig war ihm, daß ich da war.

Es ist überaus reizend für einen Eindringling zu wissen, warum er einer ist — ich griff nach meinem Felleisen.

Aber Lerne sah das und sagte anscheinend schnell entschlossen und sehr gebieterisch:

— Lassen Sie ... eh ... laß das! Laß, Nicolas! Ich werde sofort dein Gepäck wegschaffen lassen. Aber zuvor haben wir zu reden. Machen wir einen kleinen Spaziergang.

Und er nahm mich am Arm und zog mich gegen den Park hin. Und überlegte aber immer noch.

Am Schloß vorbei. Da und da die Jalousien geschlossen. Die an den meisten Stellen morsche Bedachung zuweilen sogar schon völlig eingestürzt. Die allenthalben aussätzige Mauer ließ vor Altersschwäche und Tod auf weite Stellen das nackte Gestein sehen. Die Stauden in Kübeln umstanden den Bau noch immer, aber man hatte all die Verbenen, Granatbäume, Pomeranzen- und Lorbeerstöcke unstreitig schon ein paar Winter lang der ganzen Kälte ausgesetzt. Sie waren in ihren geplatzten und verfaulten Behältern — tot. Und der Vorplatz mit seinem nie geharkten Sand konnte für eine elende Wiese gelten, so wucherte das Gras hier, mit Nessel und Schierling dazwischen. Dornröschens Schloß war das, und der junge Prinz war noch nicht gekommen ...

Lerne ging an meinem Arm und sprach noch immer nicht.

Wir umschritten das traurige Haus, und der Park tat sich — ein Urwald — meinen Blicken auf. Keine in zierlichen Körben dargebrachten Blumenbeete mehr, und keine feingesandeten trautgewundenen Wegbänder. Außer vor dem Schloß der Rasen, den man in eine Weide verwandelt und für irgendein Viehzeug mit Draht eingezäunt hatte — das tiefe Tal in allem Urzustand. Wohl bezeichneten noch schwache Senkungen die einstigen Alleen, aber überall schossen Bäumsprößlinge aus dem Rasen auf. Der Garten war nur mehr ein großer Wald mit Lichtungen und mit grünen Wegen. Die Ardennen waren hier aus ihrem angemaßten Platz neu herabgestiegen.

Mit viel Besorgtheit und mit aufgeregten Fingern stopfte sich Lerne jetzt eine Pfeife, die sich wohl sehen lassen konnte, steckte sie in Brand, und wir drangen in das Gehölz — in eine dieser höhlengleichen Alleen ein.

Im Vorübergehen sah ich meine Statuen wieder und wollte meinen Augen nicht trauen. Ein früherer Herr auf Fonval hatte sie hier herum — verschwenderisch — errichtet. Aber was waren diese prächtigen Mitspieler in meinen Schaustücken im Grunde doch für armseliges modernes Gußzeug, das irgendein Industrieller des zweiten Kaiserreichs marktwarenmäßig genug Rom und den Griechen nachempfunden hatte. Die Peplen aus Beton blähten sich weit zu Krinolinen, die antiken Obergewänder sahen seltsam nach Schaltüchern von Anno Tobak aus, und die Wald- und Wiesengottheiten: Echo, Syrinx und Arethusa trugen Chignons, wie die halbseidenen Weiber aus jener großen Familie Benoiton. Unsere heutigen häßlichen und kitschigen Phantasten fabrizierten Götzenbilder, wo die Geister des Waldes mit Weinlaub und Holzrebe angetan als Dryaden stehen, sind immer noch besser als jene Helden, die doch nur Biedermänner in Bacchuskränzen waren und wo eine Pose mit ein wenig Waldmoos gleich eine ganze Diana vorstellte.

Nachdem wir eine Weile so gegangen waren, hieß mich der Onkel auf einer steinernen, ganz von Flechten überwucherten Bank im Schatten eines üppigen Haselstrauches Platz nehmen.

Da ließ sich im Busch grad über uns ein leises Knacken hören.

Lerne sprang entsetzt auf und reckte den Kopf.

Es war nur ein Eichhörnchen, das uns da beobachtet hatte.

Aber mein Onkel sah es wild an und schoß mit den Augen nach ihm; und dann erst lachte er und hatte neuen Mut:

— Ha! Haha! Ha! Das ist ja nur ein kleines ... kleines ... Dingsda, sagte er und fand das Wort nicht dafür ...

»Es ist ja wahr«, dachte ich traurig und betrübt bei mir selber, »daß man im Alter kindisch wird! Und ich weiß, gewiß trägt auch immer die Umgebung schuld, und wider Willen nimmt man die Allüren und den Akzent seiner Nächsten an; und die Umgebung, in der Lerne lebt, erklärt ja hinreichend, warum der Onkel so malproper ist, so gedankenlos redet, so deutsch-französisch spricht und eine so klobige Pfeife raucht.

... Aber er liebt die Blumen nicht mehr, wacht nicht mehr über seinem Land und scheint zu dieser Stunde erstaunlich nervös und fahrig ... Nehmen wir noch diese ganze gestrige Nacht dazu, und dann ist alles viel weniger plausibel, als man meinen möchte ...«

Während all der Zeit musterte mich der Professor scharf, mit unruhigen Blicken, und wog und erwog mich, als wär ich ihm ganz unbekannt. Er überlegte hin und her, und man sah ihm sehr an, er entwarf hundert Beschlüsse und — verwarf sie wieder. Und jeden Augenblick kreuzten sich unsere Blicke — da, endlich fanden sie sich, und mein Onkel, der nicht länger mit allem zurückhalten konnte, schien ein zweites Mal an diesem Tag fest entschlossen:

Nicolas, sagte er und gab mir einen Schlag auf die Schenkel, ich bin ruiniert, weißt du!

Ich durchschaute seinen Plan und war empört:

Onkel, reden Sie frei, Sie wollen, daß ich wieder abreise!

Ich? Aber Kind, was für Ideen! ...

— Ganz und gar. Ich bin total davon überzeugt. Ihre Einladung war entmutigend genug — Ihre Aufnahme sehr wenig gastlich. Aber, Onkel, Sie haben ein außerordentlich kurzes Gedächtnis, wenn Sie meinen, ich wär aus eitel Habsucht um mein Erbe hier. Ich sehe, Sie sind nicht mehr der gleiche — übrigens erfuhr ich das längst aus Ihren Briefen —, aber wenn Sie diese plumpe Ausrede erfunden haben, nur um mich fortzujagen, erstaunen Sie mich sehr, sehr! Ich hab mich nicht verändert in den fünfzehn Jahren! Ich hab nie aufgehört, Sie von ganzem Herzen zu verehren, und hätte wohl Besseres verdient als solche eiskalten Briefe und nun zum Schluß, du großer Gott! Eine solche Schmach!

— Nananana! Immer sänftiglich ... sagte Lerne auffahrend.

— Nein, und, und ... rief ich weiter, wenn Sie es gar so sehr wünschen, daß ich sofort wieder abreise? Sagen Sie es ruhig! Und ... adieu! Aber mein Onkel sind Sie — gewesen!

— Du sprichst Lästerungen, Nicolas! Und er sagte das so voller Schrecken, daß ich ihm gradaus drohte:

— Und anzeigen werde ich Sie obendrein, Herr Onkel, Sie und Ihre Gesellen, all eure Hexereien!

— Du bist wahnsinnig! ... Wahnsinnig bist du! Wirst du wohl still sein? So ein eingebildeter ... Narr!

Und Lerne lachte laut auf. Aber seine Augen — ich wußte nicht weshalb — jagten mir Angst ein, und ich bedauerte, was ich zuletzt ausgesprochen hatte.

Er aber sprach:

— Sieh mal an, Nicolas. Bilde dir doch nichts ein. Du bist mein guter Junge. Gib mir die Hand. Du sollst nach wie vor in mir deinen alten Onkel finden, der dich gern hat. Hör mal zu, es ist nicht wahr, ich bin nicht ruiniert, und mein Erbkind wird sicher einmal was kriegen ... wenn's nach meinem Wunsch geht. Aber ... mir scheint nachgerade, als ob's besser sei, hier nicht zu verweilen ... Nichts kann hier einen jungen Mann von deinen Jahren vergnügen, lieber Nicolas. Ich selber bin den ganzen Tag beschäftigt...

Mochte er immer reden, der Herr Professor. Verstellung schaute aus jedem seiner Worte heraus, er war mir nur mehr ein Tartüff, bei dem man die geringste Vorsichtsmaßregel außer acht lassen und den man hintergehen konnte, wie man wollte: aber ich wußte, ich würde bleiben und nicht von hier gehen, bis meine Neugierde in allem und jedem vollauf befriedigt wäre. Und ich unterbrach ihn und sagte, als wie ganz und gar niedergeschlagen:

— Da, da — da sieht man doch, daß Sie fortgesetzt darauf anspielen, daß ich schauen soll, daß ich von hier fortkomme ... Das ist's — ich hab Ihr Vertrauen nicht mehr — das ist's ganz genau...

Er verteidigte sich mit einer Handbewegung. Aber ich fuhr fort zu reden:

— Und drum im graden Gegenteil, erlauben Sie mir, daß ich bleibe. Nur so können wir unsere Bekanntschaft auffrischen. Und das ist uns allen beiden gut und notwendig.

Lerne runzelte die Stirn. Und dann scherzte er:

— Du willst mich um jeden Preis verraten, du kleiner Lümmel?

— Nein. Aber behalten Sie mich da, wenn Sie mir nicht recht weh tun wollen. Und frei herausgesagt, sagte ich in einem recht läppischen Ton, ich werde nur glauben...

— Halt! parierte mein Onkel energisch. Hier gibt es nichts Schlimmes, das man vermuten könnte, absolut nicht!

— Absolut. Sie haben Geheimnisse ... und das ist Ihr Recht. Und wenn ich davon rede, ist es nur, weil es meine Pflicht ist, Ihnen zu versichern, daß ich alle diese Geheimnisse respektieren werde.

— Es ist nur eins! Ein einziges Geheimnis! Und sein Zweck ist ein edler und heilsamer! skandierte mein Onkel mit wachsender Lebhaftigkeit. Ein einziges, du hörst es! Das unserer Arbeit: die ein Heil bringt, Ruhm dazu und Geld!... Aber um all dies und um uns muß noch Schweigen sein ... Geheimnisse? Alle Welt weiß, daß wir hier sind! Daß wir arbeiten! Die Zeitungen haben's geschrieben! Das sind doch keine Geheimnisse!...

— Beruhigen Sie sich doch, Onkel, und regeln Sie lieber mein Benehmen Ihnen gegenüber. Verlassen Sie sich auf meine Diskretion ...

Und Lerne setzte sein Räsonieren fort.

— Nun ja! sagte er und hob die Stirn auf. Das gehört sich wohl so. Ein Onkel wie ich bin und stets zu dir gewesen bin, darf dich nicht von sich weisen. Das hieße alles Vergangene leugnen. Bleib also, aber unter folgenden Bedingungen:

«Wir stellen hier Forschungen an, die ihrem Abschluß nahe sind. Sobald unsere Entdeckung eine vollkommene ist, wird die Öffentlichkeit mit einem Schlage davon erfahren. Bis dahin will ich nicht, daß sie über halbgewisse Versuche informiert werde, deren Enthüllung uns auf unserm Wege nur Konkurrenten anrichten könnte, die uns vielleicht überlegen sein möchten. Ich zweifle durchaus nicht an deiner Diskretion, aber ich möchte sie doch lieber nicht auf die Probe stellen, und ich ersuche dich in deinem eigenen Interesse, so lange nichts von allem etwa erschleichen zu wollen, solange es dir verhehlt wird.

In deinem eigenen Interesse, hab ich gesagt. Nicht nur, weil es leichter fällt, nicht zu stöbern als zu schweigen, sondern auch aus Gründen wie diesen:

Unsere Sache ist im Grunde eine Sache des Geschäfts. Ein gediegener Kaufmann wird mir sehr zum Vorteil sein. Wir werden reich werden, mein Neffchen, milliardenreich. Aber du mußt mich in Frieden an deinem Glück schmieden lassen, mußt dich von heut an als ein Mann von Takt erweisen, der meine Befehle streng respektiert, wenn ich dich als Associé wünsche.

Und überdem bin ich nicht der einzige bei diesem Unternehmen. Es könnte sein und es war dem so, daß du etwaige Handlungen, die der Regel, die ich dir auferlege, zuwider wären ... bereuen müßtest ... grausam bereuen müßtest ... viel grausamer noch, als du dir je denken magst.

Übe dich denn in der Indifferenz, mein bester Neffe. Sieh nichts, sei blind, hör nichts, sei taub, begreife nichts, sei stumpf und wie tot, auf daß du steinreich wirst... und auf daß du ... nicht um dein junges ... blühendes ... Leben ... kommst.

Denn oh! Denn oh! Die Indifferenz ist keine allzu leichte Tugend ... übrigens ... hier auf Fonval! Hier draußen sind just seit dieser Nacht Dinge, die nicht draußen sein sollten und die nur aus Versehen draußen sind...«

Bei diesen Worten fuhr jähe Wut aus Lerne heraus, und er ballte die Fäuste ins Leere und brummte ...

— Wilhelm! Blödsinniger Tölpel, du!

Nun war ich sicher, daß ansehnliche Geheimnisse hier umliefen und mir, sowie ich sie einmal gestellt hätte, manche niedliche Überraschung ablassen müßten. Von den Versprechungen des Doktors und von seinen Drohungen hielt ich nicht einen Hauch, und seine Reden hatten mich weder so sehr bekehren noch so sehr einschüchtern können, als mich mein lieber Onkel mit ihnen zum Gehorsam haben wollte.

Ich tat sehr kalt:

»Und ... das ist alles, was Sie von mir verlangen?«

»Nein. Nur ist dieses folgende ... Verbot anderer Art, mein Nicolas. Jetzt sofort — im Schloß — will ich dich wem vorstellen. Es ist wer, den ich hier aufgenommen habe ... ein junges Mädchen ...«

Ich tat eine Bewegung höchster Überraschung, und Lerne erriet, wessen ich ihn beschuldigen mochte.

—Nein, nein, nein, nein, so rief er, dies Kind ist meine Freundin und sonst nichts weiter! Aber gleichwohl ist mir diese Freundschaft ein Teures, und es würde mir großen Schmerz bereiten, sie durch ein Gefühl, das ich nicht mehr einflößen kann, herabgemindert zu wissen. Kurz, Nicolas, sagte er sehr rasch und nicht ohne Scham, — ich verlange von dir den Eid, meinem Schützling nicht den Hof zu machen.

Ich war von einem solchen entwürdigenden Ansinnen und mehr noch von einem solchen Mangel an Delikatesse auf das peinlichste berührt. Aber ich dachte, es gibt keine Eifersucht ohne Liebe so wie ohne Feuer keinen Rauch ...

— Für wen halten Sie mich, Onkel? Genügt es nicht, daß ich Ihr Gast...

— Sehr gut. Ich erkenne meine Physiologie wieder und die Art und Weise, nach ihr zu tun. Ich kann also auf dich rechnen?... Du schwörst es?... Gut.

Was sie betrifft, fügte er mit einem erfahrenen Lächeln bei, bin ich im Augenblick beruhigt. Sie hat es letzthin gesehen, wie ich mit Galanen verfahre ... Und ich möchte dir nicht raten, es in diesem Sinne zu versuchen ...

Lerne hatte sich erhoben und sah mich, die Hände in den Taschen, die Pfeife zwischen den Zähnen, scharf, spöttisch und herausfordernd an. — Dieser Meister-Physiologe flößte mir einen unbezähmbaren Widerwillen ein.

Dann gingen wir weiter durch den Park.

— Übrigens, sprichst du Deutsch? sprach der Professor.

— Nein, Onkel. Ich versteh nur Französisch und Spanisch.

— Auch nicht einmal Englisch? Mager, mager für einen zukünftigen Kaufmannskönig! Man hat dich nichts Großes gelehrt.

(Anderes, Onkelchen, anderes! Ich hab angefangen, die Augen groß aufzutun, die ihr mir zu schließen befohlen habt, und ich sah schon, daß dieser euer Verweis, eure satte Physiognomik sich falsch erwies ...)

Wir kamen die Felswand lang ans äußerste Parkende; das Schloß reckte seine zwei Seitenflügel und ragte verfallen aus allem Dickicht.

In diesem Augenblick fiel mir das Sonderbare an einer Taube auf: wie sie Kreise beschrieb, mit immer schnellerem Flügelschlag, hochan, in immer enger werdenden Ringen, und von dem schwindeligen Flug dann steil abstürzte.

— Sieh dir doch dieses Beet Rosen an. So was von Dornen. Sie sind ohne alle Kultur wieder das geworden, was sie einst waren: wilde, gelbe...

— Sieh doch die Taube! Wie sonderbar! bemerkte ich.

— Nein, sieh doch die Blumen! beharrte Lerne.

— Als ob sie angeschossen wäre ... Wie's auf der Jagd zuweilen ist. Sie steigt, steigt, steigt und stirbt in der höchsten Höhe...

— Wenn du nicht auf deine Füße siehst, stolperst du in den Dornen. Herrgott! Mein Freundchen — so paß doch auf!

Die Warnung, so eilig, brummig und drohend, war ganz und gar nicht am Platz. Höchst überflüssig.

Aber der Vogel da droben, der hatte das höchste Ende seiner Spirale erreicht — da! — und fiel nun purzelnd und überschlug sich viele Male. Schlug auf den Felsen nicht weit von uns auf und sank leblos ins Dickicht...

Warum war denn der Professor jählings so unruhig geworden? Und was bewog ihn zu solchem Geschwindschritt? Ich fragte mich's noch — da fiel ihm seine ansehnliche Pfeife aus dem Mund. Eilends hob ich sie auf und konnte nicht anders und stieß einen Laut höchster Überraschung aus: Er hatte das Mundstück glatt und wild abgebissen.

Unter einem deutschen Wort, zweifellos einem Gewohnheitsfluch ...

Da stürzte uns ein dickes Frauenzimmer mit fliegender blauer Schürze in die Quere.

Man sah es: Solche Leibesübung war dem Geschöpf sehr exzeptionell und konträr. Es schüttelte sie gefährlich, und mit Armen und Händen hielt sie an sich und preßte und schützte solcherweise irgendzwei ihr teure, widerspenstige und enorme Massen. Als sie uns sah, hielt sie — was unmöglich schien — mit einem Ruck an. Dann wollte sie sich anscheinend rückwärts empfehlen, setzte aber trotzdem ihren Weg fort, eine Armesündermiene auf, wie ein Schulmädchen, das sich was hat zu schulden kommen lassen. — Sie ahnte ihr Los.

Lerne fuhr sie an:

— Barbara! Was machen Sie da? Haben Sie vergessen ... ich habe Ihnen doch strengstens verboten, sich außerhalb der Weide je mit einem Auge blicken zu lassen! O Sie — Sie jag ich doch noch zum Teufel, aber nicht, ohne daß Sie erst Ihre Tracht abbekommen hätten, Sie — Sie wissen schon!

Das dicke Weib war in unendlicher Furcht. Nun wollte sie fein tun, machte einen Mund, als ob sie Eier legen wollte, und entschuldigte sich: Von der Küche aus, da hätte sie die Taube fallen sehen und sich alsogleich gedacht, daß das einen Zuwachs zum Menü gäbe. »Man aß die ewig gleichen Schüsseln ...«

— ... Ja, und dann, sagte sie stupide, und dann glaubte ich nicht, daß Sie im Garten wären, ich meinte, Sie wären im Lab...

Eine brutale Ohrfeige hielt sie auf der ersten Silbe schon an — des Wortes »Labyrinth«, wie ich folgerte.

— Aber — Onkel! rief ich mit Entrüstung.

— Und nun scher dich und räum dich fort! Das einfachste von der Welt... ja?

Das geängstete Wesen weinte nicht. Sie bekam den Schlucken, so sehr staute sie alles Schluchzen zurück. Und ganz weiß war sie, und nur auf der einen Backe brannte rot das Mal von Lernes Knochenhand.

— Hol das Gepäck von diesem Herrn aus der Remise, und bring es auf das Löwenzimmer!

(Dieses lag im ersten Stock im westlichen Flügel.)

— Aber Onkel, wollen Sie mir nicht mein altes Zimmer anweisen?

— Was für eins?

— Was für eins? Aber ... das parterre, das gelbe, auf der Ostseite; Sie wissen doch ...

— Nein. Das brauche ich, schnitt er trocken ab. Marsch, Barbara!

Die Köchin machte sich so schnell sie konnte aus dem Staub. Und schleppte und preßte von ihrer vorderen Person zwei Arme voll, während die Kehrseite, allen Veränderlichkeiten des Schicksals ausgesetzt, frei schaukelte und kugelig rollte.

Zur Rechten der Teich. Unbeweglich. Unser schweigsamer Weg glitt über ihn hin wie ein Traum über einen lethargischen Schlaf.

Und von Schritt zu Schritt packte mich größere Verwunderung an.

Dennoch hütete ich mich sehr wohl, allzu überrascht zu scheinen, als ich mit einemmal ein Gebäu aus grauem Stein gewahr ward, das an die Felswand anstieß und ganz geräumig und ganz neu war. Es umfaßte zwei durch einen Hof getrennte Hauptgebäude. Eine hohe Mauer und darin ein augenblicklich geschlossener Torweg erlaubten mir nicht, da hineinzuschauen, aber Glucksen von Federvieh drang heraus, und nun witterte uns ein Hund und schlug an.

Ich riskierte verwegen genug: — Sie lassen mich wohl die Farm da ansehn?

Lerne zuckte mit den Schultern:

— Vielleicht, vielleicht. - Dann rief er gegen das Haus hin:

— Wilhelm! Wilhelm!

Der Deutsche, der mit dem Gesicht wie eine Sonnenuhr, öffnete eine Dachluke, und der Professor fuhr ihn in seiner Muttersprache derart heftig an, daß der Arme am ganzen Leibe zu zittern anfing.

»Donnerwetter!« sagte ich mir. »Das haben wir also dir zu verdanken und deiner Unachtsamkeit, daß es seit dieser Nacht da draußen Dinge gibt, die doch nicht draußen sein sollen — sicher, sicher!«

Nach vollzogener Exekution gingen wir dann längs der Weide hin. Ein schwarzer Stier und vier verschiedenfarbige Kühe waren darauf, und diese Herde gab uns ohne vielen Grund das Geleite. Mein schrecklicher Anverwandter wurde lustig.

— Nicolas. Hier stelle ich dir den Jupiter vor. Hier die weiße Europa. Jo, die Rothaarige. Athor, die Blonde. Und Pasiphae mit dem Kleid von augendienernder Farbe, sei's Milch versetzt mit Tinte, sei's Kohle bemalt mit Kreide, ganz wie du willst, mein lieber Freund.

Diese Zurückrufung sehr lockerer Mythologie machte mich lächeln. Mir war in Wirklichkeit der erste Vorwand der beste, um mich ein wenig aufzuheitern. Es war mir physische Notwendigkeit. Zudem verspürte ich einen solchen Hunger, daß ihn zu stillen für mich bald die einzig interessante Frage blieb. Nur das Schloß zog mich an: ich bin's, wo du essen wirst! So daß es mich beinah davon abgehalten hätte, seine Nachbarin, das Gewächshaus, ein bißchen näher anzusehen. Und das wär bedauerlich gewesen. Man hatte an das ehemalige Blumenhaus zwei Hallen angebaut, die das ursprüngliche Rundgebäude nun ähnlich zwei bauchigen Schiffen flankierten. Mit seinen herabgelassenen Jalousien schien mir der Bau so recht den »Umständen angemessen« zu sein. Ein Palais und eine Gärtnerei zugleich. Es hatte sozusagen ein kleines großartiges Aussehen nach unerwartetsten Dingen.

Das Gewächshaus in solchem Aufputz! ... Ich wär weniger betroffen gewesen, wenn ich etwa in einem Kloster ein Liebeszaubertränklein aufgefunden hätte!

Zur Zeit meiner Tante selig war das Löwenzimmer stets für die Freunde parat gewesen. Es hatte — und hat sie noch — drei Fenster, mit Nischen so tief wie Alkoven. Das eine geht auf das Gewächshaus hinaus und hat einen Balkon. Durchs andere läßt es sich auf den Park hinschauen: Ich sehe erst die Weide und fernerhin den Teich und zwischen diesen beiden Dingen jenes Ding von einem ländlichen Kiosk, der mir dereinst der hundertarmige Riese Briareus war. Durch das dritte, seitliche Fenster endlich blickt sich's bis zum östlichen Flügel des Schlosses und zu dem — geschlossenen — Fenster meines einstigen Zimmers und perspektivisch auf die ganze Fassade des Schlosses, so daß einem hier alle Aussicht nach links benommen ist.

Wie in einem Gasthof bin ich hier. Nichts erinnert an etwas. Alles mit Jouyer-Linnen ausgespannt, das von Wandschweiß marmoriert und in einem Winkel schon völlig herabgerissen ist, und als Muster eingewebt: eine Menge roter Löwen, die jeder eine Kugel mit der Tatze festhalten. Und auch die Bett- und Fenstervorhänge durch all ihre Falten durch von demselbigen Stoff und derselbigen Zeichnung. Und dann sind zwei Gravüren da, die einander Seitenstücke bilden: Die Erziehung Achills und Die Entführung der Deanira Aber die Nässe hat die Gesichter der vier Gestalten wie mit Sommersprossen gefleckt, und die Rücken der Zentauren Chiron und Nessus sind durch die Feuchtigkeit wie die Hinterteile von Apfelschimmeln anzuschauen. Und dann ist noch eine schöne normannische Uhr da, so erfunden und modelliert, daß sie Sinnbild und Maß der Zeit zugleich ist ... Aber alles immer nur hübsch altmodisch ...

Ich übergoß mich mit hartem Wasser und glitt mit einem wahren Hochgenuß in frische Wäsche. — Barbara brachte mir, ohne anzuklopfen, einen Teller Bouillon, antwortete mit keiner Silbe auf all mein Beileid über ihre entzündete Backe und zwängte sich — eine enorme Sylphide — nur mühselig wieder zur Tür hinaus.

Keine Seele im Salon. Wofern nicht Schatten Seelen sind.

Du kleiner Lehnstuhl du, schwarzsamtener, mit deinen zwei gelben Quasten, mißförmig aufgedunsener und eingehockter, du glücklich zusammengerackerter, du, find ich dich so wieder, ohne daß du Frosch — ja, Frosch — auf deinem Froschrücken den Märchenerzählerinschatten meiner Tante trägst? Und muß denn der andere, schmucklosere und nichtsdestoweniger selige Schatten meiner Mutter sich vor mir nicht immer und ewig mit beiden Ellbogen auf deine Lehne stützen?

Alles, alles an seinem alten Platz. Von dem unaussprechlichen weißen Tapetenpapier mit den wülstig geflochtenen Blumengirlanden bis zu den gelben Damastlambrequins mit ihren Fransenschößen hatte sich das Werk des einstigen Herrn auf dieser Burg und Zeitgenossen der Krinoline wunderbar erhalten. Ein Hochmut von Polstern herrschte hier, auf Sofas und auf Kanapees, und war unbesiegbar in allem Fließenden und Schwellenden, Schweifenden und Wogenden der Stühle, Sessel, Lehnen, Sitz- und Liegestätten.

Und all die Wandfüllungen lang lächelte meine ganze erloschene Sippe: die Ahnen in Pastell, die Großväter in Miniaturen, mein Papa als Schüler, daguerreotypiert; und auf dem mit vieler Korb- und Blumen-, Bänder- und Fransenzier hofierten und angeprunkten Kamin waren ein paar Fotografien vor dem Spiegel aufgestellt. Ein Gruppenbild in großem Format erregte meine besondere Aufmerksamkeit. Ich ergriff es, um es näher zu sehen. Mein Onkel war darauf, und um ihn fünf Herren und ein großer Bernhardiner. Auf Fonval aufgenommen. Die Schloßmauer als Hintergrund, ein Alpenrosenstock in einem Kübel als Statisterie. Ein Amateurabzug, ohne Unterschrift. Lerne darauf strahlte von Güte, Kraft und Geist, ganz der Gelehrte, den ich hier wiederzufinden glaubte. Fünf Herren, und drei mir bekannt: die Deutschen, die andern beiden hatte ich noch nie gesehn.

Mittlerweile flog die Tür so heftig auf, daß ich keine Zeit fand, das Gruppenbild auf seinen Platz zurückzustellen. Und Lerne trieb eine junge Dame vor sich her.

— Mein Neffe, Nicolas Vermont — Fräulein Emma Bourdichet.

Fräulein Emma hatte, so war zu vermuten, soeben einen jener derben Verweise abbekommen, wie sie Lerne so sehr freigebig auszuteilen liebte. Ihr Ausdruck — ihre Verwirrung bestätigte es. Sie brachte nicht einmal den Mut zu jenem Allerweltsgesicht auf, das man in Fällen erkünstelter Artigkeit parat hat — ein flüchtiges und ungeschicktes Kopfneigen war alles.

Ich, der ich mich groß verneigt hatte, ich wagte die Augen nicht aufzuheben, aus Furcht, mein Onkel könnte in meiner Seele lesen. Meiner Seele? — Falls man darunter nur das Gewöhnliche, nur die Summe jener Eigenschaften verstehen will, aus denen resultiert, daß der Mensch das einzige etwas höhergeartete Tier sei, so brauche ich, denke ich, meine Seele in dieser Sache gar nicht erst bloßzustellen. So ist es besser so ...

O ich weiß gar wohl: wenn alle und jede und selbst die reinste Liebe im Grunde nichts anderes ist als bestialische Brunst des Geschlechts, so veredeln doch Verehrung und Freundschaft zuweilen den ganzen Menschen.

Ach! Meine Leidenschaft für Emma blieb immer uranfänglich. Wenn ein Fragonard unsere erste Begegnung festhalten und unsere Liebe in der Manier des achtzehnten Jahrhunderts malen wollte, dann würde ich ihm raten, erst die Studie eines kleinen Eros mit hohen Ziegenbockbeinen anzufertigen, einen faunischen Kupido ohne Lächeln und ohne Flügel; mit hölzernen Pfeilen in einem Köcher aus Borke und mit blutigen Pfeilen, und das alles könnte ohne jeden Nachteil sodann Pan genannt werden. Das heißt universelle Liebe, fruchtbare Lust, die nicht anders kann, arglistiges, zu Geburten und zu Vaterschaften anstifterisches Laster, das ist der sensuale Herr des Lebens, der nur und ewig auf Nester und Herde, auf Streulager und auf Bettstellen aus ist und der Fräulein Bourdichet und mich wie stets aufgelegte Kaninchen aufeinander losließ.

Gibt's verschiedene Grade Weiblichkeit? Dann sah ich nie ein Weib, das mehr und soviel Weib als Emma war. Ich möchte sie noch nicht beschreiben, noch war sie mir nicht Objekt, nur Zustand. Schön? Über allen Zweifel. Begehrenswert? Fast eher noch als auf den ersten Blick.

Gleichwohl erinnere ich mich ihres feuerfarbenen Haars, von einem verfinsterten, vielleicht kühnlich und künstlich verfärbten Rot. Und das Bild ihres Leibes verschlingt meine todsüchtige Gier. Da ist etwas zu so seltener Vollkommenheit aufgeblüht und ausgerundet, da sind just jene Umrisse und Linien so verführerisch, von denen die weise und um alle Wahl bekümmerte Natur zum Schaden aller platten Weiber ewig in den Hirnen der Männer sagt und singt ... o und alle Kleider meiner Emma können jenes strahlend Rundliche nicht auslöschen, und sie tun so gewissenhaft und als wüßten sie um das Verdienst, etwas von jenem Wunder durchscheinen zu lassen: daß gewisse Schönheiten zwiefach vorhanden sind ... so wie die Bildhauer und Malersleute heiß bestrebt sind, manches gerade allen Hüllen zum Trotz zu enthüllen.

Das Schönste, Schönste, Schönste an diesem anbetungswürdigen Geschöpf ...

Mein Blut stieß wild gegen meine Schädelwand ... und jäh ergriff mich tollste Eifersucht. Nur für den einen Fall hätt ich auf das junge Weib verzichtet, nur für den einen Fall, daß sie nie mehr ein anderer auch nur mit den Augen anrühren sollte. Und hatte mir Lerne erst mißfallen, jetzt war er mir scheußlich. Von Stund an? Von Stund an würde ich bleiben — um jeden Preis, um alle Welt.

Zu reden galt's. Der Anstoß war so jählings und umwerfend gewesen, und ich wollte von allem, das mich im Tiefsten aufgebracht hatte, so wenig und gar nichts verraten, daß ich vor Desperatheit stammelte:

— Sehen Sie nur, Onkel, ich war eben dabei, mir diese Fotografie anzusehen.

— Ah ja! Ich und meine Gehilfen: Wilhelm, Karl, Johann. Und das hier ist der Herr Mac-Bell, mein Schüler. Er ist sehr gut getroffen ... was sagst du, Emma? Er hielt ihr das Bild unter die Nase, daß sie den nach Amerikanerart ganz glattrasierten, magern, kleinen und jungen Herrn in distinguierter Haltung sähe, wie er sich auf den Bernhardiner stützte.

— Ein schmucker und ein geistreicher Kerl, was? spöttelte der Professor. Der Ausbund von einem Schotten!

Emma aber verriet sich nicht, so sehr sie erschrocken war. Sie sprach nur deutlich und umständlich dies aus:

— Seine Nelly war sehr amüsant mit ihren gescheiten Kunststücken...

— Und Mac-Bell? stichelte mein Onkel. War der etwa nicht amüsant?

Als ein Symptom von nahen Tränen zuckte es ihr ums Kinn. Sie murmelte:

— Unglücklicher Mac-Bell!

— Ja, sagte Lerne zu mir, wie er mein verdutztes Gesicht sah, Herr Doniphan Mac-Beil mußte seine Stelle hier infolge von bedauerlichen Verwicklungen aufgeben. Möge dir das Schicksal derartige Katzenjämmerlichkeiten ersparen, Nicolas!

— Und der andere? sagte ich, nur um das Gespräch auf was anderes zu bringen. Der andere, der Herr da mit dem Schnauzbart und dem braunen Backenbart, wer ist denn das?

— Der ist gleichfalls fort.

— Herr Doktor Klotz, sagte Emma und war ein wenig ausgesöhnt und hatte ihre Ruhe wiedergefunden. Otto Klotz; oh! Er, der...

Lernes Augen wurden schrecklich, und ein Blick aus ihnen machte das Mädchen verstummen. Ich vermag nicht zu sagen, welche Art der Züchtigung der Blick androhte, aber etwas wie Krampf streckte den armen jungen Weibleib.

Da zwängte sich die eine opulente Hälfte der Barbara herein und tat so, als ob angerichtet sei.

Sie hatte nur drei Kuverts im Speisesaal aufgelegt. Die Deutschen sollten demnach in ihrem grauen Gebäu bleiben.

Das Frühstück fiel grämlich aus. Fräulein Bourdichet wagte keine Silbe mehr, aß nichts, und demgemäß konnte ich nichts weiter aus ihr herauslesen ... der Sehreck egalisiert uns Wesen eben alle.

Übrigens quälte mich der Schlaf. Nach dem Dessert bat ich um die Erlaubnis, mich schlafen legen zu dürfen, und bat, man möge mich vor dem nächsten Morgen nicht wecken.

Auf meinem Zimmer angelangt, begann ich sofort mit Auskleiden. Ich muß sagen, ich war kreuzlahm von aller Reise, aller Nacht und all dem heutigen Vormittag. Zu viel der Rätsel auf einmal. Wie in einem Rausch war mir, und Nebel, verschwommen von überallher Sphinxgesichter.

Meine Hosenträger sollten aufgehen ... Sie gingen nicht auf. Draußen ging Lerne, von seinen drei Gehilfen begleitet, auf das graue Gebäude hin.

Sie wollen dort drinnen arbeiten, sagte ich mir, unzweifelhaft dort drinnen arbeiten ... Niemand beaufsichtigt mich; man hat keine Zeit gehabt, Vorsichtsmaßregeln zu treffen; der Onkel ist überzeugt davon, daß ich schlafe ... Nicolas — jetzt — jetzt oder nie! ... Was zuerst? Emma? Oder das Geheimnis? ... Hm, die Kleine ist hübsch verstört heut ... Was das Geheimnis angeht ...

Ich zog die Jacke wieder an und wanderte mechanisch von Fenster zu Fenster.

Da ... durchs Ziergitter des Balkons ... stand das Gewächshaus mit seinen geheimnisvollen neuen Anbauten. Versperrt, untersagt, verlockend ...

Hinaus — verstohlen — auf unhörbaren Sohlen.


3. Kapitel

Das Gewächshaus

Wie ich draußen bin und völlig ungedeckt, ist mir's, als ob alles auf mich lauerte. Und ich warf mich auf das schleunigste in ein kleines, ans Gewächshaus anstoßendes Hölzchen. Dann pirschte ich mich quer durch all das Dorngestrüpp und Schlinggewächse an.

Sehr, sehr heiß war's. Und nur äußerst mühsam schob ich mich vorwärts. Ich mußte tausendfach Vorsicht üben, um ja keine Kratzwunden und keine verräterischen Risse in meinen Kleidern abzubekommen.

Endlich wölbte sich das Gewächshaus groß vor mir, mit seinem mittleren Dom und seinem einen runden Kreuzgang. Ich war seitlich herangekommen und hielt's für das beste, nun erst ordentlich Ausschau zu halten, ohne das mich deckende Hölzchen zu verlassen.

Was mich sofort ungemein erstaunte: Der Bau war durchaus proper, in vollkommen erhaltenem Zustande; nicht ein Pflasterstein locker: auch jeder Stein der Grundmauer ganz; die sorgfältig eingefügten Jalousien hatten all ihre Latten, und durch die feinen gleichmäßigen Ritzen glühten die Fensterscheiben im Sonnenlicht.

Ich lauschte. Kein Laut vom Schloß her, und keiner vom grauen Gebäu herüber. Und im Gewächshaus selber völlig Stille. Nur das ungeheure Schwingen eines brennenden Nachmittags.

Ich faßte mir ein Herz. Ganz heimlich herangemacht ... eine der Holzjalousien gelüpft ... und durch die Scheiben geguckt. Aber ich sah nichts: man hatte sie auf der Innenseite mit einer weißlichen Substanz gefirnißt. Mir wurde es immer wahrscheinlicher, daß Lerne das Treibhaus seiner ursprünglichen Bestimmung entzogen hatte und sich heutigentags da ganz anderen als Blumenkulturen hingab. Der Gedanke an Mikroben-Bouillons, die unter solchem Feuer wie hier schmoren sollten, schien mir ziemlich glücklich.

Immer mehr ums Glashaus herum. Aber allenthalben hinderte mich der gleiche Firnis — mehr oder weniger dick aufgetragen, wie mir schien — am Durchsehn. — Die Klappfenster wider alles Erwarten sehr hoch. Die Flügelanbauten hatten keine Türen. Von hinten her war da kein Eindringen.

Wie ich schließlich ganz herumkam und auf der weiten Reise Stein sowie Glas gleicherweise undurchlässig befunden hatte, stand ich wieder dem Schloß und meinem Balkon grad gegenüber. Aber da war ich ohne alle Deckung und also in einer höchst gefährlichen Situation. Kriegsmüde mußte und wollte ich den Rückzug auf mein Zimmer antreten und das angebliche Bazillenpalais im Stich lassen, ohne seiner Fassade einen gründlichen Besuch abgestattet zu haben, als ein letzter verlockendster Blick, den ich tun konnte, mir unversehens das Geheimnis auftat.

Wohl war die Tür gegen das Schloß geworfen worden, aber nicht ins Schloß. Der Riegel, der mit seiner ganzen Länge vorstand, verriet, daß ein höchst Unbesonnener geglaubt hatte, da richtig zweimal abzuschließen ... Ach Wilhelmchen! Mit deiner köstlichen, unbezahlbaren Fahrigkeit!

Aber schon beim Eintreten waren all meine bakteriologischen Hypothesen zunichte. Eine Wolke von Blumengerüchen nahm mich auf, eine feuchte und lauwarme Wolke, durchwürzt mit Nikotin.

Ich hielt auf der Schwelle an. Aufs höchste verwundert. Kein und auch kein königliches — Treibhaus hat auf mich je einen solchen Eindruck gemacht, wie ich ihn hier empfand: welch zügelloser Luxus. Das lief um mich, umkreiste mich, betörte mich, blendete mich. Die ganze Skala singenden Grüns ... die Blätter waren die Tasten ... die vielfarbigen Töne der Blüten und Früchte ... das war ein Dom, und da ward ein Farbensang aufgespielt, kuppelan, immer mächtiger, immer brausender.

Aber das Auge gewöhnte sich dran, und meine Bewunderung sank ein wenig. Dieser Wintergarten konnte nur auf den ersten Blick so bezwingen. Indem er aus lauter Gewächsen bestand, von denen jedes für sich allein auffiel. In Wirklichkeit war da nirgends ein Trachten nach Harmonie. Das war alles disziplinarisch aufgestellt, in Kommandoreihen, ohne jede Eleganz und ohne allen Geist: ... so wie ein Eldorado, das einem Schutzmann ausgeliefert ist. Auf das plumpste kategorisiert, die Töpfe zu militärischen Reihen ausgerichtet, und jeder trug eine Etikette, darauf eine Wachtmeisterfaust ungleich mehr von der Botanik als vom Gartenbau »notierte« und viel weniger von aller Kunst als von der Wissenschaft »anzeigte«. — Das gab zu denken. Und wie durfte ich übrigens auch nur einen Augenblick annehmen, daß Lerne heute noch etwa Gärtner aus Liebhaberei war?

Ich ließ den Blick voll Entzücken weiterhin forschend über die Wunder hingehen und war unwissend genug und wußte nicht eines der Wunder mit Namen zu nennen. Aber ich versuchte es immerhin, ganz mechanisch, und plötzlich ward all die Üppigkeit, die mir erst so überaus selten und vielleicht exotisch vorkam, zu dem, was sie in Wirklichkeit war ...

Ungläubig und von einer fieberischen Neugier ergriffen, ersah ich einen Kaktus ... wie aufgeregt und unfähig zu allem ich auch sein mochte, ich konnte mich darin unmöglich täuschen. Aber seine rote Blüte verwirrte mich ... Ich betrachtete ihn fast übergenau, und meine Verwirrung steigerte sich nur ...

Nun gab's kein Schwanken mehr: Diese vom Teufel besessene Blume, die sich meinen Blicken empörend frech preisgab, diese Zauberrakete, die grün aufschoß, um in eitel Feuersternen zu explodieren, sie war ... ein Storchschnabel!

Die nächste: Drei Bambusrohre wuchsen aus dem Dünger, aber ihre kleinen Säulen waren an Stelle von Blütenknäufen mit ... Dahlien bedeckt!

Erschrocken und all die widernatürlichen Parfüms in kurzen Stößen einatmend, sah ich ringsum und prüfte und fand diese merkwürdige Inkohärenz überall bestätigt.

Frühling, Sommer und Herbst, die herrschten im Verein hier, den Winter aber, der die Blüten wie Flammen ausweht, den hatte Lerne zweifellos gänzlich ausgeschaltet. Alles und jedes war da und blühte und war nah der Frucht, aber keines und keins hatte auf seinem Stiel oder Holz natürlich ausgeschlagen.

Blaues Kornblumenvolk besetzte einen Schaft, der all seiner Stockrosen entäußert war und hinfort wie ein blauer Thyrsus schwang. Eine Araukaria blühte am Ende ihrer stachligen Zweige mit indigofarbenen Enzianglocken. Und ein Spalier entlang verschwisterten sich unter Kapuzinerkresse und auf dem netzartigen Geflecht der vielverschlungenen Stengel Kamelien mit buntscheckigen Tulpen.

Der Eingangstür gegenüber starrte dickes Gesträuch gegen die Glaswand. Eine Staudenart fiel vor allem auf und zog mich an. Birnen trug sie und war doch ein ... Pomeranzenbaum. Hinter ihr flochten sich — als wie aus dem Lande Kanaan, so sehr gesegnet — zwei Rebenstöcke um ein Weingeländer; ihre Riesentrauben waren verschieden, diese waren gelb, jene waren weinrot, aber jede Beere war hier eine Mirabelle und dort eine Norberte.

Dann sah man im Astwerk einer Zwergeiche, darin mehrere Eicheln immerhin widerspenstig aufbrachen, Walnüsse und Kirschen beieinander. Eine der Früchte aber war nicht zur Reife gekommen: nicht grüne Nußschale und nicht rotes Kirschgewand, ein graugrüner, etwas geröteter mißgestaltiger widriger Knorren.

Statt mit harzigen Äpfeln besternte sich eine Tanne strahlend wie ein Weihnachtsbaum mit Maronen und behing sich zu noch festlicherem Glanz mit goldkugeligen Apfelsinen, den Sonnen der Obstgärten des Orients, und mit Mispeln, den wie Nachgeborenen eines zu Tod erstarrten Baums.

Nicht weit davon geschahen noch vollendetere Wunder. Flora, von Pomona geküßt, wie der gute Demoustiers geschrieben hätte. Die meisten der hier angeführten Pflanzen waren mir fremd, ich behielt nur die gewöhnlichsten und schreibe sie auf und beschreibe sie ... Einer erstaunlichen Weide erinnere ich mich soeben noch, die Hortensien und Pfingstrosen trug und Pfirsiche und Erdbeeren. Aber das hübscheste von all den Bastarddingen war doch wohl jener mit chinesischen Astern überblühte und mit Borsdorfer Äpfeln behangene Rosenstock!

In der Mitte des Rundbaus verwechselte ein Busch mit verzweifeltem Blattwerk unablässig Stechpalmen, Lindenblüten und Pappellaub. Ich bog das alles auseinander und sah: alle drei entwuchsen ein und demselben Stamm.

Das war der Triumph der Pfropfkunst, einer Wissenschaft, die Lerne fünfzehn Jahre hindurch bis zum Wunder gesteigert hatte. Und das Schauspiel, das die Resultate einem darboten, war beunruhigend. — Der Mensch, der das Leben aus seinem Lauf abbiegt, fabriziert Ungeheuer. — Unbehaglich war mir; ich war wie in Not.

»Was für ein Recht maßt der sich an, der so alle Kreatur aufstört und verwirrt?« dachte ich bei mir. »Wo ist die Erlaubnis, kraft der einer solcherart die alten Gesetze durcheinanderrütteln darf? Ist das nicht ein sakrilegisch Spiel und ein Majestätsverbrechen an allem Gottesgnadentum der Natur? ... Wenn all die Trügereien und Tricks noch nach dem guten Geschmack wären! Aber das alles ergibt nicht einmal neue Wahrheit, das sind nur bunteste und bizarrste Ehen, pflanzliche Trugbilder, Blumen-Faunsgestalten, Zwitter über Zwitter ... Gleichviel, ob solche Aufgaben graziöse Endspiele ergeben oder nicht ergeben, es ist ruch- und gottlos, und damit fertig!«

Es schien — der Professor war von blutdürstigstem Eifer befallen. Die ganze Ausstellung hier bestätigte es; und noch andere Indizien redeten für den Gelehrten: auf einem Tisch sah ich zahllose Phiolen, Pfropfmesser und Gärtnereigeräte, die wie chirurgische Instrumente blitzten. Und daß ich sie glücklich bemerkte, dies brachte mich neu auf die Blumen, und ich erfuhr alsbald alles Elend und alle Erbärmlichkeit.

Sie waren mit allerlei Kleister verkittet, die Blumen, und vielfach als hätten sie Wunden — unterbunden — und wiesen — so wie Operierte — tiefe Einschnitte auf, in denen zweifelhafte Essenzen sickerten.

Ein großer Riß klaffte in der Rinde des Pomeranzenbaumes mit den Birnen. Er war wie ein Auge, und das Auge weinte still. Wie ein Schwächeanfall überkam's mich ... Sollte man es glauben? Eine kindische Angst ergriff mich, als ich die Eiche ... um ein paar Kirschen ... die mir wie rote Tropfen schienen ... operiert und übel zugerichtet sah. Tapp! Tapp! Zwei reife fielen zu meinen Füßen nieder wie erste Regentropfen ...

Ich brachte schon nicht mehr so viel Sicherheit auf, um die Etiketten zu lesen! Überall ein paar Daten drauf, von Lerne, in französisch-deutschen Zeichen, unleserlich, und zudem noch viele Male ausgestrichen.

Mit gespitzten Ohren, aber die Stirn tief in den Händen, mußte ich mir einen Augenblick Ruhe gönnen, um meine Kaltblütigkeit wiederzuerlangen ... und dann tat ich die Tür zum rechten Flügel auf.

Wie ein kleines Schiff lief der Raum vor mir hin. Seine gefensterte Wölbung ließ das Tageslicht ein und schwächte es bis zu blauem, aber seltsam kühlem Halbschatten. Meine Schritte sangen auf dem Quadersteinpflaster.

In dieser Kammer strahlten drei spiegelglatte Aquarien, drei Kufen aus so durchsichtigem Kristall, daß man vermeinte, ihr Wasser stehe ganz von selber in drei geometrischen Blöcken da.

Die zwei seitwärts befindlichen Aquarien enthielten Meerpflanzen. Und der Inhalt dieser beiden schien gar nicht voneinander verschieden. Indessen hatte mich der große Rundbau wohl gelehrt, nach welcher Methode Lerne jedes Ding klassifizierte, und ich durfte daher nicht annehmen, daß er in zwei Bassins absolut Identisches auseinandergeschieden hätte. Ich betrachtete jetzt die Algen nur um so genauer.

Die Büschel bildeten da wie dort die gleiche submarine Landschaft. Zur Rechten wie drüben zur Linken: in allen möglichen Farben die gleichen starren vielgeästelten baumartigen Formationen, wie sie kleine Klippen überkrusteten; der Sandboden mit Sternen wie Edelweiß bestreut; und da und dort sprangen kreidige Rutenbündel heraus, an deren Spitzen sich eine Art fleischige gelbe oder violette Wucherblume entfaltete. Ich vermag hier nicht auch noch all die andern Blumenkronen und -krönungen zu beschreiben; oft ähnelten sie wächsernen und oft gallertartigen fettigen Blumenkelchen. Die meisten waren von einer unsagbaren Färbung und ganz veränderlichen, unnachweisbaren Konturen — oft sogar nur wie eine Schattierung des Wassers.

Zu Tausenden entsprangen Blasen inwendigen Hähnen, und ihre stürmischen Perlen kreisten wie vernarrt um die Bäumchen, eh sie zum Wasserspiegel aufflogen und platzten. Wer sie sah, der vermeinte, sie müßten diesem im Wasser gebadeten Gärtchen jeder einen Kuß voll Luft und Atem mitbringen.

Ich kramte Lyzeumserinnerungen aus und bestätigte mir so, daß diese beiden, nur in Einzelheiten unähnlichen Blütenstände sich ausschließlich aus Polypen, aus jenen problematischen Organismen, Korallen und Schwämmen zusammensetzten, die der Naturforscher zwischen Pflanze und Tier einschaltet.

Ihr Doppelsinn verfehlt nie, unser Interesse zu erregen ... Ich klopfte ein wenig gegen die Kufe links.

Alsbald geschah etwas Unerwartetes ... es schwamm etwas auf dem Wasser durch Kontraktion, wie ein opalartiger venetianischer Becher, der geschmeidig geblieben war; ein zweiter, purpurner kreuzte ihn: und siehe, es waren zwei Meersterne. Und nur jenes Antippen mit meinem Finger hatte diese Bewegungen hervorgerufen. Diese gelben oder malvenfarbigen Pompons, die sich gebärdeten, wurden rhythmisch jetzt in die Kalktuben eingezogen und jetzt wieder herausgestreckt; die Strahlen der Seesterne arbeiteten faul; graue, hoch rosenrote, safranfarbene wellten und wogten, und wie durch eine Neer rührte sich das ganze Aquarium.

Ich klopfte jetzt gegen die Kufe rechts. Ohne alle Regung aber blieb's da.

Das war mir ein Beweisgrund.

Diese Absonderung der Polypen in zwei Behälter hatte mich instand gesetzt, die Verbindung zwischen beiden, die wahrscheinliche Vereinigung von Tier und Pflanze zu einem Wesen im Grashalm zu begreifen. In zwei solche Reiche geschieden, waren die — aktiven — Kreaturen links auf der untergeordneten Sprosse der Skala aller Lebewesen, und die — unbeseelten — zur Rechten auf der höchsten Sprosse der Skala ihrerseits; die einen fingen eben an, Tier zu werden, während die ändern gerade noch Pflanzen waren.

So reduzierte sich der ungeheure Abgrund, der diese beiden Antithesen des Lebens für immer scheiden wollte, auf die Anordnung schwacher, fast unsichtbarer Divergenzen, ein viel weniger schlagender Unterschied als der Kontrast zwischen einem Wolf und einem Fuchs, die gleichwohl Doppelgänger und gleichwohl Brüder sind.

Wohlan! Diesen unendlich kleinen Unterschied in der Organisation, den jedoch die Wissenschaft für unüberschreitbar ansieht, da ja hier Trägheit und Bewegung aus sich selbst einander die Waage halten ... diesen Unterschied hatte Lerne überschritten. Im dritten Bassin waren diese beiden Arten eine auf die andere gepfropft. Darin sah ich ein gallertartiges Kelchblatt von der unempfindlichen Gattung auf einen beweglichen Blumenstiefel übertragen, und dieses — bewegte sich jetzt. Das aufgepfropfte nahm den Zustand der Pflanze an, die es trug: von dem lebenskräftigen Saft durchdrungen, belebte sich das Indifferente, und die Aktivität paralysierte sich, indem die Ankylose ausgesaugt wurde.

Ich hätte gerne die verschiedenen Anwendungen dieses Prinzips näher studiert ... Aber da war ein Meerstern wohl die hundert Mal in ich weiß nicht wen verstrickt und stieß so scheußlich verliebt unter dem moosartigen Geflecht aus, daß ich mich angeekelt abwenden mußte. Diese letzte Etappe aller Impfkunst machte für mich das Maß der Schändung überlaufen. Und meine Blicke sahen sich in diesem blauen Dämmer nach weniger aufreizenden Bildern um ...

Die Werkzeuge des Professors kamen alsdann. Eine Etagère bildete eine ganze Apotheke. Vier mit Glasplatten belegte Tische folgten auf die Aquarien — mit einem Arsenal von Messern und Folterzangen ...

Nein, nein! Lerne hatte kein Recht zu alldem! ... Das war gemein, das war wie töten! Das war noch schlimmer als töten! Diese scheußlichen Praktiken an der jungfräulichen Natur bezichtigten ihn zugleich schändlichen Mords und schmählicher Notzucht! ... Noch während ich auf so edle Weise ergrimmte — war ein Geräusch. Man klopfte.

Ah! Wenn meine Ohren einst verdammt sein werden, wird ihre Verdammnis dies sein: jenseits des Grabes solch feine Hammerschläge des Nichts hören zu müssen! — Ich spürte alle meine Nerven in diesem Augenblick! Es klopfte wer!

Mit einem Satz war ich im Rundbau, und mein Gesicht muß fürchterlich dreingesehen haben. Instinktiv trieb mich das Grauen vor einem Feind an, so fürchterlich dreinzuschauen.

Kein Mensch in der Tür. — Kein Mensch im ganzen Raum. — Ich eilte wieder zurück.

Das Geräusch hub von neuem an ... Es kam aus dem andern Flügelanbau, darin ich noch nicht gewesen war ... Ich verlor den Kopf. Lief sinnlos. Ob ich nun im nächsten Augenblick der Gefahr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würde oder nicht. Dermaßen toll, daß ich mit dem Kopf gegen die Tür rannte, die ich aufriß.

Aufregung und Übermüdung hatten mich so schwach gemacht. Und ich frage mich heute noch, ob nicht bei all diesem ein gut Teil Halluzination mitgeholfen haben mag, so daß ich die Dinge bizarrer sah, als sie waren.

Eine durchdringende Helligkeit herrschte in der dritten Halle, und ich faßte alsogleich wieder Mut. Auf einem Ladentisch war ein Käfig — das Unterste zuoberst — und machte Luftsprünge, weil eine Ratte drin eingefangen war. Wenn die Ratte hüpfte, hüpfte die Falle: daher das Geräusch. Als das Nagetier mich gewahrte, verhielt sich's ruhig. Ich konnte diesem komischen Intermezzo keine Wichtigkeit beimessen.

Dieser Raum war im Vergleich zu den beiden andern in großer Unordnung. Wie gar nicht instand gehalten. Aber beschmutzte und weggeworfene Handtücher und willkürlich durcheinander liegende anatomische Messer und halbvolle Reagenzgläser deuteten darauf, daß hier erst kürzlich gearbeitet wurde, und entschuldigten so einigermaßen den Wirrwarr.

Ich sah mich weiter forschend um.

Die ersten beiden Dinge, die redeten, sagten mir nicht viel. Zwei unansehnliche Gewächse in Fayencetöpfen. Ihre Namen auf um und us hab ich vergessen — auch das ist immerhin bedauerlich. Sie hätten meinem Bericht mehr Autorität und Resonanz gegeben. — Aber wer vermöchte sich unter den üblicheren Bezeichnungen nicht auch wohl eine Federkrone eines Wegerich und ein Büschelchen Hasenohr vorzustellen?

Der Wegerich war, das muß man sagen, außergewöhnlich lang und biegsam. Was das andere, das Hasenohr, anging, so zeichnete es sich durch keinerlei Sonderbarkeiten aus und trug nur wie seinesgleichen den Spitznamen mit Recht, denn es ahmte gewissenhaft ungefähr ein Dutzend großer Ohrlappen nach. Um zwei seiner haarigen und silberglänzenden Blätter und um einen der Wegerichstiele liefen Bandagen aus weißer und (anscheinend) von Teer braun befleckter Leinwand.

Ich tat einen Seufzer der Erleichterung. »Gut, gut«, sagte ich mir, »Lerne hat sie inokuliert. Dies ist nur eine Wiederholung dessen, was ich längst weiß, oder vielmehr sogar einer der ersten zagen, tappenden und, wenn ich mich nicht täusche, mißlungenen Versuche. Dies ist nur auf dem Weg zu den Phänomenen im Rundbau drüben, so wie die erst wieder auf die Abscheulichkeiten der drei Aquarien vorbereiten. Hätt ich die Entwicklung Lernes verfolgen wollen, hätt ich von hier ausgehen, dann in den mittleren Garten kommen und bei den Polypen endigen müssen ... Aber Gott sei Dank! Ich hatte ja das Schlimmste schon gesehen...«

So dachte ich, als der Wegerichstiel wie ein Wurm sich wand. Und zugleich zuckte etwas Grauschillerndes hinter dem Ladentisch auf und verriet sich mir so. In einer Blutlache lag da ein Kaninchen in silberfarbenem Pelz. Es war soeben verendet und hatte an Stelle der Ohren zwei blutige Löcher.

Eine Ahnung des wahren Sachverhaltes trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Ich befühlte die Ohrenpflanze. Und wie ich die beiden bandagierten Lappen, die durchaus wie Ohren aussehen, betaste, sind sie blutwarm und zittern.

Ich wich entsetzt zurück und stieß dabei gegen den Ladentisch. Mit vor Grauen verkrampften Händen fuhr ich aus, als ob ich ein häßliches Spinnentier abschütteln wollte, und warf dabei die Rattenfalle herunter.

Die Ratte hüpfte im Käfig wie unsinnig herum, biß, überschlug sich, wehrte sich wie eine Besessene ... Und meine weit aufgerissenen Augen irrten unaufhörlich vom Wegerich zum Tier, von dem Stengel, der sich fortwährend wie eine dünne schwarze Natter ringelte, zur Ratte, die keinen Schwanz mehr hatte ...

Wohl war die Stelle verheilt, aber sie verriet mir die Spur eines weiteren Experiments — das arme Vieh schleifte nach all seinen Purzelbäumen nun etwas wie einen aufgeplatzten Gürtel nach, und der befestigte an der geheilten Stelle immer noch den grünen Schößling, den man da eingesetzt hatte.

Übrigens schien dieser Schößling bleichsüchtig zu sein ...

Lerne remonierte also die Lebewesen! Zur Zeit pfropfte er untereinander die höheren Tiere und alle Pflanzen! ... Scheußlich und erhaben zugleich kam mir nun mein Onkel vor, und er flößte mir Entsetzung und Bewunderung ein — wie ein übeltäterischer Gott.

Sein Werk war ebenso im höchsten Grade staunenswert wie abstoßend. Ich mußte mir Gewalt antun ... sonst hätte ich meinen Besuch hier eilends abgebrochen.

Er verlohnte sich ja wohl der Mühe, der Besuch, selbst wenn es lauter Halluzinationen gewesen wären. Was mir da noch alles zu schauen blieb, übersteigt die Wahnbilder eines Irrsinnigen. Es war wohl alles schrecklich, aber von einer gewissen Seite her auch komisch: grotesk unheilvoll.

Wer unter den armen Sündern hier löste das meiste Grauen aus?

Das Meerschweinchen, der Frosch oder die Datteln?

Das Meerschweinchen hatte, alles in allem, vielleicht nichts allzu Bemerkenswertes. War sein Fell nur durch den Widerschein all der Pflanzen grün und so wie grüner Rasen? Mag sein.

Aber der Frosch? Und aber die Datteln? Was soll man von jenem und was soll man von diesen denken?

Er — ein kräuterfarbener Laubfrosch, die vier Pfoten in Humus eingegraben, in einen Topf gepflanzt wie nur ein Pflanzenhaftes mit vier Wurzeln, die Augenlider geschlossen, gefühllos und stumpf...?

Und sie — die Dattelpalmen? Erst hatten sie sich nicht gerührt, und hier drinnen ging kein Wind, des bin ich gewiß; und jetzt bewegten sie sich ganz und gar. Ihre Palmblätter schaukelten sich sehr sanft ... fast war mir's, als ob ich's hörte ... aber ich möcht es nicht beschwören. — Ja, die Bäumchen schaukelten sich, näherten sich und klammerten sich plötzlich eins an das andere, so sehr, mit all ihren Händen und grünen Fingern, umschlangen sich und «hatten sich» so konvulsivisch ... daß ich nicht weiß, ob's geifernd war oder geil, ob in Kampf oder in Liebe! Ist es doch allemal die gleiche viehische Gebärde...!

Neben dem Laubfrosch stand eine weiße Porzellanvase mit einer farblosen Flüssigkeit, und darin lag eine Pravazspritze. Neben den Dattelpalmen die gleiche Spritze und die gleiche Vase, nur war hier die Flüssigkeit rotbraun und geronnen. Ich schloß auf Pflanzensaft dort und auf Blut da.

Die Palmen waren indessen schlaff geworden, und ich streckte zitternd die Hand nach ihnen aus und zählte unter der feinen und lauwarmen Haut die Schläge ... und sie waren wie ein Puls...

Ich habe mir seither sagen lassen, daß man seinen eigenen Puls fühlt, wenn man den von andern erfühlen will, und dazu kommt, daß mir das Fieber gegen die Fingerwände schlug; aber konnte ich in jenen Augenblicken an meinen Sinnen zweifeln? ... Übrigens beschuldigt mich der Fortgang der Geschichte gar nicht als Hellseher in jener Minute. Der Verlauf der Begebenheit müßte mich tausendmal von all solchem freisprechen. Ich vermag nicht zu sagen, ob die Intensität des Erinnerungsvermögens in einem solchen zweifelhaften Fall (ob Halluzination oder nicht) ein Grund für oder gegen einen krankhaften Zustand ist. Jedenfalls erinnere ich mich aufs deutlichste des Bildes: wie diese Monstrositäten aus zerwühlten Linnen und aus gläsernen Bechern aufquollen — und die Messer und die Spiegel leuchteten dazu...

Nichts mehr zu sehen? Nichts Weiteres mehr? — Ich spürte alle Winkel aus. — Nein; nun nichts mehr und nichts weiter. Ich hatte alle Arbeiten meines Onkels genau verfolgt und ... ein Zufall hatte es gewollt und ein Glück... sogar von Anfang an, die Stadien durch, genau so, wie Lerne sich entwickelt und hinangestiegen war.

Ich kam ungehindert ins Schloß und auf mein Zimmer. Und all meine Jugendkraft, die mich bisher aufrecht erhalten hatte, versagte nun. Während ich mich völlig auskleidete, bemühte ich mich, meine ganze Abenteuerfahrt zu rekapitulieren ... es gelang mir nicht. Sie war mir jetzt schon wie ein eitler Traum ... ich hielt nichts von allem mehr für wahr... Können das Tierreich und das Pflanzenreich zu einem werden? Welch ein Unsinn! Wenn die Polypenpflanzen fast Polypentiere sind, was haben dann zum Beispiel ein Insekt und ein Blatt Gemeinsames? — Da fühlte ich einen brennenden Schmerz am Daumen meiner rechten Hand: ein kleiner weißer Mond war da in einem rosigen Hof. Im Wäldchen hatte mich wohl etwas gestochen. Aber ich vermochte nicht zu unterscheiden — war's von der Rachsucht einer Nessel oder einer Ameise? Und da fiel mir ein, daß eine mikroskopische wie eine chemische Analyse mir hierbei keinen Aufschluß geben könnten, so sehr sind ein solcher Insektenstich und ein solcher Säuretropfen ein und dasselbe. Und so wurde ich mir aller Möglichkeiten wieder bewußt, und ich hatte keinen Einwand mehr, um nicht anzunehmen, daß mein Onkel sie alle bis zu Gewißheiten ausgebaut hatte — und dachte so und überlegte also: «Alles in allem hat Lerne versucht, die Pflanzen und die Tiere zu amalgamieren und ihre Vitalitäten auszuwechseln. Sein gescheites und progressives Verfahren war von Erfolg. Aber ist ihm das Mittel und Zweck? Wohin will er gelangen? Ich kann nicht sehen, daß sich diese Experimente zu einer praktischen unmittelbaren Anwendung hergäben, daß es Verfahren wären, die ein Spekulant ausbeuten könnte — folglich bedeuten sie nicht das Ende. Es will mir außerdem scheinen, so wie sie sich aufeinander folgen, so arbeitet das alles auf eine viel vollkommenere Sache hin, die ich wohl unbestimmt voraussehe, aber nicht bestimmt unterscheiden kann. — Mein Schädel platzt ... platzt vor Migräne. — Laß mich mal schauen ... der Professor will damit vielleicht auf andere Experimente hinaus, die in demselbigen Punkt wie diese konvergieren und die mir, wenn ich sie kennen würde, mehr und in deutlicheren Reden von dem großen Endziel erzählen könnten .... Na, nun immer zu, immer zu! Ein bißchen Logik. Einesteils — Herrgott im Himmel, bin ich müde! — einesteils sah ich Pflanzen untereinander geimpft, andernteils beginnt mein Onkel, Pflanzen und Tiere zu mischen .... Ach was, ich mag nicht mehr!«

Mein Hirn war allzu angestrengt und widersetzte sich dem simpelsten Räsonnement. Ich mutmaßte undeutlich, daß, was alles Impfen anging, ein ganzer Studienzweig arg vernachlässigt worden war oder dieses Teilgebiet zunächst anderswo als im Gewächshaus erforscht wurde .... Die Augen fielen mir zu. Je mehr ich induzierte und deduzierte, desto übler verhaspelte ich mich. Die Erscheinung zur Nacht, das graue Gebäu und Emma verschlimmerten das alles nur noch ... neue Unruhe, neue Neugierde, Sehnsucht ... wann sang im Ohr einer Feder ähnlicher Galimathias? ...

Oh, Rätsel!

O gewiß ja: Rätsel! Indes, wenn mich immerzu Sphinxe umgaben, so kamen sie mir jetzt durch lichten Nebel hübscher vor. Hübscher. Und als die eine von ihnen gar eine liebliche Larve aufhatte und mit Brüsten prunkte wie eine junge Frau, schlief ich lächelnd hinüber.


Kapitel 4.

Heiß und Kalt

Der schläft, der hungert nicht ... Ich schlief bis zum andern Morgen durch.

Gleichwohl ruhte ich noch nie so elend. Die Erschütterungen eines solchen Dauerfernrennens hatten mir Lenden und Kreuz bitter heimgesucht, und lange Zeit holperte ich immer noch Weg um Weg lang und irrte und verirrte mich in gespenstischen Windungen. Dann kamen Träume voll Wunderlichkeiten und Aufsehens. Brocéliande hub wie ein shakespearischer Wald zu marschieren an; und in diesem Wald von Bäumen gingen zwei immer Arm in Arm; eine weiße Birke mit gleißenden Lanzenblicken sprach auf deutsch mit mir, und ich konnte sie kaum verstehen, weil viel Blumen sangen, allerlei Pflanzengetier dringlich kläffte und die großen Bäume von Zeit zu Zeit aufbrüllten.

Da ich erwachte, erinnerte ich mich all dieses Lärmens so deutlich wie ein Phonograph ... fürchterlich ... und ich wünschte, ich hätte das Treibhaus nicht so sehr ergründet. Ein minder eilig, ein besonneneres Studium seines Inhalts wär gewiß erbaulicher ausgefallen. Ich verfluchte meine Hast und Gier von gestern. — Aber was versuch ich nicht, es noch gutzumachen? Vielleicht ist's immer noch nicht zu spät? ...

Hände auf dem Rücken, Zigarette im Mund und von ungefähr — recht wie ein Bummler ging ich am Gewächshaus hin — zugeschlossen nach allen Regeln.

Ich hatte also die einzige Gelegenheit, da ich mich hätte vergewissern können, verpfuscht, ja, ja, ich fühlte es, die einzige! Gott, ich Feigling! Ich Feigling!

Um nicht auffällig zu werden, verließ ich das verbotene Gebiet — kurzweg — und ging der Allee nach, auf die grauen Häuser los.

Da kam mir bald mein Onkel daher. - Sicher, er hatte mich abgepaßt. — Und er spielte sich auf wie ein Bruder Lustig. Wie's lachte, gemahnte sein unfrisches Gesicht sogar ein wenig an alle Jugend von ehdem. Seine Leutseligkeit ermunterte mich: Mein Schlich war unbemerkt geblieben.

»Nun, mein Neffchen?« tat er fast vertraulich. »Nun bist du wohl, was gilt die Wette, meiner Meinung? Es ist keine fröhliche Gegend hier!... Du wirst deine sentimentalen Promenaden in dieser Kasserolle bald satt kriegen!«

»Oh, Onkel! Ich habe dieses Fonval nie so sehr als Anblick als wie einen hochehrwürdigen Freund — wenn Sie so wollen, wie einen erlauchten Ahnen geliebt. Hier geht Familie um — Familie. Sie wissen es doch, auf diesem Rasen und in diesem Astwerk hab ich oft gespielt, das alles ist wie ein Großvater, der mich auf seinen Knien reiten und ausschlagen ließ, ein wenig ... — wenn ich eine Schmeichelei wagen darf — ein wenig wie Sie, Onkel ....«

»Ja, ja ...« murmelte Lerne und wich mir mit Worten aus. »Trotzdem wirst du sehr schnell genug davon bekommen.«

»Ein Irrtum. Sehen Sie, dieser Fonvaler Park, der ist mein irdisches Paradies!«

»Wie du sagst! Genau so!« versicherte er mich und lachte; »auf ein Haar — sogar bis auf den verbotenen Apfelbaum. Du stehst zu jeder Minute hier unter dem Baum des Lebens und dem Baum der Erkenntnis und darfst nicht daran rühren .... Eine gefährliche Sache. An deiner Stelle würde ich lieber ab und zu mit deiner Maschine ausfahren! Gott, wenn Adam doch so eine Maschine besessen hätte!...«

»Aber, Onkel, da ist doch das Labyrinth ....«

»Nun also!« schrie der Professor lustig. »Da werde ich dich eben begleiten und dir den Führer machen! Übrigens bin ich sehr neugierig zu sehen, wie so eine gehorcht, so eine ... so eine von den ... so eine ....«

»So ein Automobil, mein lieber Onkel.«

»Ja: Automobil.« — Und sein plumpdeutscher Akzent hing dem von Haus aus wenig schnellfüßigen Wort eine Weitläufigkeit an, daß es etwas von der Unverrückbarkeit einer Kathedrale bekam ....

Und wir strebten der Remise zu. — Unstreitig machte mein Onkel gute Miene zum bösen Spiel. Und war sich über mein Eindringen hier irgendwie einig geworden. Nichtsdestoweniger ärgerte mich all seine frohe Laune. Meine indiskreten Pläne schienen mir weniger gerechtfertigt. Vielleicht hätte ich sie in diesen Augenblicken sogar ganz aufgegeben, wenn mich nicht mein Verlangen nach Emma zum Bösen und zur Auflehnung gegen seine despotische Kerkermeisterart getrieben hätte. Und dann, war er denn aufrichtig? War es denn nicht nur, daß er sanft daran rührte, daß ich geschworen hatte und bei meinem Eid bleiben sollte, wenn er mir jetzt, als wir zur improvisierten Garage kamen, sagte:

»Nicolas, du — ich hab viel nachgedacht. Ich glaube entschieden, daß du uns in Zukunft sehr nützlich werden könntest, und ich wünsche, dich viel näher kennenzulernen. Da du ja ein paar Tage hier wohnen bleiben willst, können wir oft miteinander plaudern. Über Vormittag arbeite ich wenig, wir können da immer Spaziergänge machen, zu Fuß oder in deinem Wagen, und so viel bereden. Nur ... vergiß deine Versprechen nicht!«

Ich nickte. »Nach allem«, dachte ich mir, »hat es wirklich das Aussehen, als ob er eines Tages die unbekannte Lösung, die er anstrebt, der Öffentlichkeit preisgeben wollte. Es könnte doch sein, daß die gerecht wäre, wenn es auch die Wege, die zu ihr führen, nicht sind! Zweifelsohne sind nur sie die, die er bis zum Resultat verheimlichen will: er rechnet auf den Eklat des Ergebnisses, der muß dann alle Barbarei rechtfertigen und für straflos erklären ...; oder der Zweck verrät die Mittel überhaupt nicht, und sie bleiben für immer unbekannt. Andernteils, würde Lerne je wahr eine Konkurrenz befürchten? Warum nicht?«

So überlegte ich hin und her und füllte das Reservoir meines guten Wagens mit einer Kanne Benzin auf, die mich ein gnädiger Zufall hatte in meinem Wagenkasten finden lassen.

Lerne stieg auf und saß neben mir. Und wies mir am steilen Engpaß hin einen wahrhaft genial versteckten Durchweg. Erst wunderte ich mich, wie mein Onkel mir nur diese Abkürzung verraten konnte, aber — wohlerwogen — unterrichtete er mich so nicht über die Art und Weise, wie ich mich davonmachen sollte? Und war das nicht eben das, was er aus ganzem Herzen wünschte?

Dieser gute, gute Onkel! Was für ein einsiedlerisches und aufsaugendes Leben mußte er geführt haben, daß er ein so rührendes Unwissen von einem Automobil nährte: ganz wie ein Gelehrter von einer Wissenschaft, die nicht sein Fach ist. Mein Physiologe war herzlich schlecht in der Mechanik beschlagen. Er hatte kaum eine Ahnung von den Prinzipien dieses gelehrigen, lenksamen, verschlossenen und geschwinden Vehikels, das ihn so sehr begeisterte.

Am Waldsaum:

»Bitte, laß uns halten,« sagte er. »Du sollst mir diese Maschine explizieren; sie ist wunderbar. Ich pflege auf meinen Spaziergängen nur bis hierher und nicht weiter zu gehen. Ich bin ein alter Trottel! Du kannst, wenn du willst, nachher weiter hinaus ....«

Ich begann ihm die Maschine vorzuführen und bemerkte dabei, daß meine Hupe nur leicht beschädigt und im Handumdrehen zu reparieren wäre. Zwei Schrauben und ein Endchen Draht gaben ihr ihre ganze betäubende Macht zurück. Lerne geriet in ein kindliches Vergnügen dabei. Dann setzte ich mein Kolleg fort, und seine Aufmerksamkeit wuchs fast von Wort zu Wort.

Die Sache verdiente ja in der Tat, mit Interesse angehört zu werden. Wenn in den letzten drei Jahren sich die Motoren in ihrer elementaren Struktur und in ihren hauptsächlichen Organen wenig geändert hatten, war die Ausrüstung um so mehr vervollkommnet worden und das aufgewendete Material um so ingeniöser ausgewählt. So hatte man zum Bau meines Wagens, der die lakonischste Form aufweist, nicht ein Fäserchen Holz gebraucht. Mein luxuriöser und präziser Achtzigpferdiger bestand ganz und gar aus Gußeisen, Stahl, Nickel, Bronze und Aluminium.

Was indes an der 234-XY, wenn man recht überlegte, das höchste Staunen hervorrufen mußte, das war, meiner Meinung, jener Grad von Vervollkommnung, den die Ingenieure derart von Stufe zu Stufe errungen haben, daß man ihn von einem Tag auf den andern unmöglich entstehen sehen konnte: den Automatismus.

Der erste »Wagen ohne Pferd«: was für ein Sündenregister von Kühlern, Pumpen, Zylindern, Hähnen, Hebeln, Zündern, Spulen, Ketten, Scheiben und Wellen bedrückte den in seinem Gewissen ... ein ungeheuerlicher Steckbrief, dem er nicht entlaufen konnte ...! Von Generation zu Generation der Automobile aber ging man reuiger in sich und besserte sich. Und von den unaufhörlichen und vielfachen Handlangerdiensten, die der Mensch dazu tun mußte, fiel einer nach dem andern fort. Heute, nun alle Organe automatisch geworden sind, regelt der Mechanismus den Mechanismus. Der Chauffeur ist nur mehr ein Lotse. Und ist sein Fahrzeug einmal in Aktion, ist's aus sich selber unablässig eifrig. Sobald du's erweckt hast, wird's erst auf dein Kommando wieder ruhn. Kurz, das moderne Automobil hat, wie ich zu Lerne bemerkte, Eigenschaften, als ob's mit einem Rückenmark ausgestattet wäre: Instinkt und Reflexe. Spontane Bewegungen entstehen neben den willkürlichen, die die Intelligenz des Führers vollbringt, so daß dieser sozusagen zum Gehirn des Vehikels wird. Die Intelligenz wirkt gewollte Manöver durch die Metallnerven und Stahlmuskeln ...

— Übrigens, fügte mein Onkel hinzu, ist die Ähnlichkeit zwischen diesem Wagen und einem Wirbeltier frappant!

Hier gelangte Lerne ganz wieder auf sein Gebiet. Ich hörte sehr aufmerksam hin:

— Da sind also Nerven- und Muskelsysteme, das Getriebe, die Transmissionen und das Kraftzentrum. Aber, Nicolas, was ist denn das Chassis, wenn es nicht das Skelett ist? ... Benzinblut pulst als Lebenssaft in diesen kupfernen Arterien! ... Der Vergaser faucht, das ist die Lunge. Statt daß sich Blut mit Luft verbindet, mischt sich hier Luft mit Dämpfen des Benzins, da haben wir's ja! ... Die Haube ist der Brustkasten, worin das Leben im Takte pulsiert... Unsere Gelenke rühren sich im Gliedwasser, so wie diese Zahnräder im Öl ... Das Ganze belebt die Magnetzündung, tausendmal in der Minute sendet der kleine Dynamo immer im richtigen Fünfzigstel einer Sekunde durch die Kabel, die unseren Nerven gleichen, den Zündfunken in die Zylinder und entfesselt die explosive Kraft des Gases, die dem Motor seine furchtbare Kraft verleiht; ist nicht der Magnet das Herz der Maschine, die nur lebt, solange ihr Herz arbeitet, und sofort stirbt, sobald es zu arbeiten aufhört? Ist der Magnet sehr empfindlich, oder arbeitet er wie das Herz unverdrossen und störungslos, lieber Neffe? ...

— Gott, verehrter Onkel, der Magnet ist so wie das Herz, er funktioniert bei guter Pflege jahraus jahrein und verursacht keine Anstände, übrigens ist er leicht auszuwechseln, wenn man einen Reservemagnet mit hat, was aber die meisten eben wegen seiner Zuverlässigkeit nicht haben, wenn sie nicht gerade Rennwagen fahren. Ich dachte bei diesen Worten an den in meinem Wagen sorgfältig verstauten Reservemagnet, der, genau eingepaßt, im Notfalle in einer Minute einzubauen war ...

— Unter der Schutzwehr der Haut sind Reservoire, Magenräume, die gefüllt werden und sich leeren ... Da hast du, so phosphoreszierend wie bei Katzen, aber noch ohne Licht, die Augen: die Leuchtfeuer ... Eine Stimme: die Hupe ... Hier einen Auspuff, den ich nicht weiter vergleichen will, um dich nicht rot zu machen, Nicolas ... Kurz, es fehlt deinem Wagen nichts als das Gehirn, aber diese Stelle versiehst dann du mit dem deinigen und wirst so zu einem großen, tauben, blinden, fühllosen und sterilen Ungeheuer, ohne Geschmack- und ohne Geruchsinn ...

— Ein wahres Museum von Gebrechen! warf ich lachend ein.

— Hm! machte Lerne dagegen. Übrigens ist das Automobil von glücklicherem Fleische als wir ... Denk an jenes Wasser, das es kühlt: welch ein Arzneimittel gegen Fieber!... Und was ein solcher Körper ausdauert, wenn man ihn weise leitet! Denn er ist grenzenlos gefügig ... man kann ihn jederzeit heil machen; hast du ihm nicht soeben Stimme und Gesang zurückgegeben? Du könntest ihm ebensoleicht ein Auge neu einsetzen! ...

Der Professor geriet in Glut:

—Ein mächtiger, ein furchtbarer Leib! schrie er. Aber ein Leib, der sich beliebig erneuern läßt! Eine Rüstung, die einen über alles Hoffen stark macht, ein Küraß, der alle Kraft und Geschwindigkeit verhundertfacht! Ah, da! Ihr da drinnen! Ihr seid genausoviel als die Marsmenschen von Wells in ihren geschliffenen Zylindern! Ihr seid das Gehirn eines künstlichen und wahnwitzigen Monstrums!

— Alle Maschinen sind so, lieber Onkel!

— Nein. Keine ist's ähnlich vollkommen. Kein Tier, wohlverstanden, kommt gegen diese an feiner Form auf. Das Automobil ist der gründlichste Automat, der erbaut wurde. Er ist feiner als die feinste Uhrwerkpuppe von Maëlzel oder Vaucanson, er ist der menschlichste Android: denn alle andern bergen unter der menschenähnlichsten Hülle einen Bratspießdrehorganismus, der an Anatomie weit unter einer Weinbergschnecke steht. Während hier ...

Er trat ein paar Schritt zurück und warf gerührte Blicke auf meinen Wagen und rief: »Das herrliche Geschöpf! ... Und wie der Mensch doch so groß ist!«

»Jawohl«, sagte ich mir, »eine andere Schönheit wohnt im Schaffen als in deinem verderblichen Zusammenflicken von uraltem Fleisch und unvordenklichem Holz! Aber es ist nur gut, daß du es einräumst ...!«

Obgleich es Zeit gewesen wäre, umzukehren, trieb ich nach Grey- l'Abbaye an, um noch mehr Benzin zu holen, und wiewohl doch Lerne durchaus Gewohnheitsmensch war, hatte er sich so sehr in das Automobil verliebt, daß er seine althergebrachte Promenadengrenze überschritt und mich dahin begleitete.

Dann fuhren wir nach Fonval zurück.

Mein Onkel beugte sich bald mit dem ganzen Fanatismus eines Neubekehrten weit vor und auskultierte die Motorhaube, bald sezierte er einen der Schmierhähne. Und befragte mich unablässig über dies und das bis zu den kleinsten Details meines Wagens und eignete sich alles mit einer unglaublichen Sicherheit an.

— Du, Nicolas, willst du die Hupe singen lassen, willst du? ... Jetzt fahr langsamer ... halt auf ... hol's wieder ein ... schneller, schneller! ... Genug! Bremse ... rückwärts jetzt ... Halt! ... Kolossal ist das!

Er lachte. Sein Gesicht hellte sich auf und wurde schöner. Wer uns so gesehen hätte, der würde uns für zwei ausgezeichnete Freunde gehalten haben. Vielleicht auch waren wir es jetzt ... Und ich sah voraus, ich könnte es mit Hilfe meiner »Maschine« noch dahin bringen, daß mir Lerne eines Tages vertrauliche Mitteilungen machen würde.

Er behielt seine Lustigkeit bis zu unserer Ankunft im Schloß. Nicht einmal die Nähe der geheimnisvollen Ateliers vermochte sie herabzumindern. Und erst im Speisesaal verschwand sie. In dem Augenblick, als Emma eintrat, verfinsterte sich Lerne. Und mit diesem Lächeln war der ganze Gemahl der Tante Lidivina ausgelöscht, und ein alter zänkischer Gelehrter saß zwischen seinen beiden Tischgenossen. Da fühlte ich, wie wenig ihm an der Seite dieser Frau all seine zukünftigen glücklichen Funde waren und daß er nur Reichtum und Ruhm erwerben wollte, um sich das reizende Mädchen sicherer zu bewahren.

Gewiß, gewiß liebte er sie, so sehr, so sehr als ich sie liebte: als wie man hungrig nach etwas ist und durstig, mit einem Heißhunger der Epidermis und einem Verschmachten der Haut. Er war nur etwas mehr Gourmet, und ich hatte um viel mehr Appetit ... das war der Unterschied.

Seien wir doch einmal offen und ehrlich, Menschenkinder! Elvira, Beatrice, ihr idealen Geliebten, ihr wart zuerst nur begehrliches Futter. Ehe man euch in Versen feiert, wird man euch ohne Literatur begehren, so — was soll ich gleisnerische Metaphern suchen? — so wie ein Gericht Linsen, so wie einen Trunk frischen Wassers ... aber man fand für euch Farben und Töne, weil ihr's verstanden habt, eine sehr verehrte Freundin zu werden, und von da an liebte man euch zärtlich — mit jener vollkommenen Zärtlichkeit, die unser unfreiwilliges Meisterwerk ist, unsere köstliche langsame Retusche aus der Zeugung. Gewiß, Lerne hat recht, der Mensch ist groß! Aber seine Liebe tut mehr dazu als seine Mechanik. Seine Liebe ist eine wundersam gefüllte Blume, die köstliche Zucht all unserer Gärten, künstlichste Kunst, von einem weise differenzierten Arom.

Aber ach! Lerne und ich, wir wußten von himmlischer Liebe nichts und atmeten nie ihren Duft ... sondern sogen den jenes andern, kurzlebigen, rauhen und ärmlichen Kelches, der nur die Fortpflanzung der Geschlechter will und blüht, um Frucht zu werden. Wir waren von ihm betäubt, von diesem zwingenden, vergifteten, von Geilheit und Eifersucht schweren Hauch, der ein »Geschäft« der Natur ist und eher Haß auf alle denn Liebe zu einer zeitigt ...

Barbara kam und ging und servierte die Mahlzeit auf gottsjämmerliche Art. Wir schwiegen. Ich vermied den reizenden Anblick, den Emma bot, so sehr als möglich, denn ich war überzeugt, daß meine Blicke Küsse gewesen wären, die meinen Onkel nicht im geringsten Zweifel gelassen hätten ...

Sie schien durchaus froh in diesem Augenblick, und unbekümmert und frei, wie sie dasaß — die Hände am Hals, die Ellenbogen auf dem Tisch, die blanken Arme weit aus den kurzen Ärmeln — und durch die Scheiben auf die Weide hinaussah, darauf die Tiere brüllten.

Wie gerne hätte ich es zum allerwenigsten meiner Sehrgeliebten gleichgetan: eine solche ferne und sentimentale Begegnung mit ihr da draußen hätte, so meinte ich, mein wilderes Sehnen nach viel anderer und viel intimerer Vereinigung mit ihr ein wenig gestillt. Aber die Weide war von meinem Platz aus leider nicht zu sehen, und meine Augen liefen müßig um und ersahen wider Willen fort und fort die Weiße ihrer blanken Arme und das wohlige Gedränge um ihr Mieder ... das höher als sonst ging.

Höher als sonst.

Als ich mir diese ihre Bewegtheit zu meinen Gunsten auslegte, hob Lerne feindselig und stumm die Tafel auf. Ich verbeugte mich vor dem jungen Weibe, streifte sie und fühlte, daß sie zitterte; ihre Nasenflügel vibrierten. Ich hätte jubeln mögen. Es war kein Zweifel mehr bei mir, ich hatte sie aufgeregt!

Aber als wir am Fenster standen, klopfte mir Lerne auf die Schulter und sagte ganz leise und meckernd, wie ein Satyr meckern mag:

— Sieh doch hinaus! Jupiter treibt etwas mit den Seinigen!

Und ich sah auf die Weide hinaus und sah den Stier inmitten seines Harems auf eine seiner Damen springen und unzüchtige Dinge an ihr verrichten ...

Im Salon trug mein Onkel dann wieder seine rauhe Miene zur Schau. Er befahl Emma, in ihr Zimmer hinaufzugehen, gab mir ein paar Bücher und riet mir kategorisch an, ich solle mich in den Park setzen und was für meine Bildung tun ...

Ich gehorchte und sagte mir: »Ach! Soviel er mich auch zur Ergebenheit anmahnt — er jammert mich trotzdem und alledem ...«

Aber was dann in der Nacht geschah, das kühlte dieses Mitleiden bedeutend ab.

Und so wie es geschah, beunruhigte es mich um so mehr, als es anscheinend weit ab davon war, zum Klären des großen Geheimnisses mitzuhelfen, und durchaus für sich allein unbegreiflich schien.

Und so geschah es:

Ich war friedlich eingeschlummert; nachdem meine Gedanken bei Emma gewesen waren und erhellt von Hoffnungen, die alle die Schöne angingen. Aber dann brachte mir der Schlaf an Stelle von ergötzlich unkeuschen Traumbildern alle Ungereimtheiten der vergangenen Nacht neu an: die Pflanzen brüllten und bissen sich. Und der Traum nahm unaufhörlich an Eindringlichkeit zu. Wurde so gellend, so wahr und wirklich gellend, daß ich plötzlich aufwachte.

Den Leib und die dampfenden Laken von Schweiß wie unter Wasser gesetzt ... Der Nachhall eines Schreis, der eben gewesen sein mußte, tanzte noch auf meinem Trommelfell. Und mir war's, als hätt ich den Schrei gar nicht zum erstenmal gehört ... nein ... war's nicht jener vom Labyrinth, da unten, unweit von Fonval ... hm?

Ich stemmte mich im Bett auf die Hände. Etwas Mondschein war im Zimmer. Nichts zu hören. Einzig in der Uhr trabte schicklich die Zeit im Takt. Ich legte mich wieder aufs Ohr ...

Und plötzlich, die Haut kräuselte sich mir, und ich floh unter die Decken und preßte die Fäuste gegen Schläfen und Ohren: — stand das verderbliche Geheul aus dem Park und der Nacht wieder auf, aber so außerordentlich und so unerhört ... daß ich meinte, es könne nur ein Alp sein, ein Traum, der weit über alles Wirkliche hinausginge ...

Und ich dachte an die riesige Platane, da unten, am Schloß ...

Mit einer übermenschlichen Anstrengung stand ich auf. Und jetzt war's ein Kläffen, ein ersticktes, ein sehr ersticktes Kläffen ...

Nun also? Was weiter? Das kam doch alles nur aus dem Rachen eines Hundetieres, zum Teufel!

Ich sah hinaus in den Garten: nichts ... nichts als die Platane und die andern im Mondlicht starren Bäume ....

Aber nun wiederholte sich das Heulen: links. Und durch das andere Fenster sah ich, einen Augenblick lang, etwas, das mir alles zu erklären schien. (Das muß nebenbei gewiß sein: Die Wirklichkeit hatte das, was ich im Traum zu hören meinte, angestiftet, wirklicher Lärm mir Schlafendem die Vision von unwirklichen aufbrüllenden Pflanzen suggeriert ....)

Da drüben war ein ausgemergelter Hund, mit dem Rücken zu mir. Er war sehr groß, langte mit den Vorderpfoten bis zu den geschlossenen Jalousien meines einstigen Zimmers empor und stieß von Zeit zu Zeit aus voller Kehle und langhin ein Heulen aus. Das andere — das erstickte Bellen aber, das antwortete ihm zum Haus heraus. Und ... war es denn auch richtig Kläffen? Ich bekam mein Gehör nun in Verdacht, es täuschte mich wohl wieder einmal! Das war nicht so sehr Kläffen als eine menschliche Stimme, die das Kläffen eines Hundes imitieren wollte .... Je länger ich hinhorchte, desto mehr fiel mir's auf .... O ganz gewiß, jede Täuschung war da unmöglich, wie konnte ich nur so lange zweifeln, das war so in die Ohren springend, wie ein anderes in die Augen springend ist: Ein spaßhafter Jemand in meinem Zimmer amüsierte sich damit, den armen Wauwau zu necken.

Übrigens gelang dem Herrn das vollauf: das Tier geriet immer mehr außer sich. Es sang sein Geschrei durch alle nur schrecklichen Tonarten durch. Intonierte es immer noch außerordentlicher, bis zu heller Verzweiflung. Am Ende kratzte es wütend an den Jalousien und biß und verbiß sich drein. Ich hörte, wie das Holz zwischen seinen Kiefern krachte.

Plötzlich stand das Tier unbeweglich und mit gesträubtem Fell. Im Zimmer fuhr eine Stimme einen hart und ungestüm an. Die Stimme meines Onkels, wie ich hörte; doch erfaßte ich den Wortlaut der Zurechtweisung nicht. Aber sofort schwieg der gemaßregelte Spaßmacher .... Und jetzt? Wie hing das nur zusammen? Jetzt tat das Tier, das doch sein wahnsinniges Beginnen hätte einstellen sollen, erst ganz rasend. Richtete sein Haar auf dem Buckel auf, als ob es Wildschweinborsten gewesen wären. Und lief die Schloßmauer hin und knurrte — bis zur Mitteltür.

Und da war auch Lerne schon da und öffnete.

Zu meinem Glück war ich so schlau gewesen und hatte meine Vorhänge nicht aufgehoben. Sein erster Blick galt meinem Fensterkreuz.

Mit leiser Stimme und verhaltener Wut schulmeisterte der Professor den Hund. Aber er ging keinen Schritt auf ihn zu.

Ich merkte, er hatte Furcht vor ihm. Das Tier kam näher, knurrte fortwährend und schoß unter der wüsten Stirn hervor blitzende Blicke. Lerne sprach lauter:

— In die Hütte! Sauhund! — Und nun ein paar Worte in einer fremden Sprache. — Marsch! Weg! rief er dann wieder auf französisch. Aber das Tier immer auf ihn zu: — Soll ich dich totschlagen, soll ich?

Mein Onkel war wie närrisch. Der Mondschein machte ihn noch weißer. »Er wird von dem da zerfleischt werden«, dachte ich, »er hat nicht einmal eine Peitsche! ...«

— Zurück, Nelly! Zurück!

Nelly? ... Das war der Hund des fortgejagten Schülers? Der Bernhardiner des Schotten?

Und wirklich, wie sich die fremden Laute nun häuften, erfuhr ich zu meiner völligen Verwirrung, daß mein Onkel auch englisch sprach.

Seine Schmähungen — alles Kehllaute — durchdrangen die nächtliche Stille.

Das Tier wütete gegen sich selber. Und bäumte sich jetzt, da Lerne, zur letzten Hilfe, es mit einem Revolver bedrohte und mit der andern Hand in einer Richtung fortwies.

Ich hatte auf der Jagd wohl schon gesehen, daß ein Hund, wenn man auf ihn anlegt, vor einem Gewehr, dessen Mordkraft ihm bekannt ist, davonläuft. Angesichts einer Pistole aber schien mir die Sache ein wenig ungewöhnlicher. Hatte Nelly je die Wirkung dieser Waffe kennengelernt? Möglich. Doch nahm ich lieber an, der Hund verstand eher englisch — durch Mac-Bell — als den Revolver meines Onkels.

Nelly war gebändigt. Wie durch Orpheus Stimme. Ward ganz kleinlaut, und machte sich mit eingeklemmtem Schweif in der Richtung der grauen Häuser davon, so wie man es ihr zeigte. Lerne ging der Hündin nach. Und der Schatten verschlang sie.

Meine Uhr ... der hohe Schnitter Tod mähte mehrere Minutenhalme danieder.

Fern wurden ein paar Türen laut zugeschlagen.

Dann kam Lerne zurück.

Und sonst nichts mehr.

Da waren also zwei Wesen auf Fonval, von denen ich bisher keine Ahnung hatte. Nelly, mit ihrem elenden Aussehen, der es wohl nicht sehr gut ging, Nelly, die von ihrem Herrn auf seiner überstürzten Flucht gewiß im Stich gelassen worden war — und jener, der sich den faulen Scherz erlaubt hatte. Denn der konnte doch ganz und gar nicht weder eine der beiden Frauen, noch einer der drei Deutschen gewesen sein. Die Art des Spaßes verriet das Alter des Übeltäters: ein Kind nur konnte sich so auf Kosten eines Hundes lustig machen. Aber es wohnte doch, soviel ich wußte, niemand in jenem Flügel da drüben ... Ah! Lerne hatte mir gesagt: »Dein Zimmer brauche ich.« Wer bewohnte es demnach?

Ich werde es in Erfahrung zu bringen wissen. Gewiß.

Die mir verheimlichte Anwesenheit Nellys in den grauen Häusern stattete den schon geheimnisvollen Ort mit einem neuen Rätsel aus. Die versperrten Gemächer des Schlosses aber gaben einen Zielpunkt ab, der in vielem ergänzend wirken konnte ...

Die Sache machte sich, die Sache machte sich!

Ein Fieber ergriff mich bei soviel Aussicht auf die Jagd nach dem Geheimnis. Aber ich sagte mir, ich müsse listig tun bis hin zum Halali, und erst die erste Abwehr Lernes brechen, eh ich die zweite überwältigte ... »Spüren wir erst den Gründen nach«, sagte mir ein inneres Gefühl, »sie sind trübe. Dann schaffen wir mit Leichtigkeit und Seelenruhe Rat ...«

Warum ich das nicht schon lange ...!

So ein inneres Gefühl singt nur gar heimlich — und wer, ich bitt euch, hört darauf, wo die Leidenschaft brüllt?


5. Kapitel

Der Narr

Acht Tage später. Auf der Lauer. An der Tür meines einstigen Zimmers. Des — gelben — Zimmers. Durchs Schlüsselloch.

Ich war zwei Abende zuvor schon dagewesen. Aber da hatte es mir an Zeit gefehlt, um richtig beobachten zu können.

Oh! Ich hatte es nicht leicht gehabt. Zum wenigstens sah's nicht danach aus. Nie war dieser linke Flügel von Fonval ähnlich eifersüchtig gehütet worden, ich glaube nicht einmal in der Zeit, in der Mönche sich hier einsperrten ...

Wie ich aber dennoch bis hierher kam? Auf das einfachste von der Welt. Das gelbe Zimmer ist mit dem Hausflur — über den jeder irgendwie muß — durch drei aufeinanderfolgende Gemächer verbunden: an den Hausflur stößt der große Salon an, auf diesen folgt der Billardsaal, und durch den wieder gelangt man in ein Boudoir; und rechts neben diesem Boudoir liegt das gelbe, rückwärts auf den Park hinaus. Also probierte ich vorgestern abend, da ich eine Minute allein war, am Schloß der Salontür einen Schlüssel nach dem andern, lauter Schlüssel übrigens, die ich von allen möglichen andern Türen heimlich fortgenommen hatte. Und tat's mit wenig Zutrauen. Als plötzlich der Riegel nachgab. Ich stieß die Tür auf und sah im Halbdämmer der geschlossenen Fensterladen die ganze Zimmerflucht offen vor mir liegen.

Von Türschwelle zu Türschwelle traf ich auf einen andern, eben einzig demselben Zimmer eigenen feinen Geruch ... nur roch jeder ein bißchen verschimmelt und versauert ... aber es war doch jedesmal von jenem besonderen Atem, der einst hier lebte und alles Ehedem gern auferstehen gemacht hätte ... Staub allenthalben. Ich ging auf den Zehenspitzen. Einer Spur von vielen Stiefelabdrücken, von vertrocknetem Straßenschmutz nach. — Im Salon eine Maus. — Auf dem Billard die Elfenbeinbälle, zwei weiße, ein roter, in einem gleichschenkligen Dreieck. In Gedanken berechnete ich den »Stoß«, welches »Effet« ich geben müßte und welche »Stellung« ich dann bekäme. — Im Boudoir war die Pendüle auf Mitternacht oder Mittag stehengeblieben. Ich fühlte mich wunderbar empfänglich für all das ...

Aber kaum hatte ich gesehen, daß die Tür zum gelben Zimmer verschlossen war, trieb mich ein Geräusch Hals über Kopf in den Hausflur zurück ...

Da gab's nichts zu spaßen! Lerne arbeitete im grauen Gebäu; indes, er wußte mich im Schloß, und da schlich er gern und häufig zurück, um mich zu überwachen. So glaubte ich klug zu tun, wenn ich die Untersuchung nun aufschöbe.

Eine Stunde Ungestörtsein war's, was ich zumindest brauchte. So verfiel ich auf folgenden Plan:

Am nächsten Tag fuhr ich per Automobil nach Grey-l'Abbaye, kaufte dort verschiedene Toilettengegenstände und versteckte die in einem Busch im Wald — nicht weit vom Park.

Am übernächsten Tag hörten mich Emma und Lerne beim Frühstück sagen:

»Ich fahre heut nachmittag nach Grey. Hoffentlich krieg ich dort, was ich brauche ... verschiedenes. Wenn nicht, muß ich bis Nanthel. Haben Sie Kommissionen für mich?«

Zum Glück hatten sie keine. Sonst wäre alles für die Katz gewesen.

Auf diese Weise brauchte ich nur fünfzehn Minuten, um meine gestrigen Einkäufe aus dem Busch zu holen und dann zu tun, als ob ich sie aus dem Dorfe hätte. Von Fonval nach Grey und zurück zusammen mit ein wenig Feilschen um Spezerei und Kurzwaren — dazu sind fünf viertel Stunden nötig. Also blieb mir eine ganze Stunde. Blieb mir. Blieb.

Ich fahre aus. Lasse den Wagen in einem Dickicht nicht weit vom Busch. Und komm dann in den Garten über die Mauer zurück — Efeu auf der einen, ein Rebengeländer auf der andern Seite erleichtern mir die Heldentat.

Geduckt das Schloß entlang — steh ich im Hausflur ...

... bin ich im Salon. Sorgfältig klinke ich die Tür hinter mir ein. Für den Fall der Flucht ist's besser, wenn ich nicht zusperre.

Und jetzt ... auf der Lauer ... durchs Schlüsselloch ... ins gelbe Zimmer ...

Das Loch ist groß. Ein viereckiges ist's! So wie eine Schießscharte ist's. Und ein säuerlicher Wind pfeift durch. Und was schau ich?

Das Zimmer ist dunkel. Ein Sonnenstreif fällt quer durch die Jalousien ein, ein leuchtendes Bündel, drin Staubkügelchen so wie Weltenkugeln schwingen. Auf dem Teppich zeichnen sich die Lamellen der inwendigen Fensterladen ab. Sonst Schatten, und recht viel Unordnung, recht viel Bohème. Kleidungsstücke da und da. Ein Teller mit Speiseresten auf dem Boden, wie ein hingestelltes Fressen .... Ein Sträflingsloch sozusagen .... Ach und du gütiger Himmel, das Bett, das Bett ...!

Und da ist der Häftling!

Ein ... Mensch.

Auf dem Bauch liegt er. In dem Drunter und Drüber von Kopfkissen, Matratze und Deckbett. Mit dem Kopf auf den gekreuzten Armen. Und nur ein Nachthemd und eine Hose an. Sein Bart, der mehrere Wochen lang ist, und sein — ziemlich kurzes — Haar von einem fast weißen Blond.

Wo sah ich den da schon? ... Nein. Das ist seit dem Schrei in jener Nacht eine Marotte von mir .... Nie noch hab ich dies aufgeschwemmte, bärtige Gesicht, diesen dicken Leib, diesen jungen feisten Menschen gesehen ... nie .... Sein Blick ziemlich gutmütig, stupid, aber gutmütig .... Hm! Von einer solchen Indifferenz! Das muß ein netter Faulpelz sein!...

Er schläft, unser Gefangener. Aber wie schlecht schläft er. Fliegen plagen ihn. Er verjagt sie; tölpisch und jählings verjagt er sie. Und zwischen zwei Schlafanfällen verfolgt er ihren Flug mit stierem Aug. Und zuweilen bemüht er sich in halber Wut und indem er den Kopf reckt und mit dem Munde klappt, nach den unerträglichen Bestien zu schnappen.

Ein ... Narr!

Im Hause meines Onkels gib's einen Narren! Wer ist es?...

Ich stoße mit dem Lid gegen das Schlüsselloch. Das eine Auge weint mir. Das andere, das nun herhalten muß, ist ein wenig kurzsichtig. Ich seh nur verschwommen. Der Verräterspalt ist von einer Enge!... Kreuzdonnerwetter! Da hab ich kräftig gegen die Tür gestoßen! ...

Der Narr sprang auf die Beine. Wie so klein er ist! Jetzt kommt er auf mich zu .... Wenn er nun öffnen möchte? ... Nein! Er wirft sich an der Tür nieder, schnüffelt, knurrt ... Armer Kerl! Das muß schwer sein ....

Er witterte nichts. In dem Bündel Sonnenstrahlen hockt er nun und ist durch den Schatten des Fensterladens wie ein Zebra gestreift. Und ich kann ihn mir nun um so genauer ansehn.

Hände und Gesicht sind ihm mit kleinen rosigen Flecken berupft, als ob er Narben von Kratzwunden trüge. Als ob er vor kurzem gerauft hätte .... Und da — was noch schwerer ins Gewicht fällt —, ein langer veilchenfarbener Streif läuft ihm unterm Haar hin, von einer Schläfe zur andern, um den ganzen Hinterkopf herum. Auffallend einem Wundmal ähnlich .... Man hat den Menschen gefoltert! Ich weiß nicht, was Lerne ihn aushaken ließ, welche Rache er an ihm übte .... Aber er ist ein Henker, ah!...

Und sogleich kam mir folgende Ideenverbindung: Ich verglich das Indianerprofil meines Onkels mit Emmas ungewöhnlichem Haar und riet alsdann von dem so blonden des Narren auf den grünen Pelz der Ratte. Sollte Lerne ein Mittel wollen, um kahlen Schädeln langhaarige Skalpe einzupflanzen? War das das große Unternehmen?... Aber ebenso schnell entdeckte ich, daß meine Vermutung dumm war. Es gab nichts, das sie hätte bestätigen können. Das umstoßende Argument war, der Blöde war nicht skalpiert worden: sonst hätte das Wundmal einen ganzen Kreis beschreiben müssen. Und warum sollte er auch nicht infolge eines Unfalls, ganz einfach durch einen Sturz auf den Hinterkopf, verrückt geworden sein?

Ein Narr, ja! Aber kein Wahnsinniger, er war ganz harmlos. Von so fraglos gutmütigem Aussehen. Seine Augen leuchteten sogar oft etwas wie intelligent auf .... Der wußte von etwas, der .... Ich war gewiß, wenn ihn wer sanft ausgefragt hätte, er hätte geantwortet .... Soll ich? Sollte ich etwa? Ja? ...

Ich sollte. Ein Riegel nur auf meiner Seite versichert die Tür. Ich schiebe ihn mit dem Daumen zurück. Aber ich bin noch nicht im gelben Zimmer, da schnellt der Häftling vor, flitzt mir mit gesenktem Kopf zwischen den Beinen durch, wirft mich um, schnellt wieder auf und rennt dahin — unter solchem Hundegekläff, wie ich's jene Nacht hörte und für Neckerei hielt ....

Seine Behendigkeit machte mich baff. Wie konnte er mir so mitspielen? Wie kam er auf die Idee, mir zwischen den Beinen durchzuflitzen? ... Trotz des Ungestüms des Geschehens bin ich grad so schnell, als er mich umschmiß, wieder auf den Beinen, ganz dumm, wie närrisch .... Jetzt geht der losgelassene Wahnsinnige verloren! Oh! ... Sei kalt, Nicolas, sei kalt! Hier ist nicht der Schatten eines Zweifels! Ist es nicht besser, ich empfehle mich auf englisch, als daß ich diesem Trottel von einem Ausreißer nachlaufe? Wozu sollte das mir jetzt gut sein?... Ja, aber Emma? Und all das Geheimnis? Mit Gott denn! Holen wir ihn wieder her! Verflucht!

Alsdann immer hinterdrein, hinter dem Herrn Unbekannten ....

Hoffentlich läuft er mir nicht auf die grauen Häuser zu!... Nein, er nimmt glücklicherweise die grad entgegengesetzte Richtung. Aber wenn auch, ein jeder kann uns nach Belieben so laufen sehen .... Mein Herr Deserteur läuft munter und unter Kapriolen hin. Jetzt ins Gebüsch hinein. Gott sei Lob und Dank! Das Vieh schreit nicht mehr, nun ist's schon soviel, als hätt ich's gewonnen .... Da ist wer! .... Nein: nur eine Statue .... Ich muß ihn so bald wie möglich wieder haben. Denn sowie er seine Richtung in etwas umbiegt, wird man uns bemerken, und es ist um mich geschehen .... Sieht er komisch aus, der Tölpel! Zum Teufel, wenn er so weitermacht, kommen wir rund um den Park und zuletzt hübsch am grauen Gebäu und an Lernes Fenstern vorüber! Seid gesegnet, ihr Bäume, die ihr uns noch verbergt! Schnell! ... Und die Tür zum Salon, die — die — hab ich glücklich offen gelassen! Schnell, schnell, schnell! ... Der Mensch weiß wenigstens nicht, daß er verfolgt wird, er sieht sich niemals um. Und seine nackten Füße tun ihm weh und halten ihn auf; ich gewinne Terrain ....

Da hält er an, schnuppert aus, vergewissert sich, läuft weiter. Aber ich bin ihm näher. Er springt ins Dickicht, links, dem steilen Abhang zu .... Ich auch .... Ich hab ihn auf zehn Meter. Er steuert durch das Dornichte hindurch, ohne acht zu haben. Ich immer in seinem Kielwasser .... Er läuft Spießruten sozusagen, die Stacheln schmerzen ihn, er schlägt los auf alles, was auf ihn losschlägt. Ja, warum biegt er sie nicht auseinander? So würde er doch ihren Krallen viel leichter entgehn ... Bis zum steilen Abhang ist's nicht weit mehr. Wir laufen just auf ihn los. Mein Ehrenwort! Mein Wild scheint sich vollkommen klar zu sein, wohin es möchte .... Ich seh seinen Rücken ... nicht immer ... ich muß ihn also nach dem Krachen des Gezweigs verfolgen ....

Endlich, an der Felsenwand, seh ich seinen schmalen Schädel wieder. Unbeweglich.

Ich schlängle mich lautlos an .... Eine Sekunde noch, und ich werfe mich auf ihn .... Aber was er treibt, das überrascht mich so, daß ich am Rand der Lichtung, die ihn einschließt und deren eine Seite die Felswand bildet, — daß ich am Rand anhalte.

Auf den Knien liegt er und scharrt wütend den Boden. Solches Geschäft indes martert ihm die Nägel ... also daß er ein Lamento anhebt wie vorhin bei den Stacheln des Hagedorns und des Maulbeerbaums. Die Erde fliegt hinter ihm auf, bis zu mir her. Die verkrampften Hände arbeiten bei ihm in rapiden Stößen und im Takt. Er baggert drauf zu und heult vor Schmerz, und dann wieder gräbt er seine Nase in das Ausgehöhlte ein, so tief er's vermag, schnaubt vor Wut, hält damit gewaltsam inne und macht sich neu an seine Aufgabe. Sein Wundmal hat er wie einen fehlfarbenen Kranz auf. — Aber was! Da steh ich und mach mich über ihn und sein sehr verkehrtes Treiben lustig, und es ist doch der gnädige Moment, da ich auf ihn losspringen und ihn eilends wegführen kann ....

Ich hebe mich verstohlener Weise aus dem Gebüsch heraus. Aber sieh da! Hier hat schon einmal wer ausgebaggert: ein Haufen alter Erde sagt mir's. Der Bondling setzt nur eine angefangene Arbeit fort. Ach was! ...

In den Knien eingebogen ... bereit zum Sprung.

Da läßt der Mensch ein Freudegegrunz aus sich heraus. Und was erseh ich drin in der Grube? Ein altes Schuhwerk fördert er zu Tage! O Menschenelend!

Uff! Da wär ich also auf ihn losgesprungen! Da hielte ich ihn nun, den Schuft! ... Kaltes Blut! Er hat sich umgekehrt, er will sich losreißen, aber ich laß schon nicht locker! ... Komisch ... wie ungeschickt er mit den Händen ist! ... Au! Du beißt ja, du Luder! ...

Ich umschlinge ihn, um ihn niederzuwerfen. Er hat noch niemals gerungen, das sieht man. Übrigens bin ich ihm immer noch nicht über .... Werd ich? ... Rutsch: das war das Loch ... ich steh auf dem alten Herrenstiefel ... grauenhaft! Da ist etwas drinnen! Etwas, das ihn an der Erde festhält! ... Ich schnaufe, schnaufe .... Ein Schuh — nichts ähnelt mehr einem Fuß als ein Schuh ....

Schluß, Schluß, Schluß. Die Minuten sind Geld ... wiegen ein Vermögen auf ....

Einer hält den andern fest angepackt. Mein Gegner und ich kämpfen unmittelbar vor der Felswand, keuchend, gleich an Kräften ... Ein Gedanke! Ich reiße erschrecklich meine beiden Augen auf, als ob ich einem kleinen Jungen drohte oder ein Tier bändigen wollte und mache ein durchaus gebieterisches, herrisches Gesicht. Und der andere wird sogleich schlaff, unterwürfig und bereut .... Und leckt mir die Hände zum Zeichen seines Gehorsams! ...

»Marsch jetzt!«

Ich zieh ihn fort. Der Schuh — ein Gummi-Zugstiefel — richtet sich auf, mit der Spitze zuoberst. Er sieht aber gar nicht so erbärmlich und tot aus wie auf der Landstraße weggeschmissenes Schuhwerk. Und was ihn an der Erde festhält, ist sehr wenig herausgegraben. Ein Endchen Stoff nur. Ein Strumpf? ... Auch mein Narr dreht sich um und betrachtet's.

»Marsch, marsch, mein Lieber!«

Mein Begleiter bleibt gefügig. Meine Augen tun Wunder. Wir laufen, was wir laufen können.

Allmächtiger Gott! Was mag sich derweil im Schloß begeben haben?

Nichts. Gar nichts.

Als wir im Hausflur sind, hör ich im ersten Stock Emma und Barbara sich unterhalten. Sie kommen die Treppe herab, aber da sind wir auch schon hinter der famosen Salontür. Und ich bin beruhigt. Und kann horchen.

Denn ich konnte ja jetzt, nachdem ich den Blöden wieder eingesperrt hab ... doch nicht heraus, ohne daß mich eins der beiden Weiber bemerken würde ....

Ich schlich also verstohlen bis in den Salon zurück und horchte durch die Tür, wohin die beiden fatalen Frauenzimmer nun gehen würden. Aber plötzlich wich ich entsetzt bis in Zimmermitte zurück und suchte ein Versteck, irgendeinen Wandschirm ... schlug aus wie ein Ertrinkender und schluckte und schluckte vor verhaltenen Schreien ....

Ein Schlüssel suchte das Schlüsselloch.

Der meinige? Hatte ich ihn stecken lassen und ... war er mir dann gestohlen worden? Nein, nein, nein, nein, der meinige war ja hier, da, hier in der Weste, ich fühlte ihn, in der Tasche. Ich hatte ihn beim Eintreten abgezogen.

...?

Der mit Grünspan bedeckte Riegel schob sich langsam zurück. Nun trat wer ein ... wer? Die Deutschen? Lerne?

Emma.

Emma aber konnte hier nichts sehen als ein unordentliches Zimmer. Einer der großen Damastvorhänge, ja, der rührte sich vielleicht ein bißchen — so wie wenn einer zittert. Emma sah es nicht.

Barbara hielt sich hinter ihr. Das junge Mädchen sagte leise:

»Bleib hier und beobachte den Garten. Tu so wie das letzte Mal, das war gut. Sowie der Alte aus dem Laboratorium kommt, dann hustest du.«

»Vor ihm hab ich keine Angst, antwortete Barbara in sichtbarlichem Schrecken. Der hat um die Zeit keinen Verdacht auf uns, das kann ich Ihnen sagen. Den sehen wir überhaupt heut nicht mehr vor Abend .... Aber Nicolas — das ist ganz was anderes. Wenn den der Teufel herführt!«

Die grauen Häuser hießen also das Laboratorium! Dieses Wort hatte der Dienstmagd eine Ohrfeige vom Herrn Professor eingetragen! Meine Kenntnisse vermehrten sich ....

Emma sagte heftig:

»Ich sage es dir nochmals, es besteht keine Gefahr. Gott, ist es denn das erste Mal?«

»Nein, aber da war Nicolas nicht ....«

»Also tu, was ich dir sage!«

Barbara zog nur widerstrebend auf Wache.

Emma aber stand einige Augenblicke da und lauschte. Schön! Oh! Schön wie die Göttin aller Wollust! Und wenn sie mir auch nur eine Silhouette, ein toter Schatten auf der herleuchtenden Füllung der Tür war ... was war's doch für ein lebendiger fließender Schatten. Laß Emma in vollkommener Ruhe stehen, und es ist dir, als ob sie soeben mitten in einem Tanz angehalten hätte. Nein, dann ist's, als ob sie, du weißt nicht, mit welcher Hexerei, denselbigen Tanz unsichtbar fortsetzen würde. Sie war schön wie eine geile Bajadere, die nur und nur Liebe ausdrücken kann, das Spiel von der Liebe. Ob sie lässig steht oder sich lind rührt, ob sie erzittert oder sich bäumt, ob sie in ihr Haar langt oder sonst die kleinste Geste tut, du stellst sie dir immer und immer in eitel Wollust vor ....

Ein lebendiger Sprudel ward mein Leib. Eine allmächtige Flut aus Jahrhunderten her stand auf: Emma! Sie! Sie beim Narren! ... Dieses Paradies — jenem Vieh! ... So eine Dirne! ... Morden hätt ich sie mögen!

Da meint ihr wohl: Ich wußte doch von nichts! Und: Ich erhob diese Anschuldigung ohne jeden Grund! — Ja, wißt ihr denn nicht, wie eine aussieht — wie eine wie von etwas angetrieben die Beine voreinandersetzt und einen tückischen und gefräßigen Mund macht — eine, die heimlich und betrügerisch zum Manne will? ... Da, da, da, nun setzt sie ihren Weg fort! Ja sagt einmal: muß man so eine zweimal ansehn, um zu erraten, zu was für einem Ding sie sich begibt? ...

Alles schrie doch nur so an ihr. Alles an ihr verriet jene Hoffnung und jene krankhafte Sorge, die schon eine halbe Befriedigung sind .... Aber ich will hier diesen vom Teufel besessenen Leib nicht schildern, seine unflätige Sprache nicht übersetzen. Oh, erwartet nun nicht von mir, daß ich euch bis ins kleinste Bild eines läufigen Frauenzimmers male! Wie unflätig schreibt sich das hin — aber Emma war's, sie war es, was ich hinschrieb! ... Ein Traum von etwas oder ein Geschmack an etwas kann so überaus herrschend werden und beherrschen, daß der Mensch zu einem Monstrum wird und nur mehr Auge ist und nichts anderes oder nur mehr Mund und gar nichts weiter mehr. Wie einer, der eine außerordentliche Musik vernimmt, nur mehr mit dem Gehör lebt, mit seinen Augen, Nüstern, mit allem an seinem Leibe hört: so war dieses Weib, das Liebe in seinen Leib forderte, durchaus nicht mehr als ein Ausstrahlen des Sexus, vergrößerte und versinnbildlichte mit Scheitel und Zeh nur noch den Geschlechtsakt, wurde — Aphrodite in Person.

Und das machte mich rasend.

Das hübsche Mädchen, das sich zu so einer tierischen Aufführung anschickte, streifte den Vorhang, hinter dem ich stand, mit den Röcken.

Da vertrat ich ihr den Weg.

Sie röchelte vor Schrecken. Einer Ohnmacht nah. Barbara wies die wohlgerundeten Hinterbacken — floh. Und ich — ich Alberner — verriet nun, was mich zu meiner heldenhaften Tat bewegt hatte:

»Warum gehen Sie zu jenem Narren?« — Mit schrillem Laut. Unnatürlich. Und die Worte rauh inmitten auseinanderreißend. — »Gestehen Sie's ein! Warum? Sagen Sie mir's — um Gottes willen!«

Ich hatte sie angefallen und verdrehte ihr die Handgelenke. Sie wehrte sich nur sanft; ihr wunderbarer Leib war eine linde Woge. Ich umkrampfte das liebliche Fleisch und preßte ihr die Arme, als erwürgte ich zwei Tauben. Und bog mich zu ihren wie brechenden Augen herab:

»Warum? Sag's! Warum?«

Mußte ich so offenherzig werden? — Sowie ich du zu ihr sagte, rang sie sich auf, maß mich mit den Augen und sagte herausfordernd:

»Und was dann? Sie wissen ganz genau — daß Mac-Bell mein Geliebter war! Lerne hat es Ihnen in meiner Anwesenheit — am Tag Ihrer Ankunft deutlich genug zu verstehen gegeben ....«

»Mac-Bell? Mac-Bell ist jener Narr?«

Emma antwortete nicht. Aber ihr Erstaunen sagte mir, daß ich, indem ich ihr mein Unwissen preisgab, einen neuen Fehler begangen hatte.

»Hab ich kein Recht, ihn zu lieben? Und denken Sie denn, Sie könnten mir's nehmen?«

Ich zerrte an ihren Armen — wie an Glockensträngen.

»Du liebst ihn immer noch?«

»Mehr als je — da hören Sie's!«

»Aber das ist doch ein blödsinniges Tier!«

»Manche Narren halten sich für Götter. Er glaubt nur zuweilen, er sei ein Hund. So ist sein Wahn vielleicht minder schwer. Und dann ... überhaupt ....

Sie lächelte geheimnisvoll. Grad als ob — grad als ob sie mich zum Äußersten treiben wollte. Ihr Lächeln und ihre Reden regten mich sinnlos, grausam auf.

»Ah! Schamlose! ...«

Ich umschlang das Mädchen, als ob ich's an mir zerdrücken wollte, und zischte ihr hundert Beleidigungen ins Gesicht.

Ihr mußte es sein, als täte sie den letzten Atemzug und als würde sie ersticken — und gleichwohl lächelte sie noch immer ... über mich lachte sie — mit ihrem Mund, der einem andern zur Lust da war! — O wie ergrimmte ich. Na warte! Ich werde dir lächeln helfen! Du sollst noch roter und noch viel feuchter lächeln — du! ... Meine Kiefer kam tierische Lust zu beißen an .... Ich ward fürchterlicher als ein Narr! Ich fühlte allen Wahnsinn in diesem Augenblick! Ich stürzte mich rasend auf diese spöttischen Lippen, die bald, recht bald, jetzt gleich blutig und zerfleischt sein müssen! Wie? Da! da! da! ... Unsere Zähne stießen aufeinander los, und es gab einen Kuß — so wie der erste Menschenkuß, einst, in einer Höhle oder einer Hütte im Sumpf gewesen sein muß, grad so tierhaft und viel weniger Liebkosung als Hieb — aber gleichwohl ein Kuß .... Und dann leckte etwas gegen meine Zähne an, und meine Zähne öffneten sich — und drang ein durch meine Zähne und war in der Folge so raffiniert ...: daß es mir plötzlich nicht nur viel von Emmas natürlicher Disposition zum Spiel der Wollust verriet, sondern auch, daß dieses Weib in solchen Dingen eine vollkommene Erfahrung mitbrachte ....

Solche Vereinigung rief ungestüm jene andere herbei ... Aber für den heutigen Tag sollte es beim Prolog — sozusagen — bleiben. Wir vernahmen — noch einmal sozusagen — nur von fern das Glockenspiel, mit dem die Federn alter Kanapees, durch das Hinfallen zweier Menschenleiber, eine Schäferstunde einläuten ....

Unzeitig und doch gelegen stürzte Barbara herein. Die Seelen zerreißend.

»Der Herr kommt!«

Emma entwand sich blitzschnell meinen Armen. Das Reich Lernes gebot von neuem.

»Gehen Sie! Laufen Sie! sagte sie. Wenn er's erfährt .... Sie sind verloren ... und ich wahrscheinlich diesmal auch .... O fort, fort, fort! ... Kneif aus, mein kleiner süßer Schlauberger — Lerne ist zu allem fähig! ...

Ich fühlte, daß sie die Wahrheit sagte. Ihre lieben Hände zitterten vor Kälte in den meinigen, und ihr Mund stammelte vor Schreck unter meinen brennenden Küssen.

Von dem törichten Glück wie gehetzt, nahm ich mit verzehnfachter Stärke und Behendigkeit das Weingeländer und entkam über die Mauer.

Und da war auch schon mein Vehikel in seiner Laubgarage. Flugs die Pakete zusammengerafft ... ich war niederträchtig glücklich. Emma die Meine! Welch eine Geliebte! ... Eine Frau, die die Pflicht nicht scheute, einem Freund, der zu etwas Widerlichem geworden war, den Trost ihrer Besuche, ihren ganzen betörenden Reiz zu schenken! ... Und jetzt, aber jetzt, des war ich gewiß — jetzt wollte sie mich, nur mich! Mac-Bell? Ihn lieben? Ach was! Sie hatte gelogen — um mich feurig zu machen .... Mit dem hatte sie ganz einfach Mitleid, nichts weiter ....

Übrigens — wodurch war der Schotte wahnsinnig geworden? Und warum hielt ihn Lerne versteckt? ... Mein Onkel hatte mir doch versichert, der Mensch wär längst fort! ... Und zu welchem Zweck sperrte er seinen Hund ein? ... Arme Nelly! Jetzt begreif ich deinen Schmerz, am Fenster, und deine Rachegelüste gegen den Professor: Vor dir hatte sich ein Drama — »auf frischer Tat ertappt« — zwischen Emma, Lerne und deinem Mac-Bell abgespielt, darüber kann nun kein Zweifel mehr sein .... Was für ein Drama? Das werd ich sehr bald wissen: Man hat kein Geheimnis vor seinem Liebhaber, und ich wurde doch soeben Emmas Liebster! Los, es macht sich alles auf das wunderbarste!

Wenn ich mich über was freue, so sing ich gewöhnlich. Wenn ich mich nicht täusche, summte ich nun unterwegs eine Seguidilla für mich hin. Aber plötzlich unterbrach ich diese lästige Weise ... denn in meiner Träumerei erschien jäh und unheimlich das Bild jenes alten Schuhs, so wie der Rote Tod im Ballsaal.

Augenblicklich war all mein Feuriges dahin. Die Sonne in meinem Innern erlosch; meine Gedanken wurden schwarz, gespenstisch und drohend. Fürchterliche Ahnungen ballten sich vor mir als wie Gewißheiten. Und sogar das Bild der waghalsigen Emma verging in dieser Totenfinsternis. Voll Grauen vor vielem Unbekannten erreichte ich diesen Kerker von einem Schloß und dieses Grab von einem Garten, darin der Vampir des Lasters zwischen einem Wahnsinnigen und einem Kadaver auf mich lauerte.


6. Kapitel

Nelly, die Bernhardinerhündin

Ein paar Tage vergingen, ohne daß etwas geschah, das meine Liebe oder meine Neugierde hätte befriedigen können. Mißtraute mir Lerne? Hatte er mich in einem Verdacht? ... Er verfügte peinlich über all meine Zeit.

Morgens bat er mich, ihn zu begleiten. Einmal zu Fuß, das andere Mal im Automobil. Auf den Spaziergängen behandelte er irgendein wissenschaftliches Thema und fragte mich dabei aus, als ob er sich über meine Fähigkeiten vergewissern wollte. Mit dem Wagen umkreisten wir von fern das Schloß, so wie ein Wild sein Lager. Wenn wir zu Fuß gingen, war's immer auf dem geraden Weg nach Grey; und dann blieb er unaufhörlich stehen, um besser diskurrieren zu können, und überschritt niemals die Waldgrenze. Und oft kehrte Lerne inmitten einer Dissertation oder sogar am Anfang eines Weges oder einer Fahrt unversehens um ... voller Mißtrauen zu denen, die er auf Fonval zurückgelassen hatte.

Er verfügte auch ganz und gar über meine Nachmittage. Bald beorderte er mich nach der Stadt oder nach dem Dorf, bald zwang er mich, einen ganz bestimmten Abstecher zu machen; teils also waren's Besorgungen, die ich bestimmt zu erfüllen hatte, teils spielte ich irgendwo da draußen — komische Rollen. Lerne wachte über meine Abfahrt. Lerne erwartete mich des Abends an der Tür und heischte von mir den Tagesbericht. Je nachdem hatte ich mich dann über seinen Auftrag auszuweisen, oder ich mußte ihm eine ganz bestimmte Gegend beschreiben. Was allerdings solche Gegenden anging, hatte mein Onkel von vielen wenig Ahnung, aber das konnte ich doch nicht riechen — und jeder »kniffliche« Rapport war mir gefährlich geworden.

So streifte ich gewissenhaft durch Wald und Feld, von frühem Tag bis in die sinkende Nacht.

Und wie gern wär ich unterdessen Emmas Zimmer ein wenig näher gekommen! Nach der Zahl der geschlossenen und nicht geschlossenen Fenster war ich mir über die Lage ihrer Kammer beinah im reinen ... ich kannte ja die Topographie des Schlosses genau. Der ganze linke Flügel war stets abgeschlossen. Im rechten Flügel war das Erdgeschoß für den Aufenthalt unter Tag, und von den sechs Zimmern im ersten Stock waren nur drei geöffnet: das meinige, nach vorn, und am andern Ende das Zimmer meiner Tante Lidivina, das an den mittleren Flur anstieß und mit Lernes Zimmer verbunden war. Emma konnte also nur ... entweder im Bett meiner Tante liegen ... oder bei meinem Onkel. Der Gedanke beunruhigte mich tief, und ich wollte um jeden Preis Gewißheit haben. Fünf Minuten hätten genügt: über die Treppe weg — ein Katzensprung bis zur Tür die Tür auf — und ich hätte gewußt, woran ich wäre ...

Aber der Onkel wachte.

Wachte tyrannisch ... und ich sah Fräulein Bourdichet nur zu den Mahlzeiten. Und wie gehabten wir uns da. Ich war wohl schon so kühn geworden, sie anzusehen. Aber sie anreden — das wagte ich nicht. Sie war immer und durchaus schweigsam, aber was sie an Unterhaltung fehlen ließ, brachte sie an Haltung wieder auf. Freilich, so roh der Mensch auch wirkt, wenn er von geschlachteten Tieren und zerkochten Pflanzen zu sich nimmt, es gibt Esser und Esser, solche und solche ... Emma, die faßte gern ein Kotelett mit beiden Händen an, und jedesmal, wenn sie sich so gänzlich gehen ließ, vermeinte ich ihr »mein kleiner süßer Schlauberger« in ihrem Vorstadtdialekt wieder zu hören. Aber ich bitt euch, worin berühren sich Lebensart und Liederlichkeit, was soll der gedeckte Tisch mit dem abgedeckten Bett groß gemein haben?

Zwischen Emma und mir war Lerne in beständiger Aufregung. Er zerkrümelte Brot und fuchtelte mit der Gabel. Schlug plötzlich mit der Faust auf den Teller, daß Glas und Porzellan erklang.

Eines Tages geriet ich unversehens mit meinem Fuß an den seinen. Der Doktor hatte sofort Verdacht auf mein gänzlich unschuldiges Bein, vermutete sogleich da alle mögliche Telegraphie und war überzeugt, mit seiner großen Zehe der unrechte Empfänger eines pedestrischen Madrigals geworden zu sein. Und auf der Stelle fand er, Fräulein Bourdichet sei leidend und würde in Zukunft ihre Mahlzeiten auf ihrem Zimmer einnehmen müssen.

Mir war klar: ich war zwischen zwei Feuern - das eine verzehrte sich in Leid und das andere in Lust nach mir: Lernes Haß — Emmas Liebe. Und ich nahm mir unerschrocken genug vor, die beiden in ihren Gefühlen für mich vollauf zu befriedigen.

An demselbigen Tag noch ging mir mein Onkel mit den Worten zu Leibe: er wünsche mich morgen nach Nanthel zu entführen, er hätte dort zu tun.

Das war mir willkommen. Da konnte ich ihm für einige Zeit entwischen. Denn morgen war Sonntag, Nanthel feierte da seinen Schutzheiligen, und dieses wollte ich ausnützen.

»Mit Vergnügen, lieber Onkel,« antwortete ich. »Nur müssen wir zeitig fort, es könnte Pannen geben.«

»Ich möchte lieber mit dem Automobil bis Grey und von da mit der Eisenbahn nach Nanthel ... Das ist sicherer ...«

Paßte mir wunderbar.

»Sehr wohl, Onkel.«

»Der Zug geht von Grey um acht Uhr ab. Fünf Uhr vierzehn kommen wir aus Nanthel nach Grey zurück. Sonst ist keine Verbindung.«

Als wir ans Dorf kamen, war da ein großer Lärm, und aus diesem Verworrenen stieg zuweilen ein Gebrüll auf. Pferdewiehern. Und Hammelgeblök.

Es kostete einige Mühe, mir einen Weg über den Platz von Greyl- l'Abbaye zu bahnen, denn hier war Jahrmarkt heut, und jetzt schon wimmelte es von friedlichen und schwerfälligen Leuten. Zwischen Schießbuden und anderen sehr ärmlichen Zelten war der Viehmarkt. Verwitterte Hände wogen Tierzitzen, klappten Viehmäuler auf und lasen das Alter aus den Zähnen, glitten über Muskeln hin und schätzten die Kraft ... ein junges Mädchen hielt ein Kaninchen auf dem Schoß und untersuchte vor aller Welt auf die natürlichste Weise seine Geschlechtsteile ... Roßhändler prahlten ... zwischen zwei Zäunen trabten zwei Pferdeknechte mit schweren Percherontrabern und Boulogneser Hengsten hin, unter Kleingewehrfeuer der Reitpeitschen und Salven von höchst unanständigen Tönen aus den Pferdehinterteilen ... und der erste Besoffene des Tages schwankte daher und rief mich »Bürger« an. — Weiter. — Über dem Gebrumm des Ardenner Marktes sang schon das Wirtshaus, nur grölte es noch nicht ... die Kirchglocken läuteten das Amt ein ... und in der Mitte des Platzes verhieß ein weiß angestrichenes, mit Laub verziertes Podium, daß die Stadtkapelle zum Getöse des Fests bald ihren Heidenlärm anstimmen würde ...

Vor dem Bahnhof. — Nun war der Augenblick des Handelns für mich.

»Onkel ... werde ich Sie auf all Ihren Gängen in Nanthel begleiten können oder nicht?«

»Sicherlich nein. Warum? ...«

»Weil ich Sie dann — ich hasse Kaffeehäuser, Weinkneipen und Schänken — gerne bitten möchte, Sie lassen mich hier in Grey ... und ich erwarte Sie hier genausogut als in einem Bierhaus zu Nanthel.«

»Aber es zwingt dich doch niemand ...«

»Erstens reizt mich die ländliche Festlichkeit hier. Ich beobachte viel lieber für längere Zeit ein Treiben wie dies: denn, Onkel, die Sitten eines Volkes studieren sich am besten in einem solchen Gewühl, und ich fühle mich heute als Ethnologe ...«

»Entweder scherzest du, oder es ist eine Grille von dir!«

»... Zweitens, verehrter Herr Onkel, wem soll ich so lange meinen Wagen da anvertrauen? Dem Gastwirt, wie? Dem alkoholischen Pächter mit dem ländlich-sittlich vollgepumpten Bauch? Ach, Onkel, Sie glauben doch selber nicht, daß ich neun geschlagene Stunden lang einen Wagen, der 25 ooo Franken gekostet hat, der Belustigung eines besoffenen Dorfes ausliefere? Ach, nein! Ich will ganz allein selber auf mein Automobil aufpassen können!«

Der Onkel war wenig von meiner Aufrichtigkeit überzeugt. Er wollte mir die kleine Perfidie: daß ich dann etwa entweder mit dem Automobil oder mit einem geliehenen Fahrrad nach Fonval zurückeilte und erst bis fünf Uhr vierzehn wieder in Grey wär ... was ich doch eigentlich vorhatte ... scheußlich verekeln. — Und beinah ... o du verfluchter Gelehrter! ... beinah wär's ihm gelungen.

»Du hast recht, sagte er kalt.«

Stieg ab ... und öffnete vor der ganzen Menge der Sonntagsreisenden den Motorkasten und besah sich auf das genaueste den Motor. — Mir wurde übel.

Und nahm einen Schraubenzieher aus dem Werkzeugkasten, mein Herr Onkel, und demontierte im Nu den Magnet aus seiner Befestigung, und steckte ihn kaltblütig in seine Handtasche.

So, nun kannst du nicht weg mit deinem Fahrzeug.

Ich verriet mich mit keiner Wimper. Da sagte er verlegen:

»Entschuldige, lieber Nicolas, und sei überzeugt; das alles hat nur den Zweck, deine eigene Zukunft sicherzustellen, indem es das Geheimnis unserer Arbeiten bewahrt ... Adieu!«

Und sein Zug fuhr ab ...

Ich hatte ihn ohne das geringste Zeichen von Unwillen — durchaus gleichgültig scheinend, gewähren lassen. Ich selber war ja ein schlechter Mechaniker, weil ich jederzeit Schmierflecken oder Risse an meinen Händen verabscheute. Und meinen Chauffeur hatte ich — mein Onkel hatte es doch so gewollt — in Paris zurücklassen müssen. Doch hätten mir alle Mechaniker der Welt nicht geholfen, wenn ich nicht meinen Ersatzmagnet mitgehabt hätte, wozu ich mich beglückwünschte. Meine Vorsicht kam mir in diesen Augenblicken viel mehr zustatten als die beste Adresse eines Mechanikers von Beruf.

Ohne Zögern setzte ich, ebensoschnell wie mein Onkel den Magnet entfernt hatte, den Ersatzmagneten ein ... und war nur sehr neugierig auf die sich selber Überlassenen dort auf Fonval ...

Minuten später stand mein Wagen in einem Gebüsch — Sekunden darauf schwang ich mich über die Parkmauer.

Und ich war direkt auf Emmas Zimmer zugerannt, wenn nicht ein schauerliches Geschrei aus der Richtung der grauen Häuser her gewesen wäre.

... Das Laboratorium ... Nelly ... Das seltsame Benehmen eines in einem Laboratorium eingesperrten Hundes machte mich zwischen den beiden Polen: Geheimnis und Emma, schwanken. Und da war's eine Art Selbsterhaltungstrieb vor diesem Unbekannten und der Gefahr, die von jedem Ungewissen ausgeht ... ich wollte auf das graue Gebäude zu. Übrigens waren sicherlich die Deutschen dort, und das würde mich schon davon abhalten, daß ich allzulange dort bliebe. Ich raubte also meinem andern galanten Vorhaben damit nur einige Augenblicke ... ihr seht: die Vernunft, die triumphierte, war ziemlich verweichlichter Natur ...

Als ich am gelben Zimmer vorbeikam, horchte ich durch die Jalousien: Mac-Bell war allein. Das füllte mir das Herz mit einer unendlichen gemeinen Befriedigung an.

Silberwolken über den nackten Himmel hin. Der Wind von Grey-l'Abbaye her ... und bis in diesen Kessel herein das einförmige Lied der Glocken. Unablässig die drei selben Töne: das Glockenspiel aus der Arlesienne. Lustig war ich. Pfiff zu dieser heiligen Begleitung die profane Melodie. Die wie eine moderne Statuette auf einem gotischen Sockel wirkt ... Wahrhaft: jetzt, da Lerne nicht da war, fühlte ich mich frei von dem steten Bann und träumte mir ganz unvorsichtige Dinge ...

Dem Laboratorium gegenüber, auf der andern Seite des Wegs, fing Strauchwerk und Gehölz an. Ich lavierte so, daß ich da hineinkam, um von da aus meine Maßregeln zu treffen. Mitten im Gehölz traf ich auf einen alten Freund — eine Fichte. Ihre Zweige waren wie eine Wendeltreppe. Das gab eine Aussicht von da oben — keine war besser gelegen und besser zugänglich. Da oben hatte ich einst »Matrose in den Rahen« gespielt! ...

Ich saß wie ein Vogel auf einer wohl ein wenig verkürzten, aber dicht bewachsenen Käfigstange. Höher in den Zweigen war eine liebe Erinnerung für mich: ein Endchen Bindfaden und etwas, das einmal weiß gewesen war: das Marssegel! Einst hatte ich von hier aus Kontinente und Archipele — wirkliche Fabelhaftigkeiten — zu entdecken vermeint ... heut hielt ich hier Ausguck nach fabelhaften Wirklichkeiten!

Ich sah mich um.

Das Laboratorium bestand, wie schon berichtet, aus einem Hof zwischen zwei Gebäuden.

Das linke hatte große Fenster zu ebener Erde und in seinem übrigens einzigen Stockwerk. Als ob zwei große Säle übereinander lägen. Ich sah nur in den Saal im ersten Stock, der sehr kompliziert eingerichtet schien. Wie eine Apotheke, mit Marmortischen, und darauf Glaskolben, Phiolen und Retorten, offene Schränkchen, polierte Instrumente — und zwei unbeschreibliche Apparate waren da: aus Glas und vernickeltem Metall, wie ich sie nie gesehen und die ich höchstens mit jenen Globen auf Ständern vergleichen könnte, in die die Kellner alle Zigarrenasche und sonstigen Unrat vom abgespeisten Tisch hineinwerfen.

Vom andern Bau sah ich weniger. Doch schien er mir ein gewöhnliches Wohngebäude, darin wohl die drei Gehilfen hausten.

Aber was ich am Tag meiner Ankunft für einen Geflügelhof gehalten hatte — das mußte man sich ansehn!

Ein trauriger Wirtschaftshof! Da waren überall an den Mauern vergitterte und bis zu Menschenhöhe übereinander gebaute Abteilungen von verschiedener Größe. Und in diesen Behältnissen, die alle Tafeln mit Aufschriften trugen, rührten sich über die Maßen kläglich oder kauerten bis zur Hälfte unterm Stroh: Kaninchen, Meerschweinchen, Ratten, Katzen und andere Tiere, die ich aus solcher Entfernung nicht erkennen konnte. Nur unter einer Streu ging es sehr lebhaft zu, aber ich konnte nicht sehen warum, und vermutete, es sei ein Mäusenest.

Der hinterste Käfig, der in der rechten Ecke, war ein Hühnerstall. Aber selbst dieses Federvieh war eingesperrt.

Still und melancholisch alles.

Bis auf vier Hühner und einen Hahn von ganz gewöhnlicher Art, die ein wenig auf dem Betonpflaster herumgackerten und nicht müde wurden, mit ihren Schnäbeln nach vermeintlichen Körnern und Grashalmen zu hacken.

In der Mitte war ein großes Viereck eingezäunt, und das war der Hundestall. Philosophisch in ihr Schicksal ergeben, spazierten da viele Hunde vor ihren Ställen hin und her: schrecklich gewöhnliche Pudel, Jagd-, Hof- und Fleischerhunde, Bastarde von Spürhunden, eine Meute von Kötern, die nichts als treu sein können. — Und wie sie so spazierten, machten sie den Hof vollends zu dem einer Tierarzneischule.

Und was das Bild noch trauriger erscheinen ließ:

Die wenigsten der Tiere waren wohl gesund. Die meisten trugen Bandagen - auf dem Rücken, um den Hals, im Genick und besonders auf dem Kopf. Man unterschied durch die Maschen der Zellen hindurch Mützen, Hauben und Turbane. Diese Prozession von burlesk verkleideten, wie Tuareg und Äbtissinnen aussehenden Hunden, die alle Täfelchen um den Hals trugen, schien wie eine unheimliche Maskerade. Um so mehr, als fast all die Armen irgendwie gelähmt waren. Der fiel bei jedem Schritt aufs Maul, der hinkte an allen vier Beinen, der wackelte fortwährend mit dem Kopfe wie ein Greis, und ein ewig stolpernder Fleischerhund wimmerte, ohne daß man wußte, weshalb, und stieß mit einemmal ein langes todwundes Heulen aus ... als ob einer in der Nachbarschaft stürbe, wie man zu sagen pflegt ....

Nelly war nicht da.

In einem düstern Winkel bemerkte ich ein verschlossenes Vogelhaus. Soviel ich taxieren konnte, enthielt es nur die allergewöhnlichsten Vogelarten, ja, es wimmelte darin von Spatzen .... Nur hatten die meisten von ihnen etwas wie weiße Köpfe, und bis zu solchen Spielarten verstiegen sich meine ornithologischen Kenntnisse leider nicht ....

Nach Karbol roch's bis zu mir herauf ....

An irgendeinen Meierhof ... wo's nach gutem Dung riecht ... girrende Tauben auf dem moosigen Dach sitzen ... Kikeriki erschallt ... und Kläffen des Kettenhunds ... wo eine Schar Gänse ohne Grund und mit ebensowenig Erfolg mit den Flügeln schlägt ... an irgend so einen Meierhof mußte ich beim Anblick dieser Krankenstube denken! ... Fürwahr ein trauriger Wirtschaftshof, der da unten, mit seinen etikettierten Kranken — genau wie die Pflanzen im Treibhaus! ...

Plötzlich gab's ein Durcheinander. Die Hunde krochen in ihre Ställe, die vier Hühner und der Hahn flüchteten sich hinter einen steinernen Trog. Nichts rührte sich mehr. Der Taubenschlag und all die Käfige schienen nur noch ausgestopfte Tiere zu enthalten ... Karl, der Deutsche mit dem deutschen Kaiserbart, war aus dem Hause links herausgekommen.

Er öffnete eins der Häuschen, langte nach einem buckligen Fell, das unter seinen Händen noch buckliger wurde, und holte einen Affen hervor. Das Tier — ein Schimpanse war's — wehrte sich heftig. Der Gehilfe aber zog's mit sich fort: da hinein, wo er herausgekommen war.

Der Fleischerhund heulte neu und lang auf.

Im nächsten Augenblick wurde es in dem Saal mit den Apparaten lebendig — die drei Gehilfen waren eingetreten. Man legte den geknebelten Affen auf einen schmalen Tisch, streckte ihn fein aus, und Wilhelm stieß ihm etwas unter die Nase. Karl stach derweil mit einer Morphiumspritze auf die eine Flanke des Tiers ein. Dann trat der große Alte, der Johann, näher, rückte seine goldene Brille zurecht und beugte sich, ein blitzend Messer in der Hand, über den Patienten. Die Operation vollzog sich mit einer unbeschreiblichen Schnelligkeit — fast in demselben Augenblick schon war das Gesicht des Schimpansen nur mehr eine unförmige rote Masse.

Ich mußte mich angewidert abwenden, ich wurde schwindlig vor Blut ....

Das war also eine Stätte der Vivisektion, eine jener grauenerregenden Anstalten, darin die Menschenliebe auf das Ungewisse hin, einige Bettlägerige mehr heilen zu können, brave, heile und gesunde Tiere zu Tode martert. Die Wissenschaft maßt sich hier ein höchst strittiges Recht an, ein Recht, das vor vergossenem Blut unmöglich bestehen kann. Wenn ein solcher Henker eines Meerschweinchens sicher meint, er könne dadurch jeweils die Schuldlosigkeit und oft das Glück, die Errettung eines Menschen herbeiführen, so vermag er doch in neun von zehn Fällen nichts, als das Ende eines Lumpenkerls oder eines Krüppels aufzuhalten. Sein Leben der Vivisektion verdanken heißt sich von lebendem Fleische nähren. Man kann zu Hause hinter seinem warmen Ofen anderer Meinung darüber sein, aber nicht in einer so kritischen Lage wie ich damals, nur einige Schritt von dem Schrecklichen entfernt, inmitten von dunklen Gefahren, die vielleicht alle desselbigen Ursprungs waren.

Ich hätte viel, ich hätte alles durch ein Hinwenden meiner Augen erfahren können - ich vermochte es nicht. Mein Blick wollte nicht fort vom Stamm der Fichte, wollte nicht los von der roten, schwarz punktierten Wanze, die mit ihrem platten Rücken wie ein kleines, ein wenig fehlerhaftes Wappenschild die harzige Rinde schmückte: fünfzehn Sandkörner auf ein purpurn Feld ausgestreut ....

Endlich wandte ich mich um. Zu spät. Nun fiel die Sonne voll auf die Scheiben, und ich konnte nicht mehr durchsehn.

Aber im Hof waren die Hunde wieder hervorgekrochen, und unter ihnen war jetzt auch die Hündin von Doniphan Mac-Bell, die Nelly. Sie hustete, keuchte. Ihr ausgehaartes Fell erinnerte in nichts mehr an das wunderschöne Vlies eines Bernhardiners. Die herrliche Hündin war nur mehr Rippenwerk, und ihre Magerkeit kontrastierte mit der relativen Beleibtheit der übrigen Hunde. Nelly trug ebenfalls Bandagenzeug im Genick. — Was hatte ihr Lerne seit der Nacht, da sie ihn anfallen wollte, Schlimmes zugefügt? Was für eine teuflische Erfindung hatte er an ihr erprobt?

Als ob sie dies nicht begriffe und sehr darüber nachdächte, so sah sie aus. So sehr konsterniert. Und hielt sich abseits von allen andern. Und als sie eine ziemlich kecke Bulldogge mit nicht mißzuverstehendem Blick und deutlich erklärtem Schwanz bespringen wollte, fuhr sie derart auf, mit Augen von solcher Wildheit und einem so heisern und fürchterlichen Schrei, daß der Attentäter bis zutiefst in seine Hütte kroch, während die bestürzte Meute ihre karnevalsbemützten Köpfe wandte.

Die geschämige Nelly aber hinkte weiter auf ihrem Weg .... Sollte ich noch länger hier bleiben? Trotz meiner Eile, dieses Wiedersehen abzukürzen und mir anders die Zeit zu vertreiben, bannte mich etwas ... etwas Unerklärliches an dieser Hündin.

Der Wind trug bis auf Fonval her die Klänge einer Polka, die die Stadtmusikanten in Grey-l'Abbaye schmetterten .... Ich schlug unwillkürlich mit den Fingern den Takt dazu und ... sah: Nelly schritt schneller nun — Nelly tanzte zur Polka.

Ich erinnerte mich wohl, daß Emma einmal von gescheiten Kunststücken des Hundes erzählte. War das nun so ein Zirkusstückchen, das Mac-Bell seinem Bernhardiner beigebracht hatte? ... Das war doch unwahrscheinlich: eine ähnliche »Nummer« vollbringt ein Hund nur vor seinem Dresseur, durch das Gehör allein entstehen nimmer und nie solche Bewegungen im Takt, dazu ist allemal unsere geheime Beihilfe nötig, zu so einem Tanz müssen wir mit einem Tier sehr kompliziert umzugehen wissen, das ist keine Sache des Instinkts! ...

Der Wind nahm ab, die Musik verhallte. Die Hündin setzte sich, hob die Augen und sah mich ... Teufel! Sie wird bellen! Wird Alarm schlagen! ... Nichts. Sie sah mich ohne Furcht und ohne Wut mit Augen an ... Augen, die ich nie vergessen werde. Dann schüttelte sie ihren aufgeputzten Kopf und fing leise, leise zu klagen an und gab Zeichen mit ihrer Pfote. Dann nahm sie ihren Weg wieder auf, immer murmelnd und mit solchen verstohlenen Blicken zu mir her, als ob sie sich mir verständlich machen wollte, ohne die Aufmerksamkeit der Deutschen zu erregen. (Vielleicht meint man, das sei nur eine Schönfärberei in meiner Beschreibung. Aber nein und wirklich: ich konnte mir sehr wohl einbilden, daß die Hündin sich mir mitzuteilen wünschte. So fein modulierte sie ihr Wehklagen und soviel erinnerte es an eine lange undeutliche Phrase voller Kehllaute, darin unaufhörlich das Wort »aicbouäl, aicbouäl« vorkam. Es war ein Gegurgel und klang wie schlecht ausgesprochenes Englisch.)

Aber da kamen die drei Gehilfen wieder, und da war's mit diesem Wunderlichen vorbei. Sie gingen über den Hof, und alle Hunde, Nelly voran, verkrochen sich. Wilhelm warf Packen zerschundenen zottigen Fleisches, den Leib des Affen, über den Hundezaun. Das fiel schwer — das fiel tot hin. Die drei Deutschen traten ins Gebäude rechts ein, und bald stieg Rauch aus dem Schornstein auf.

Dann kam von den Kötern einer nach dem andern heraus und beroch den Schimpansen. Die Bulldogge tat das Zeichen zum Fraß, und es begab sich eine Mahlzeit unter feindseligem und widerlichem Keifen. Die Schnauzen dieser Krüppel färbten sich rot, und unter Fletschen und Krachen ward die erbärmliche Karikatur einer Kindesleiche zerfleischt. Nur Nelly lag mit gekreuzten Pfoten vor ihrer Hütte, wie angewidert von dem Treiben, und sah mit ihren schönen tiefen Augen zu mir her. Nun glaubte ich auch zu wissen, warum sie so abgemagert war.

Da ward ein Fenster geöffnet, und ich sah einen Tisch mit drei Gedecken. Die Gehilfen wollten, grad mir gegenüber, frühstücken. So war's hohe Zeit für mich, zu verschwinden.

Aber ich beging einen unverzeihlichen Schnitzer. Ich hätte doch unbedingt und vor allem jetzt nach dem alten Schuh sehen sollen. Es schien mir falsch — ich war nicht vorsichtig genug gewesen; ein so elastischer Schuh hat Anspruch, mehr als nur etwas Elastisches zu sein — das konnte etwas Beerdigtes, das konnte ein verscharrtes Bein sein ... Aber ich hatte das Bild eines Mädchens in meinem eitlen Sinn ... ich wollte nichts anderes denken, ich redete mir alles andere aus, kurz — ich hinterging mich selber, als ich gradaus auf das Schloß zueilte!

Das Zimmer meiner Tante Lidivina war eine Lüsternheit. Es war wie die Garderobe einer Kurtisane. Mehrere Modelle aus Weidengeflecht trugen außerordentlich elegante Kostüme, standen wie eine Gruppe von steifen und geköpften Koketten da. Der Kamin, die Nipptische waren wie aus einem Modistinnenladen, ein wirrer Haufen von Federn und Bändern, das alles erst auf einem Frauenkopf zu hübschen Hüten wird. Eine Kompanie Tanzschuhe stand in Reih und Glied. Tausendfacher fraulicher Kram häufte sich ... und um das alles war ein feiner perverser Geruch, der Geruch Emmas.

Arme teure Tante! Ich hätt's lieber gesehen, wenn dein Zimmer noch schlimmer entweiht, noch viel mehr das von Fräulein Bourdichet gewesen wäre, um den Preis, daß nebenan, im Zimmer deines Gatten — denn darüber konnte ich nun in keinem Zweifel mehr sein — weniger Lachen und sonstiges übles Spiel sich vollzogen hätte ... na, ich denke, du weißt Bescheid, Tantchen!

Als ich eintrat, waren Emma und Barbara baff. Doch begriff das junge Weib alsbald und lachte hell auf.

Sie lag im Bett — frühstücken. Fuhr mit der Hand aus — und die feurige Welle ihres Haars wurde zum bacchantischen Kopfschmuck. In diesem Augenblick erschaute ich ihren einen ganzen Arm durch den Ärmel ... das Hemd ging ihr auf, und sie machte es absolut nicht wieder zu.

Man hatte ihr einen Tisch mit Gläsern und Tellern ans Bett herangerückt. Barbara, die ihrer Herrin aufwartete, schnitt von einem Schinken leuchtende Scheiben ab ... Mein erster Gedanke war, daß der Tisch und diese Barbara mir peinlich hinderlich waren ...

Ich sah auf ihre weiße Kehle, die mir mit doppelter Sorgfalt modelliert schien, und deren Erhöhung ein klein bißchen rosig war.

»Und Lerne?« sagte Emma.

Ich klärte sie auf:

»Er kommt erst um fünf zurück; und ich erwarte ihn.«

Ein leises Glucksen — mit dem die Freude schluchzt. Barbara, die entschieden ergeben war, jubelte lustig auf, war ganz und gar dabei, nudelte sich in der allgemeinen Fröhlichkeit.

Halb ein Uhr war's. Es blieben vier Stunden Zeit. Ich meinte, daß das bitter wenig sei ... Aber Emma sagte:

»Wir wollen frühstücken! Willst du, mein kleiner Schimpanse?«

Ich konnte in dem Augenblick nichts Besseres tun. War doch der Tisch und war doch diese Barbara da ... Ich setzte mich also der jungen Dame gegenüber.

»Wie Sie wünschen! Aber ein wenig schnell, bitte, ja? Ja?«

Sie trank. Aber was sie da Beistimmendes murmelte, erstickte im Glas zu einem komischen Rollen, und ihre Augen über dem Kristallrand waren föppisch.

Sie bediente mich mit ihren weißen Händen und geschminkten Nägeln.

Mir fehlten Geist und Appetit, alles beides. Es wollte nichts aus meinem Munde kommen und nichts in ihn eingehn. Eros strangulierte mich.

Emma! ... Unsere Blicke verfingen sich. In dem ihrigen waren Verheißungen viel und nicht wenig Ironie. — Sie aß Spargel, als ob sie sie gierig küßte. — Zuweilen, wenn sie sich zu mir herbeugte, tat sich ihr Hemd noch weiter auf, und was ich dann sah, das war so erstaunlich rührend, daß sie mein ganzes Wesen mit meinen Augäpfeln an sich riß und meine Hände zittrig verliebt machte.

»Emma! ...«

Aber da hatte sie sich schon wieder zurückgebogen, fast nackend, wie sie war, und über ihre Schönheit lachend wie über ein großes Glück. Wann setzte die unvergleichliche Kunst des Instinkts soviel Fülle und soviel Frische je in besseres Licht?

Ich hatte nicht den geringsten Hunger. Und nahm mir an Stelle alles andern vor, Emma nun ohne Aufhören zu betrachten. Aber sie beeilte sich nicht und blieb spöttisch — und das alles wohl nur zu dem Zweck, mein Verlangen nach ihr zum Paroxysmus zu steigern.

Sie genoß ihr kleines Mahl recht wie ein Leckermaul. Ich hatte sie noch nie in solcher Ausgelassenheit gesehen. Wie sie sich in dem lauen Parfüm des Zimmers gab, war meiner Ansicht nach vollendet. Ihre Produktion, ihre Parade mußte eine unwiderstehliche Lust zum Endlichen, Letzten auslösen. Die Reize, die man zeigt, zeigen die, die man verbirgt, sagt man. So belustigte ich mich, nun das Unsichtbare durchs Sichtbare zu sehen. Emmas Nase war ein kleiner lebensprühender Kerl für sich. Ihr schmaler Mund hatte fleischige und rote Lippen, die im Schweigen noch ein zuckendes, lächelndes, wollüstiges Schweigen — Schlüpfrigkeiten aussprachen. Sie reckte sich. Der Batist formte Rundungen ab, mit Vorbedacht schlanke Dinge und ratsam pralle — und auch zwei Spitzen, deren eine entsprang, so wie an einem blendenden Himmel ein purpurroter über sich selbst erstaunter Stern aufflammt.

Ich stieß unwillkürlich an den Tisch: eine Erdbeere fiel in die Schale mit Milch.

»Räum alles fort und geh, Barbara!« sagte Emma.

Und als die Magd gegangen war, wickelte sie sich fröstelnd ins Laken und hatte ein Gesicht, als ob sie soeben eine große Neuigkeit erfahren hätte.

Und die Sekunde, die nun geschah, die würde mir ein toller Gott mit seiner Unsterblichkeit bezahlt haben.

Aber Emma blieb länger ohne jedes Lebenszeichen, als es der Brauch ist. Ihr steifer Leib wurde von einer seltsam schönen, aber beängstigenden Weiße, und ich konnte nicht einmal ihren Mund aufbringen, um sie mit ein wenig Wasser zu letzen.

Ich wollte schon rufen — da durchzuckte es sie grausam. Sie stieß einen Seufzer aus, der süß und heiser zugleich klang, tat die Augen auf und röchelte von neuem, aber diesmal anmutiger und für mich ein wenig schmeichelhafter ... Ihr Geist aber, der schien fern von ihr und weitab geblieben zu sein. Sie sah mich wie immer noch von sehr weither an, vom verlorenen Ufer der Venus. Sie kehrte nur langsam zu mir zurück.

Ich hatte einen plötzlichen Anfall von Keuschheit und deckte ihre völlige Nacktheit zu — o sie war nackter, sie war vollkommener nackt als andere ... was sonst an solchen Elfenbeinleibern an drei Stellen tiefblau von Haaren ist und tief herleuchtet, war hier ... kahl ...

Emma wickelte an einer feurigen Strähne ihres Haupthaares ... belebte sich neu ... wollte reden ... die Statue aus Schnee und Feuer bekam wieder Seele und schloß mit einem wundervollen Wort den wunderbaren Akt, den Akt der Akte ... indem sie sprach:

»Solang der Olle nich mit der Neese zwischen is, solang is es allens, was man muß ... nich, mein Süßes? ...«


7. Kapitel

Also sprach Fräulein Bourdiehet

... Solche Rede enttäuschte mich überaus.

Ein paar Minuten zuvor hätt ich mich wenig dran gekehrt. Einmal, weil die Urheberin sich auch sonst ziemlich gemein verständlich machte, und dann, weil soviel Angst daraus sprach, der Onkel könne uns im Verlaufe unseres Fehltritts ertappen. Aber mit der Sattheit kommt eben die Tugend, kommen die schönen Manieren, Gewissensbisse und Aufregung ...

Dann, wie's dann immer ist, sahen wir einander an. Und unsere Gesichter waren, wie sie seit Jahrtausenden nach einer solchen Sache zu sein pflegen: Das ihrige von einer ziemlich vernunftlosen Dankbarkeit, auf dem meinigen blödsinnigste Genugtuung...

Daß meine dialektsprechende Cypria schwieg, war gut, war unverhofft. Ich wünschte, daß dem recht lang so wäre. Da brach sie das Schweigen. Glücklicherweise kann der Inhalt die Form beeinflussen, so wie ein Mönch ein Kleid — ihre Ausdrucksweise mäßigte sich ein wenig vor den ernsten Dingen, die auch mich schon Augenblicke lang quälten. Sie verfolgte einen Gedanken:

»Kleiner!«

»Ja?«

»Wo wir doch schon einmal so weit miteinander waren, wär's dumm von uns, wenn wir die Gelegenheit dazu nicht so oft wie möglich ausnützen. Aber ich bitte dich! Keine Unvorsichtigkeiten! Wir müssen immer sicher dabei gehen können! Lerne, siehst du ... Lerne! ... Du zweifelst doch wohl nicht, daß das Gefahren für uns hat ... für dich, besonders für dich ...«

Ich sah, daß sie tragische Vorkommnisse stark beschäftigten.

»Aber was für Gefahren?«

»Das ist ja das allerschlimmste, daß ich nicht weiß, was für welche! Ich kann nichts von alldem begreifen, was um mich geschiehtnichts, nichts, nichts! ... Außer daß Doniphan Mac-Bell wahnsinnig geworden ist, weil ich ihn geliebt hab ... und daß ich dich auch liebe!

»Also, Emma, nur immer kaltes Blut! Wir zwei sind jetzt Verbündete; wir zwei werden die Wahrheit wohl herausbekommen! — Wann kamst du nach Fonval? Und was ist seitdem passiert?

Und sie begann mit Erzählen. Ich geb es hier nach besten Kräften zusammengestellter und klarer wieder ... denn in Wirklichkeit war das ein langer Dialog, den ich bald eindämmend, bald ableitend überwachte und führte. Übrigens ging die Unterhaltung auch nicht in einem hin, da waren niedliche Intermezzos, es war ein Drama mit eingelegten Chansons — und aus diesem Grunde verzichte ich gleichfalls darauf, hier in extenso zu berichten ... meine Sentimentalität würde mich nie ein Ende finden lassen. Es gibt keine ununterbrochene Konversation mit einer so ausschweifenden Geliebten, um so mehr, wenn sie als einziges Kleidungsstück ihr Bett hat, und, was noch dazu kommt, immer gleich hübsch den Faden verliert, sowie sich etwas anspinnt ....

Zuweilen hielt auch ein Knistern oder sonst ein Geräusch unser vertrauliches Gespräch oder unsern Zeitvertreib plötzlich auf einem Wort oder auf einem Kuß an. Dann wand sich Emma in Schrecken vor Lerne, und mich selber fröstelte, wenn ich sie so sah: genügte doch ein Ohr an der Wand, ein Blick durchs Schlüsselloch, und mir geschah, was mir erzählt ward ...

So und so erfuhr ich von der Herkunft und den Anfängen Emmas. Diese Dinge haben auf diesen Blättern nichts zu schaffen, und man kann alles in die Worte zusammenfassen: »Wie ein Findling eine Verlorene ward.« Und Emma war während ihrer ganzen Beichte von einer Aufrichtigkeit, die man anders für Zynismus hätte halten können.

Dann fuhr sie fort zu berichten:

»Lerne lernte ich vor fünf Jahren — ich war fünfzehn — im Hospital zu Nanthel kennen. Ich war zu ihm gekommen. Als Krankenschwester? — Nein. Ich hatte mich mit einer Kameradin von mir, mit Léonie, wegen Alcide geschlagen. Alcide war mein ... — Na was denn? Ich werde deshalb nicht rot. Er ist herrlich. Er ist ein Koloß, mein Kleiner. Mit dir würde er Ball spielen! Mein Gürtel war ihm als Bracelet zu eng! ...

Kurz, ich hatte einen Messerstich abbekommen, einen wohlgezielten, das schwör ich dir. Nein, sieh doch lieber her! Hier!

Sie warf die Decke ab und zeigte mir in der Falte ihrer Leiste eine dreieckige blasse Narbe, den Denkzettel der abscheulichen Léonie.«

»Natürlich darfst du ihn küssen, komm!« sagte sie. »Der Stich war beinah mein Tod gewesen. Und dein Onkel, das muß man sagen, der hat mich gepflegt und gerettet.«

»Gott! Was war damals dein Onkel für ein braver, gar nicht stolzer Kerl! Er hat oft mit mir geredet. Und ich fand das sehr schmeichelhaft! Der Professor! Der Chef! Denk nur mal an! ... Und er redete so fein! Er predigte wie ein Pfarrer von meinem Leben: ›Mein Leben war sündig und ich will mich bekehren‹ und so trallalala ... Und ohne sich vor mir zu ekeln, so ernsthaft, daß ich einen Ekel von allem bekam, vor der Liederlichkeit und vor Alcide ... — So 'ne Krankheit, nich, die macht das Blut fein ruhig ...«

»Und eines schönen Tages sagte Lerne: — ›Du bist geheilt. Kannst gehn, wohin du willst. Aber mit guten Vorsätzen allein ist nichts getan. Willst du zu mir kommen? Du sollst bei mir Wäschenäherin sein und dir dein Brot — weit von allen deinen Genossen verdienen. Und alles in allen Ehren, du weißt!‹«

»Das verblüffte mich. Ich sagte mir: ›Quatsch du nur zu. Du schwindelst mich nicht an. Wenn ich erst einmal bei dir bin ... dann zieh Leine, platonische Liebe! Wer dich immer so reden hörte, hätte das von dir nicht für möglich gehalten.‹ Aber es gibt eben keine Heiligen mehr. Aus Liebe zur Kunst hält man keine Frau aus ...«

»Er war gütig. Er war von Rang, er hatte Renommee. Und er hatte auch ... so was wie Chic, ich kann dir das nicht erklären. Also alles das zusammen, das machte meine Dankbarkeit zu ihm noch größer und wurde, weißt du, so etwas fast wie Zuneigung. Ich nahm denn seinen Vorschlag an, aber immer mit der festen Gewißheit, daß das andere schon nicht ausbleiben würde.«

»Na, und? Absolut nichts! Es gab noch einen Heiligen: ihn. Ein ganzes Jahr durch hat er mich nicht angefaßt.«

»Ich war heimlicherweise bei ihm. Der Gedanke, daß mich Alcide wiederfinden könnte, ließ mich nachts nicht schlafen. — ›Nur keine Angst‹, sagte Lerne, ›ich bin nicht mehr Chirurg am Hospital. Ich will an Entdeckungen arbeiten. Wir gehen aufs Land, da wird dich schon niemand finden.‹

Und wirklich, er brachte mich hierher.«

»Ah! Das Schloß und den Park mußte man gesehen haben! Gärtner, Diener, Wagen, ein Pferd ... da gab's keinen Mangel. Ich war glücklich.«

»Wie wir hier ankamen, waren Arbeiter mit den Anbauten am Gewächshaus und mit dem Laboratorium fast fertig. Lerne beaufsichtigte die Arbeiten. Er scherzte beständig und sagte immer wieder: ›Was wird sich da drinnen tun! Was wird da drinnen alles geschehen können!‹ Genau wie die Schulkinder, wenn sie rufen: ›Hoch die Ferien!‹«

»Das Laboratorium wurde möbliert. Was da viel Kisten kamen! Und als alles da war, ging Lerne eines Morgens nach Grey.«

»Die Allee war damals noch grade. Und dann sah ich deinen Onkel mit fünf Reisenden und einem Hund zurückkommen. Die er vom Bahnhof abgeholt hatte: Doniphan Mac-Bell, Johann, Wilhelm, Karl, Otto Klotz — den großen schwarzen, weißt du, auf der Fotografie — und Nelly. Der Schotte hatte die Deutschen in Nanthel getroffen. Ich bin sicher, daß er sie vorher nicht gekannt hat.«

»Die Gehilfen logierten sich im Laboratorium ein. Mac-Bell sollte in einem Zimmer im Schloß wohnen — grad wie der Doktor Klotz.«

»Vor dem Doktor fürchtete ich mich sofort. Er war so schön und so groß. Ich konnte nicht anders, ich mußte Lerne fragen, woher dieser Schwurgerichtskopf käme.

Die Frage belustigte ihn sehr: ›Immer ruhig‹, antwortete Lerne. ›Du siehst überall Helfershelfer von deinem Herrn Alcide! Professor Klotz kommt aus Deutschland. Er ist sehr gescheit, und er ist ein Ehrenmann. Das ist kein Angestellter, sondern mein Mitarbeiter, der besonders die Arbeiten seiner drei Landsleute zu bewachen haben wird ... !‹«

»Verzeihung, Emma,« fiel ich ihr ins Wort. »Aber konnte mein Onkel damals Deutsch und Englisch?«

»Sehr wenig, wie mir scheint. Er übte alle Tage. Aber ohne großes Resultat. Erst gradezu nach einem Jahr sprach er einigermaßen fließend. Übrigens konnten die Gehilfen schon ein paar französische Brocken und Klotz dafür ein bißchen Englisch. Mac-Bell konnte absolut nur Englisch. Lerne erzählte mir, er hätte ihn nur nach Fonval genommen, weil der Vater es so sehr wünschte, daß der junge Student einige Zeit hier unter dem Professor arbeiten sollte.«

»Wo schliefst du, Emma?«

»Neben der Wäschekammer. Oh! Weit weg von Mac-Bell und Klotz, fügte sie lächelnd hinzu.«

»Wie standen die Herren unter sich?«

»Wie gute Freunde. Aber ob sie aufrichtig waren? Ich glaub's nicht. Es ist nicht unmöglich, daß die vier Deutschen von Anfang an auf Mac-Bell etwas wie eifersüchtig waren. Ich sah böse Blicke. In jedem Fall hatte Doniphan nicht viel unter ihrer Intimität zu leiden, denn er arbeitete nie mit ihnen im Laboratorium, sondern im Schloß und im Treibhaus. Erst mußte er nichts als aus französischen Büchern büffeln. Wir trafen uns oft, denn ich lief viel im Hause um. Er war zuvorkommend und ehrerbietig — wohlverstanden durch Gestikulationen — und mir war aufgetragen worden, liebenswürdig zu sein ....«

»Diese kleinen Geschraubtheiten zwischen uns beiden wurden dann — ich bin ganz und gar sicher — die Ursache der heimlichen Antipathie zwischen ihm und Klotz. Ich sah's: wie sie ihre Animosität auch verbergen wollten, Nelly konnte das nicht und knurrte bei jeder Gelegenheit gegen den Deutschen; und das galt in meinen Augen. Aber dein Onkel, ach, der sah nichts. Und ich, ich wollte sein Glück nicht durch solche Jeremiaden stören. Ich wagte es einerseits nicht ... und andererseits konnte mir das Rivalentum doch nicht mißfallen. Denn wenn ich Lerne hundertmal versprochen hatte, ich würde ganz, ganz artig sein, regte ich mich an der Sache schließlich auf, und ich kann dir nicht sagen, was dabei herausgekommen wäre, wenn nicht — ja, da trat dann plötzlich eine große Änderung für uns alle ein ....«

»Ein Jahr waren wir nun schon da. Heut etwas vor vier Jahren also ....«

»Ah! rief ich aus.«

»Was hast du?«

»Nichts, nichts! Weiter!«

»Vor vier Jahren also. Da reiste Doniphan Mac-Bell nach Schottland auf ein paar Wochen Ferien zu seinen Eltern. Am Tag nach seiner Abreise — früh morgens ging Lerne aus: ›Ich geh mit dem Doktor Klotz nach Nanthel, und wir bleiben den ganzen Tag dort.‹«

»Auf den Abend aber kam Klotz allein zurück. Ich fragte ihn nach Lerne. Und da schien's, als ob der Professor wichtige Nachrichten bekommen hätte, die ihn ins Ausland riefen — und als ob er in etwas wie drei Wochen erst wiederkäme. — ›Wohin ist er denn?‹ fragte ich weiter. — Klotz zögerte und sagte endlich: ›Nach Deutschland .... Wir bleiben also während dieser ganzen Zeit allein hier, Emma ....‹ Und er nahm mich um die Taille und sah mich mit dem Weißen seiner Augen an ....«

»Ich konnte mir das Verhalten Lernes nicht erklären. Er, der mich doch so tugendhaft haben wollte, lieferte mich ohne ein Wort der Gnad und Barmherzigkeit eines Fremden aus. — ›Wie gefall ich dir?‹ fragte mich Klotz und preßte mich an sich, daß es schon keine Art mehr hatte.«

»Ich hab dir doch vorhin erzählt, Nicolas, daß er groß und kräftig war. Seine Muskeln, fühlte ich, waren aus Eisen, und ich gab mich drein, ohne daß ich es wollte: ›Los, Emma, los! Haben wir uns heute! Denn ... du wirst mich nicht wiedersehen!‹«

»Ich bin nicht feige. Ich ward, unter uns gesagt, schon von Händen zärtlich umgefaßt, die Mörderhände waren. Meine ersten Liebhaber taten in ihrer Liebe so zu mir, als ob sie mich mit Faustschlägen traktierten ... so schwer und so hart; man ist ihnen einfach Opfer; man weiß nicht, spürt man Schmerz oder Vergnügen. Was übrigens gar nicht so unangenehm ist. Aber all das war nichts gegen dies. Die Nacht mit Klotz war furchtbar. Wie eine Notzüchtigung. Ich hab heut noch den Schrecken und die Mattigkeit davon im Leibe.«

»Spät am Vormittag erwachte ich. Er lag nimmer neben mir. Ich hab ihn nie wiedergesehen.«

»Drei Wochen. Dein Onkel schrieb nicht und blieb immer länger aus.«

»Ganz urplötzlich war er dann wieder da. Ich sah ihn nicht einmal ankommen .... Er sei bei seiner Ankunft gleich ins Laboratorium gelaufen, sagte er mir. Von da kam er auch — am Mittag — als ich ihn sah .... Aber seine Blässe tat mir fast weh. Er mußte furchtbar unglücklich sein. Er ging wie hinter einem Leichenwagen her. Was hatte er erfahren? Was hatte er getan? Welche Sündflut war über ihn hereingebrochen?«

»Ich fragte ihn sanft aus. Er antwortete nur stockend und mit dem Akzent des Landes, aus dem er herkam: — ›Emma‹, sagte er, ›ich denke, du liebst mich?‹ — ›Das wissen Sie doch nur zu gut, mein teuerer Wohltäter, ich bin Ihnen mit Leib und Seele ergeben.‹ — ›Mich interessiert nur dein Leib. Du fühlst dich also imstande, mich zu lieben ... mit Liebe? ... Oh!‹ grinste er. ›Ich bin ja kein Jüngling mehr, aber ....‹«

»Was sollte ich ihm darauf antworten? Keine Ahnung. Lerne runzelte die Stirn: — ›Gut!‹ sagte er eilig. ›Von heut Abend ist mein Zimmer das deinige!‹«

»Ich gesteh dir, Nicolas, daß mir das das natürlichste von der Welt schien. Aber ich wußte ja bis dahin nichts von dem argwöhnischen und brutalen Frederic Lerne, der sich mit einem Mal zu erkennen gab. Er riß mich an beiden Händen, und seine Augen brannten heimtückisch: ›Jetzt‹, schrie er, ›ist es aus mit Lachen! Zu Ende mit so niedlichem Zeitvertreib! Ha! Jetzt gehörst du mir, ausschließlich mir! Ich hab alles wohl durchschaut, was sich hier begeben hat, und was für Süßlinge ständig um dich herum waren! Ich hab mir den Klotz vom Halse geschafft! Und was jenen Doniphan Mac-Bell angeht, so sieh dich vor, meine Liebe! Wenn er gut bleibt, hat er's auch gut! Nimm dich in acht !‹«

»Dann entließ Lerne alle Domestiken, engagierte als einzigen Dienstboten die klägliche Barbara und legte die Labyrinthwege an.«

»Am angesagten Tag zog Mac-Bell, von seiner Hündin begleitet, wieder im Schloß ein — und war ganz verdutzt, Wald und Allee, alles in einem solchen Drunter und Drüber zu finden. Lerne fuhr ihn an, daß er seine Siebensachen noch in der Hand hielte, und schalt ihn mit so scheußlichen Gestikulationen und einem so widerlichen Gesicht aus, daß Nelly mit gesträubtem Fell und knurrend die Zähne wies.«

»Kam, was kommen mußte! ... Vor dem Altar und den geistigen Qualitäten unseres Wirts hatten Mac-Bell und ich alle Hochachtung gehabt und hätten die Ehre seines Hauses wohl respektiert, wie man zu sagen pflegt. Aber jetzt, da es sich nur noch darum handelte, einen gehässigen und tyrannischen Wüstling zu betrügen — jetzt ließen wir ihm Hörner wachsen.«

»Währenddessen wurde der Professor von Tag zu Tag grausamer und wütender. Er befand sich in einem namenlos überreizten Zustand. Ging nicht mehr aus. Arbeitete unablässig. Genial vielleicht. Aber war krank auf den ersten Blick. Beweis? Sein Gedächtnis verließ ihn. Er wurde ungemein vergeßlich, ja, er fragte mich oft sogar über seine eigene Vergangenheit aus. Und wußte zuletzt nur noch in seiner Wissenschaft Bescheid.«

»Es war aus mit Lachen — wahr und wahrhaftig! Es war Schluß mit dem Glück mit ihm! Beim geringsten Argwohn schmähte er mich; beim winzigsten Verdacht schlug er auf mich ein. — Mir tun weder Beleidigungen noch Schläge viel an, das kann ich wohl behaupten, aber nur, wenn ich zu jenen weinen kann und bei diesen blute, wenn die Lippen, die mir fluchen, geliebte sind, und die Faust, die mich trifft, eine echte ist. Dann, ja, dann meinetwegen bis ans selige Ende ... aber .... Ich erklärte dem alten, schlappen Affen, daß ich die Einsamkeit und Armut nun satt hätte: ›Ich geh fort‹, sagte ich .... Na, Kleiner, da hättest du ihn aber sehen sollen! Da umfaßte er meine Knie und rutschte auf dem Boden hin und her: ›Wie! Wie! Emma! Bleib, ich beschwöre dich! Warte! ... Warte zwei Jahre noch! Dann reisen wir zusammen fort, und du sollst das Leben einer Königin führen! Ich werde reich sein, sehr reich! ... Geduld! Ich weiß es ja, du bist nicht dazu gemacht, um ewig hier wie im Kloster zu leben! Glaub mir! Ich verschaff uns ein Vermögen, das nicht auszurechnen ist .... Noch zwei Jahre so einfach bürgerlich und du lebst das Leben einer Kaiserin! ...‹«

»Ich ließ mich bequasseln und blieb auf Fonval.«

»Aber die Jahre kommen, die Frist läuft ab, und von Luxus: 'n Dreck! Ich warte und warte, vertraue auf das Vertrauen Lernes und auf sein Genie: nischt. — ›Verlier den Mut nicht, gib's nicht auf, wir nähern uns dem Ziel‹, sagte er immer wieder. ›Alles kommt, wie ich's vorhersagte, du sollst Milliarden haben ....‹ Und um mich in meinem Müßiggang zu erheitern, ließ er mir in jeder Saison aus Paris Roben, Hüte und allen möglichen Flitterkram schicken: ›Sieh, daß du sie tragen lernst, geh deine Rolle durch, spiel Zukunft ....‹«

»So lebte ich drei Jahre zwischen Lerne und Mac-Bell: von dem einen grob angefahren, mit Füßen getreten und dann wieder wie eine Mutter Gottes angebetet und mit unnützem Putz überhäuft und von dem andern heimlich gehabt, da und dort, wie sich's grad machte, auf einem Kanapee oder auf einem Teppich.«

»In diese Zeit fällt dann Lernes große Reise. Von zwei Monaten; während welcher Zeit Mac-Bell zu seinen Eltern auf angebliche Ferien expediert wurde.«

»Sie kamen auf den gleichen Tag zurück. Ich glaube, der Professor und er hatten erst ausgemacht, sich in Dieppe wiederzutreffen.«

«Lerne war finster und knirschte: ›Du mußt noch warten, Emma.‹ — ›Was war denn los? Es ist nichts?‹ — ›Man ist der Meinung, meine Erfindungen seien noch nicht genug vervollkommnet .... Aber du hast nichts zu fürchten! Ich finde schon noch!‹«

»Und nahm seine Versuche im Laboratorium wieder auf.«

Wieder einmal unterbrach ich Emma in ihrem Bericht.

»Verzeihung, aber arbeitete Mac-Bell zu dieser Zeit gleichfalls im Laboratorium?«

»Nie! Lerne gab ihm Manipulationen auf, die er im Treibhaus — und zwar vom Professor hinter Schloß und Riegel gesetzt — erledigen mußte! Mein Freund! Der arme Doniphan! Wär er doch bei seinen Eltern geblieben! Aber nur um meinetwillen kam er aus Schottland zurück! Er sagte es mir oft genug auf sein Kauderwelsch: »Für Sie! Für Sie!« Recht viel mehr brachte er nicht aus sich heraus. Für mich, barmherziger Gott!, wurde er dann auch einige Wochen später — — —«

»Hör zu. Jetzt kommt der Irrsinn.«

»Diesen Winter. Es schneit. Nach dem Frühstück. Lerne nickt neben dem Eßzimmer, im kleinen Salon, in einem Lehnstuhl ein. Es scheint wenigstens so, als ob er ein Schläfchen machen wollte. Doniphan wirft mir einen Blick zu. Tut dann, als ob er ginge, und als ob er, kindisch genug, im Schneetreiben draußen herumlaufen wollte und geht übern Flur hinaus. Man hört ihn draußen eine Arie pfeifen. Und hört, wie er immer weiter fortgeht. Ich, wie um der Magd beim Tischabräumen zu helfen, geh ins Eßzimmer. Doniphan trifft mich an der Tür, die der vom kleinen Salon gegenüber liegt — und ich hab die Tür vom kleinen Salon natürlich offen gelassen, um Lerne immerzu hören zu können. Doniphan schließt mich in seine Arme; ich drück ihn an mich. Ein Kuß. Leise, leise.«

»Plötzlich verfärbt sich Doniphan. Wird grün. Ich schau hin, wo er hinschaut .... Die Tür vom kleinen Salon ist mit einem kleinen Fensterchen versehen — du weißt? — und dahinter, dahinter seh ich die Augen Lernes, die uns abpassen ....«

»Und dann stürzt er herein! ... Meine Knie zitterten .... Mac-Bell ist sehr klein, Lerne hat ihn zu Boden geschlagen .... Sie ringen. Blut fließt. Dein Onkel dringt mit Tritten, Kratzen und Beißen auf ihn ein! ... Ich schreie. Reiße Lerne die Kleider vom Leib. Plötzlich steht er auf. Mac-Bell ist ohnmächtig. Lerne lacht wie ein Irrer, ladet Doniphan auf seine Schultern und trägt ihn gegen das Laboratorium. Ich schreie immerzu, dann fällt's mir ein und ich rufe: ›Nelly! Nelly! Nelly! ...‹ Die Hündin läuft herbei. Ich hetze sie auf den Professor los, und sie stürzt sich auf ihn, in dem Augenblick, als der Professor mit seiner Bürde hinter den Bäumen verschwindet. Nelly hinterdrein. Ich horche. Bellen. Ich hör nichts mehr als das fast Unhörbare, daß große Flocken fallen.«

»Lerne riß mich an den Haaren. Und er mußte alle seine Beredtsamkeit aufbieten und tausend reiche Versprechungen tun am nächsten Morgen, sonst wär ich ihm davon.«

»Seit meiner Untreue übrigens liebte er mich nur um so wilder.«

»Tage, Tage ....«

»Ich getraute mich fast nicht zu hoffen, daß es Mac-Bell so wie Klotz ergangen war: einfach fortgeschickt. Weder von ihm noch von seiner Hündin sah ich wieder was. Endlich bat mich der Professor, ich möchte das gelbe Zimmer für den Schotten herrichten. — ›Er lebt also noch?‹ fragte ich dumm. — ›Halb‹, sagte Lerne. ›Er ist irrsinnig. Das ist das traurige Ende deines Fehltritts, Emma! Erst glaubte er, der liebe Gott zu sein, dann der Tower in London. Jetzt bildet er sich ein, er sei ein Hund. Morgen wird er sich sicher wieder als etwas anderes meinen.‹ — ›Was haben Sie ihm angetan?‹ stammelte ich. — ›Mein Kleinchen‹, schrie der Professor, ›man hat ihm nichts getan! Laß dir das gesagt sein und halt deinen Mund, statt daß du so einen Quatsch daherredest! Als ich Mac-Bell nach unserm Streit im Eßzimmer forttrug, war's, um ihn zu pflegen. Hast du nicht gesehen, daß er ohnmächtig war? Er hat sich im Hinfallen schwer am Kopf verletzt — Gehirnerschütterung, Irrsinn. Und das ist alles. Hast du verstanden?‹«

»Ich sagte nichts mehr und war überzeugt, daß dein Onkel den Doniphan nur nicht beiseite geschafft aus Furcht vor den Eltern in Schottland und vor dem Staatsanwalt.«

»Auf den Abend schafften sie ihn ins Schloß. Sein Kopf war ganz verbunden. Er erkannte mich nicht...«

»Ich liebte ihn immer noch und besuchte ihn versteckterweise.«

»Mit seiner Heilung ging's rasch. Nur wurde er fett, seitdem er eingesperrt war. Der Mac-Bell auf der Photographie sieht ganz anders aus als der im gelben Zimmer. So daß du dich leicht hast irren können, Nicolas ....«

»Emma,« murmelte ich, »ist es möglich, daß du den Blöden dann liebhaben konntest!«

»Zu der Liebe braucht man doch keinen Verstand. Im Gegenteil! Ich hab in einem Roman gelesen, daß Messalina, die eine höchst ausschweifende Kaiserin gewesen ist, alles mochte, nur keine Dichter. Und Mac-Bell ....

»Schweig doch!«

»Schaf!« sagte sie. »Nun bist du doch mein kleiner Mann, du doch ganz allein! ...«

»Ja«, dachte ich. — »Aber sag mir, von Klotz weißt du gar nichts? Was hat mein Onkel mit dem gemacht? Du sagtest vorhin: fortgeschickt ....«

»Ich war mir immer sicher: er hat ihn fortgejagt. Sein Benehmen bei seinem Abschied und wie sich Lerne aufführte, als er aus Deutschland zurückkam, das mußte mich überzeugen ....

»Hat Klotz Familie?«

»Waisenkind, glaub ich, und Junggeselle.«

»Wie lange verblieb Mac-Bell im Laboratorium?«

»Drei Wochen ungefähr ... einen Monat.«

»War sein Haar vor diesem Umschwung ebenso blond?« fragte ich und ritt wieder mein Steckenpferd.

»Selbstverständlich! Auf was für Ideen kommst du doch?«

»Und was wurde aus Nelly?«

»Am Morgen nach dem Streit hörte ich sie herzzerreißend schreien, offenbar, weil man sie von ihrem Herrn getrennt hatte. Ich fragte deinen Onkel, und der sagte mir: sie sei mit andern Hunden im Hundehof, »da wo sie hingehört«, wie er hinzufügte. Und sie kam nie wieder heraus. Außer vor einer Woche ungefähr. Hast du sie da nicht gehört? Arme Nelly! Wie schnell sie ihren Mac-Bell wiedergefunden hatte! ... Sie heult sehr oft während der Nacht. Sie muß todunglücklich sein ....«

»Ja, aber, wie denkst du über das alles? Was geht da im Grunde vor? Wo ist die Wahrheit? Glaubst du, daß der Sturz an dem Irrsinn schuld ist?«

»Weiß ich? Möglich. Ich denke mir oft, im Laboratorium wären Scheußlichkeiten, die einen schon durch ihr Aussehen wahnsinnig machen müßten. Doniphan war nie darin gewesen. Vielleicht sah er da was gräßlich Abscheuliches ....«

Ich mußte an den Schimpansen denken. Und was sein Tod für einen entsetzlichen Eindruck auf mich gemacht hatte. Emma konnte recht haben mit ihrer Behauptung. — Aber statt jedes einzelne Rätsel da auflösen zu wollen, hätte man besser vier Jahre zurückwissen müssen, bis zu jener kritischen Phase, wo soviel Probleme auf einmal aufstanden. Den geheimnisvollen Anfang hätte man gründlich ausforschen müssen. In ihm nur war der Schlüssel zu soviel verschlossenen Türen zu suchen.

Da lugte ein kleiner, weißer, rosiger Fuß aus gelber Seide heraus. Wie ein lustiges Schmuckstück in einem Futteral:

»Kreuztürken, mein gnädiges Fräulein! Laufen Sie wahr und wahrhaftig mit dieser kleinen süßen Sache, die so geschminkte und polierte Nägel hat wie japanische Korallen — mit diesem lebendigen kitzligen Kleinod, kribbeliger als Schnauzbart? ... So wunderbar unklug sind Sie? ...«

Der kleine Fuß schlüpfte eilends fort. Aber so behend und lieblich und zart er war — er gemahnte mich an einen ganz andern: an jenen in der Waldlichtung, jenen unheimlichen, der — ich glaubte nun ganz sicher zu sein — einem Aas zugehörte, das da vergraben war und mit dem alten Schuhwerk aus der Erde ragte ....

Und plötzlich war ich wie ganz allein in einem Dunkel, in dem tausend Gefahren auf mich lauerten ....

»Wollen wir fliehen, Emma?«

Sie schüttelte mit ihren mänadischen Locken und verneinte.

»Doniphan hat mir's auch vorgeschlagen .... Nein. Lerne versprach mir vielen, vielen Reichtum. Außerdem hat er am Tag deiner Ankunft geschworen, daß er mich töten würde, wenn ich ihn mit dir betrüge oder ihm mit dir ausreiße. Daß er sein Versprechen halten wird, weiß ich seit langem. Aber seit kurzem weiß ich auch, daß er seinen Schwur halten würde ....«

»Ja. Als er uns miteinander bekannt gemacht, Emma, da hattest du den Tod in den Augen.«

»... Und, siehst du,« fuhr sie fort, »unsere Liebe können wir verbergen. Unsere Flucht aber nicht. Nein, nein, nein, nein. Wir wollen lieber schlau sein und jede Gelegenheit benützen ....«

»Und — — wir benützten die Gelegenheit.«

Halb fünf sang die Stutz-Uhr, als ich meine nimmersatte Geliebte verließ, um nach Grey-1'Abbaye zurückzufahren. Emma konnte mir nicht adieu sagen: mit Seufzen und Strecken wie eine Katze erwachte sie langsam und faul aus dem Traum auf der Liebesinsel ....


8. Kapitel

Unbesonnenheit

Mit aller nur möglichen Geschwindigkeit nach Grey. Das Volksfest war auf dem Höhepunkt der Freude. Die brüllende Menge überhäufte mich mit Schmähungen und Anzüglichkeiten.

Fünf Uhr auf der Perronuhr. Ich nützte die Frist, um das warme Kühlwasser abzulassen und neues kaltes einzufüllen, die Pneumatiks mit kaltem Wasser zu begießen, kurz, alles so herzustellen, als wenn der Wagen seit der Abfahrt meines Onkels bewegungslos, seines »Herzens« beraubt, gestanden hätte. Selbstverständlich hatte ich vor allem den Reservemagnet wieder herausgenommen und unfindbar im tiefsten Innern des Wagens verstaut.

Es hätte schon eines sehr erfahrenen Automobilisten bedurft, um zu ahnen, daß der Wagen gefahren worden war, und ein solcher war mein Onkel, trotz seines unleugbaren Scharfsinns und seiner theoretischen Kenntnisse vom Automobil, denn doch nicht. Er mußte in die Falle gehen, die er sich selber gestellt hatte, indem er mir einen Maschinenteil konfisziert hatte, den ich in einem zweiten Exemplar vollkommen intakt besaß.

Der Zug hielt.

Lerne klopfte mir auf die Schulter.

»Nicolas! ...«

Ich zeigte meinem Onkel das mürrischste Gesicht, das ich aufbringen konnte.

»Das war eine nette Geschichte! ... Einen Menschen den ganzen Tag in einem Dorffest langweilen zu lassen.«

»Soll ich dir den Magnet zurückgeben?«

»Den können Sie sich als Andenken an den niedlichen Tag aufbewahren! ... Aber geben Sie ihn zum Teufel hinein her, damit wir fortkommen. Ich denke, ich war nun lang genug hier!«

Frédéric Lerne ärgerte sich.

»Bist du mir böse, Nicolas?«

»Ich bin Ihnen nicht böse, Onkel.«

»Ich hab meine Gründe, du weißt. Später einmal ....«

»Wie es Ihnen beliebt. Nur, wenn Sie mich kennen würden, würden Sie mir weniger aufpassen... Aber Ihr Benehmen von heute ist ganz, wie wir's abgemacht haben. Ich darf mich nicht beklagen.

Er wich mir aus.

»Die Hauptsache ist: du bist mir nicht böse. Das beweist, daß du mich verstehst!«

Augenscheinlich fürchtete Lerne, mich gekränkt zu haben. Und daß ich bei einer ähnlichen Plackerei wohl auf der Stelle Reißaus nehmen und dann von Geheimnissen auf Fonval ausplaudern würde, sogar ohne Näheres über ihre Beschaffenheit zu wissen. Zweifellos war meinem Onkel die Anwesenheit eines Fremden, dem jederzeit zu fliehen freistand, eine Sache fortwährender Beunruhigung. Nun ... ich an seiner Stelle hätte einen solchen Verwandten, wie ich zu ihm war, unverzüglich zum Mitwisser gemacht, um seiner Diskretion sicher zu sein.

»Weshalb also«, sagte ich mir, »ist mein Onkel noch nicht auf diese Idee gekommen? Bis zu dem Ungewissen — vielleicht ganz und gar illusorischen — Zeitpunkt, da Lerne mich von selber in sein Geheimnis einweihen will, hat er Wochen oder Monate fortwährende Qual auszustehen, gleichzeitig den Analytiker und Polizeidiener zu spielen. Wenn ich ihm auf seinem Weg entgegen käme? Eine solche Gelegenheit müßte ihm doch hoch willkommen sein — das wäre für ihn Unterricht und Beichte zugleich — das würde Meister und Schüler wie zu einem Komplott vereinigen ...«

»Ich sehe nicht ein, warum ihm solches nicht willkommen sein könnte. Es gibt doch heute nur zwei Möglichkeiten — ob's Lerne nun ehrlich meinte oder nicht, daß er mich in sein Unternehmen einweihen würde: entweder meine Abreise, die Enthüllungen im Gefolge hat, oder wir stecken uns unter eine Decke.«

»... Emma und das Geheimnis halten mich gleichermaßen auf Fonval fest. Ich werde auf keinen Fall abreisen ...«

»Bleibt also nur, mich quasi zum Mitschuldigen zu machen. Was dann für mich den Vorteil hat, daß sich das Rätsel löst. — Und das kann ausschließlich durch meinen Onkel geschehen. Emma, die weiß ja von nichts. Und wenn ich für mich allein suchen geh, wird jede einzelne Auflösung sieben neue Probleme zeitigen...«

»Ich muß nur scharfsinnig und fein vorgehen. Dann wird sich mir mein Onkel baldigst offenbaren. Er wünscht ja nichts weiter. Bloß: Wie vorgehen?...«

»Ich muß tun, als ob mich seine Geheimnisse nicht erschrecken könnten — und wären sie doppelt so verbrecherisch! Ich muß mich also als einen entschlossenen Menschen aufspielen, den noch so nahe Missetaten nicht empören und der an keine Denunziation denkt, weil er sie nötigenfalls selber begehen würde. — Das ist's. Absolut. — Aber wo gleich ein Delikt hernehmen, das Lerne begangen haben und von dem ich sagen könnte, ich würde es selbstverständlich bei der ersten Gelegenheit genauso machen? ... Verflucht noch einmal! Nicolas, nimm doch eine der Greueltaten, die du von ihm weißt! Gesteh ihm, du kennst eine seiner sträflichsten Handlungen, billigst nicht nur sie, sondern auch alle andern von der Sorte und wärst sogar bereit, ein wenig mitzutun! Bei einer solchen Erklärung muß er sein Herz ausschütten ... und du erfährst alles! — Nur mit sehr viel Hinterlist mußt du das anstellen und nicht eher, bis er recht guter Laune sein wird ... und wohl auch nicht eher, bis wir das alte Schuhwerk noch einmal in Augenschein genommen haben! ...«

So räsonierte ich, als ich Lerne auf Fonval zurückfuhr. Meine Pläne wurden wirr — ich war zu sehr ermüdet und hielt sie für äußerst raffiniert. Man sieht: Alles Milieu beeinflußte mich stark, und ich sah überall Attentate Lernes — scheußliche und zahllose. Ich vergaß, daß seine heimlichen Arbeiten — heimlich, um sie vor Nachahmung zu schützen — doch in der Tat einen industriellen Zweck haben konnten. Ich war ebenso heißhungrig vor Neugierde als ich geschwächt von gesättigter Liebe war, und in diesem Zustand hielt ich meine neue Strategie für einfach hervorragend. Wie sollte er mir ohne jede Gegenleistung — ein so ungeheueres Bekenntnis ablegen wollen?...

Bei nur einigem Nachdenken hätte ich das Gefährliche meiner Absicht erkennen müssen. Aber da wollte es das Unglück, daß mein Onkel, von meiner Antwort befriedigt und zufrieden, »daß ich ihn verstand«, mit einemmal sehr jovial wurde. Was meinen neuen Plänen sehr erwünscht sein mußte.

Und ich griff unbesonnen zu.

Wie's seine Gewohnheit war, begeisterte sich mein Onkel an dem Wagen und ließ mich quer durchs Labyrinth allerlei Manöver ausführen —Kurven, die ich beherzt nahm.

»Kolossal! Ich sag's dir noch einmal, Nicolas: wunderbar ist dieses Automobil! Ein Tier! Ein richtiges, lebendiges Tier... vielleicht das am allerwenigsten unvollkommene!... Und wer weiß, was der Fortschritt noch aus ihm macht?... Einen Funken Leben da hinein, ein bißchen mehr Spontaneität... ein Krümelchen Hirn ... und du hast die prächtigste Kreatur dieser Erde! Ja in einem Sinn noch prächtiger als wir, denn du weißt, was ich dir gesagt hab: es ist der Vervollkommnung fähig und unsterblich — Tugenden, die dem Physischen des Menschen jämmerlicherweise abgehen...

»Unser ganzer Leib erneuert sich fast vollständig, Nicolas. Deine Haare (warum zum Teufel sprach er immer von Haaren?) zum Beispiel sind nicht mehr die vom vorigen Jahr. Aber sie sind, ohne daß du dafür kannst, minder braun, sind älter und dezimiert! Während das Automobil seine Organe mit Willen auswechselt und sich jedesmal mit einem ganz neuen Herzen oder mit ganz frischen Knochen, die ingeniöser und widerstandsfähiger eingesetzt werden - verjüngt!«

»Derart, daß in tausend Jahren ein Automobil — ein Jeannotwagen, sagen wir — noch ebenso jung wie heute sein wird, wenn an ihm immer zur rechten Zeit bald dieses, bald jenes Stück ersetzt wurde.«

»Nun komme mir aber nicht mit: ›Das ist dann doch nicht mehr das alte — es ist doch in allen seinen Teilen erneuert.‹ Wenn du mir so etwas einwendest, Nicolas, was denkst du dann vom Menschen, der in dem ganzen Verlauf, den er sein Leben nennt — bis zu seinem Tod ebensolchen radikalen Transformationen unterworfen ist, nur in einem entgegengesetzten — dekadenten Sinn? ...«

»Da müßtest du ähnliche seltsame Schlüsse ziehn wie: ›Wer alt stirbt, ist nicht mehr der, als der er geboren wurde. Wer also soeben geboren wurde und später zugrunde gehen muß, wird nicht sterben. Zumindest wird er nicht plötzlich und total sterben, sondern nach und nach, fortschreitend, nach den vier Himmelsrichtungen von den Winden mählich als Staub auseinandergetragen, in einer langen Zeit, während der sich ein anderer auf diesem selbigen Platz, der der Leib ist, bildet. Dieser andere, dessen Geburt unmerklich ist, entsteht in einem jeden von uns, ohne daß es uns zu Bewußtsein kommt, in dem Maße, in dem der erste entschwindet. Dieser andere verdrängt den ersten mehr von Tag zu Tag - und eben dieser andere, der aus Myriaden von unaufhörlich sterbenden und auferstehenden Zellen sich zusammensetzt und sich verändert und entsteht, dieser andere wird es dereinst sein, den man ins Gras beißen sieht.‹«

»So müßte dein Schluß lauten — und der war dir wohl kaum exakt genug — und so müßtest du weiter schließen: ›Es ist ja wahr, der Geist scheint bei all diesen Evolutionen unveränderlich und beharrlich. Aber das ist unbeweisbar, denn wenn die Züge des Kindes sich im allgemeinen in denen des Greises erhalten, ändert sich doch die Seele so sehr, daß wir sie nicht wiedererkennen. Und dann, warum sollten sich die Elemente des Gehirns nicht Molekül für Molekül erneuern, ohne daß der Gedanke unterbrochen wird, so wie man nach und nach die Elemente einer galvanischen Säule auswechseln kann, ohne daß die Elektrizität aufhört?««

»Aber schließlich - was geht den MenschenF1 diese Persönlichkeitsfrage in extremis an? Und was nützt den unvergänglichen — »demiurgischen« Automobilen die Entwicklung des Individuums und die Evolution der Art, um eine langweilige Identität durch alle Phasen ihrer Reform hindurch zu bewahren? Nein, nein, nein, nein, das sind Albernheiten — und nichts weiter! Werden die fast schon lebendigen eisernen Kolosse dadurch im geringsten wunderbarer?«

»Ich sage dir, Nicolas, wenn das Automobil, durch ein Wunder, unabhängig würde, könnte der Mensch einpacken. Es war aus mit uns. Nach uns würde das Automobil der Herr der Welt, so wie's vor uns das Mammut war.«

— Ja. Aber dieser Souverän würde jederzeit vom menschlichen Konstrukteur abhängen —, sagte ich zerstreut, so sehr beschäftigten mich meine eigenen Spekulationen.

— Ein feines Argument! Sind wir nicht die Sklaven der Tiere, ja, selbst der Pflanzen, die unsere Konstruktion mit ihrem Fleisch und ihrem Pflanzenmark erhalten? ...

Mein Onkel war so zufrieden mit seinen Paradoxa, daß er sie laut ausschrie, mir von seinem Sitz aus mächtige Rippenstöße versetzte und voll Übermut und voll Ideen mit dem Winde boxte.

— Wahr und wahrhaftig, mein lieber Neffe, das war eine großartige Idee mit dem Wagen von dir! Das ist mir ein riesiges Vergnügen! ... Ich muß mit dem Vieh fahren lernen! Ich will der Kornak dieses Mammuts der Zukunft werden! Äh — äh — hahahahaha!...

Bei diesem Heiterkeitsausbruch wurde ich mir einig und beschloß die sofortige Attacke — was natürlich ein großer Blödsinn war.

— Onkel, nein, sind Sie heut amüsant! Ihre Lustigkeit steckt mich an! Ich erkenne meinen alten Onkel wieder! ... Aber warum sind Sie nicht immer so? Warum mißtrauen Sie mir fort und fort? ... Ich verdiente doch im Gegenteil all Ihr Zutrauen!

— Nein, sagte Lerne, das verstehst du nicht. Ich bin sehr entschlossen, dir jede und jede Aufklärung zu geben, sowie die Zeit dazu gekommen sein wird.

— Warum nicht jetzt gleich, Onkel? — Und ich wurde ungestüm. — Onkel, Onkel! Wir sind aus demselben Stoff, Sie und ich! Sie kennen mich durchaus nicht! Mich setzt nichts in Erstaunen, nichts! Ich ahne mehr, als Sie glauben! Onkel, Onkel, hören Sie mich doch: ich bin absolut Ihrer Meinung! Ich bewundere alles, was Sie getan haben!

Lerne war ein wenig überrascht und fing an zu lachen:

— Na, und was weißt du denn groß, du Spitzbub?

— Ich weiß, daß man sich in Privatangelegenheiten nicht auf die gegenwärtige Justiz verlassen kann. Irgendwer begeht etwas ... da ist es sicherer, man selber schafft ihn sich vom Hals — in einem solchen Fall ist eine Einsperrung, auch wenn sie rechtsungültig ist, dennoch gesetzmäßig ... Ich weiß da zufällig einen Fall ... kurz, wenn ich Frédéric Lerne hieße, dürfte sich Herr Mac-Bell nicht so dick tun. Ich sagte Ihnen schon, Onkel, Sie kennen mich nicht.

An seinem Ton merkte ich, wie richtig ich den Herrn Professor genommen hatte. Er verteidigte sich in einer ganz hinterhältigen, verschlagenen Art, wie mir schien.

— Das ist mir neu! So was von Einbildung! Bist du wirklich der Taugenichts, den du mir da vorspielst? Dann um so besser. Aber ich — ich tu da nicht mit, mein lieber Neffe! Mac-Bell ist irrsinnig, aber ich — ich kann nichts dafür! ... Es ist sehr bedauerlich, daß du's erfahren hast, es ist eine schreckliche Sache ... Der Arme, Unglückselige! Aber ich ihn einsperren? Was für eine Phantasie du doch hast, Nicolas! Wo hast du das nur her? ... Ich freu mich sehr, daß du mir das alles mitgeteilt hast, ich sehe klar jetzt. Aber ... nur der Schein ist wider mich. Ich wartete einzig auf eine Besserung im Zustand des Kranken — um die Seinigen zu benachrichtigen. Ich wollte ihnen für den ersten Augenblick das Schlimmste verhehlen, um sie nicht allzusehr zu erschrecken ... aber nun — nein! Jetzt noch Ausflüchte suchen wär zu gefährlich; nun bin ich es meiner Sicherheit schuldig; und wenn ich noch so großes Leid über sie bringe — ich muß sie benachrichtigen! Ich schreibe ihnen heute abend noch, sie möchten ihn holen. Armer Doniphan! ... Seine Abreise zerstört hoffentlich deinen schmählichen Verdacht. Ich bin sehr, sehr traurig, Nicolas ...

Ich war aufs äußerste bestürzt. Hatte ich mich getäuscht? Hatte Emma gelogen? Oder wollte Lerne meinen Argwohn einschläfern? ... Wie dem auch sei — ich hatte eine rasende Dummheit begangen. Und Lerne würde mich — ob er nun ehrlich war oder ein Schuft — fortan noch strenger beobachten, dafür daß ich ihn — fälschlich oder mit Recht — so schwer bezichtigt hatte. Das war meine Schlappe, und ich trug als einzige Beute aus allem einen neuen Zweifel davon: Emma ...

— ... Jedenfalls, Onkel, schwör ich Ihnen, daß es nur der reinste Zufall war, daß ich Mac-Bell ...

— Wenn der Zufall dich nächstens noch andere Gründe entdecken läßt, um mich zu verleumden, sagte Lerne rauh, so versäume nie, es mit gleich zu sagen; ich werde mich dann auf der Stelle zu rechtfertigen wissen. Jedoch soll dich die strikte Befolgung deiner Verpflichtungen wohl daran hindern, durch Zufall die Bekanntschaft von Narren ... oder von Närrinnen zu machen.

Und wir gelangten auf Fonval an.

— Nicolas, sagte Lerne übertrieben freundlich, ich inkliniere sehr für dich. Und will dein Bestes. Sei also hübsch folgsam, Kind!

»Der möcht mich einwickeln«, dachte ich mir, »der macht mir den Hof. Aufgepaßt!«

— Sei hübsch folgsam, sagte er noch einmal honigsüß. Und sei durch deine Zurückhaltung schon mein Bundesgenosse. Du bist intelligent genug, also wirst du fein unterscheiden! Der Tag ist nicht mehr weit, wenn ich mich nicht sehr täusche, wo du alles erfahren sollst. Du wirst meinen schönsten Traum wissen, mein Neffe, und du wirst teilhaben ...

»Was die Affäre Mac-Bell betrifft, von der du erfahren hast — halt! Das soll dir ein Beweis sein! — Komm mit: ihn sehen ... Wir wollen uns vergewissern, ob er die Reise und die Überfahrt wird bestehen können...«

Ich zögerte nicht lang — und folgte ihm ins gelbe Zimmer.

Als uns der Narr sah, machte er einen großen Buckel und wich schimpfend in seine Ecke zurück, saß voller Angst und mit zornigen Augen.

Lerne drängte mich unsanft gegen ihn hin. — Ich hatte Angst, ich würde auch eingesperrt.

— Nimm ihn bei den Händen. Zieh ihn mitten ins Zimmer.

Doniphan wehrte sich nicht. Der Doktor untersuchte ihn allenthalben, doch war mir, als ob das Wundmal seine besondere Sorge wär. Die übrige Untersuchung war nur, um mich hinters Licht zu führen.

Das Wundmal! Dieser gewaltsame Kronreif, der unter den nachgewachsenen Haaren halb verschwand, durch welchen Sturz auf welchen Boden war der Schaden entstanden?

— Vollkommen gesund, sagte mein Onkel. Siehst du, Nicolas? Erst war er rasend, so schwer war die Schramme ... hm ... die Schramme da ... In vierzehn Tagen aber wird nichts mehr davon zu sehen sein. Er ist transportfähig.

Die Konsultation war zu Ende.

— Du meinst also, ich soll ihn sobald wie möglich fort haben wollen? Sag mir ganz deine Meinung, Nicolas, mir liegt an ihr.

Ich beglückwünschte ihn zu seinem Entschluß, war aber vor soviel Zutunlichkeit fort und fort auf der Lauer. Lerne seufzte:

— Du hast recht. Die Welt ist so schlimm! Ich schreibe jetzt gleich. Willst du den Brief auf die Post nach Grey bringen? In zehn Minuten hab ich ihn geschrieben.

Meine Nerven erholten sich. — Ich hatte mich, als wir ins Schloß gingen, gefragt, ob ich wohl je wieder herauskommen würde. Es war mir grad, als ob der Käfig des Narren fortan meine Zelle wäre. — Aber der Menschenfresser zeigte sich entschieden von der väterlichsten, gütigsten Seite. Der Herr meiner Freiheit war und mich einkerkern konnte, schickte mich ins Freie zu einer Besorgung nach Grey ... das war doch nur, um mich zur Flucht zu bestimmen? Verdiente eine so guten Herzens aufgedrungene Gelegenheit nicht, daß man sie wahrnahm? — Keine Dummheiten. Nur nicht davonlaufen. Dableiben, dableiben.

Während Lerne das Schreiben wegen Mac-Bell abfaßte, lief ich ein wenig durch den Park.

Und sah ein überaus Seltsames. Zumindest machte es auf mich einen solchen Eindruck.

Man sieht, das Glück spielte unaufhörlich mit mir. Ich war sein Hampelmann zu allem nur Möglichen. Diesmal beunruhigte es mich sehr, ließ mich zappeln. Mit ruhigen Sinnen hätte ich kaum für mysteriös gehalten, was doch wohl nur eine Bizarrerie der Natur sein konnte; aber da pfiff der Wind, und ich witterte allenthalben, und um meine Ohren blies immer noch die Melodie, daß just seit der Nacht meiner Ankunft Dinge hier draußen seien, die doch nicht draußen sein sollten.

Was ich an diesem Tag im Park sah — und was mich sicherlich den allerersten Tag hier nicht so sehr verblüfft hätte —, das schien mir eine große Lücke in meinem Wissen über Lerne auszufüllen: Der Zyklus seiner Studien sozusagen mußte unmittelbar vor dem Abschluß sein: Ja, das mußte. Ich sah mit einemmal etwas, das wie die Auflösung — eine scheußliche Auflösung! — aller Probleme war ... nur sah ich's mit verstörten Sinnen ... Für die Dauer einer Sekunde jedoch war da eine abscheuliche Heftigkeit ... und wenn ich nach der kleinen Szene wie verächtlich mit den Schultern zuckte, war's offen gestanden nur, weil's mich wie Todesangst gepackt hatte. — Aber ich will erzählen.

Ich hatte mir vorgenommen, in den zehn Minuten, die mir blieben, nach jenem alten Schuhwerk zu schaun. Ging also die Allee hinab. Und schon feuchtete Abendtau das hohe Gras. Und die Vorboten der Nacht schlichen schon durchs Unterholz. Sperlinge riefen von Zeit zu Zeit. Ich glaub, daß es halb sieben war. Der Stier brüllte. Als ich am Viehstand vorüberkam, waren nur noch vier Rinder da. Pasiphae promenierte hier nicht mehr in ihrem Kleid von augendienernder Farbe. Aber das kümmerte mich nicht.

Ich ging entschlossen weiter — da hörte ich plötzlich ein Gezänk. Pfiffe und kleine Schreie. Ein Durcheinander von solchem und solchem Gepiep, wenn ich so sagen darf ...

Im Gras bewegte sich was.

Ich schlich ohne Laut näher.

Da war ein Zweikampf. Einer von jenen unzählbaren Kämpfen, die aus jeder Wagenspur einen Höllenschlund machen, ein verbrecherischer Streit, bei dem der eine der Gegner fallen muß, damit sich der andere mästen kann: ein Duell zwischen einem kleinen Vogel und einer Natter.

Die Natter war bei näherem Zusehen eine ziemlich imposante Viper — ihr dreckiger Schädel hatte ein großes, weißes, gleichfalls dreieckiges Mal.

Der Vogel ... Man stelle sich eine Grasmücke mit schwarzem Kopf vor ... habt ihr? ... Und nun stellt euch diese Grasmücke im geraden Gegenteil mit einem weißen Köpfchen vor ... eine Abart, wie ich sie zweifellos schon in jenem Vogelhaus vorm Laboratorium sah und die ich euch viel weniger linkisch beschreiben würde, wenn ich in der Naturgeschichte ein wenig mehr versiert wäre ... Die beiden Champions stehen einander gegenüber — stürzen aufeinander los. Aber — ich war noch nie so perplex! — die Natter weicht ... die Natter weicht vor dem Grasmücklein zurück! ... Die Grasmücke geht ruckweise vor, mit verwegenen und sonderbaren Sprüngen, und ohne einen einzigen Flügelschlag - wie hypnotisierend. Ihr Auge hat einen magnetisierenden Glanz, und die Viper retiriert ungeschickt und von dem Unversöhnlichen aus den Vogelaugen durchaus fasziniert und stößt vor Todesangst halberstickte Pfiffe aus ...

»Teufel, Teufel!« denk ich. »Steht die Welt auf dem Kopf — oder ich?«

Dann — leider, leider — beug ich mich weiter vor, um den Ausgang des Kampfes näher zu sehen ... Die Grasmücke bemerkt mich und fliegt auf, und ihre Feindin entschlüpft durchs Gras in Zickzacklinien.

Und schon ist auch die lächerliche übermäßige Angst, die mich erstarren machte, von mir abgetan. Ich schelte mich mit viel Wichtigkeit aus: »Du bist ein Faselhans ... hier verteidigte sich eine Mutter wie eine Löwin, und gar nichts weiter. Das kleine heldenhafte Tier wollte sein Nest und seine Eier schützen. Oder du weißt eben nicht, wie stark Mütter sein können ... verflucht noch mal! Fertig! ... Was denn sonst? ... Ich bin ein rechter Einfaltspinsel! Was denn sonst...?«

— He-e-e-e-eh!

Mein Onkel.

Ich eilends zurück. Aber noch gar nicht mit mir selber im reinen. Und trotzdem es mir lieb gewesen wäre, wenn man mir die Sache als eine recht alltägliche hingestellt hätte, sagte ich meinem Onkel keine Silbe davon.

Der Professor sah aus wie einer, der soeben einen großen Entschluß faßte und nun wie erlöst sich fühlt. Er stand aufrecht vor dem Portal des Schlosses — mit dem Sendschreiben in der Hand — und sah interessiert auf den Stiefelkratzer herab.

Meine Ankunft störte ihn keineswegs in seiner Betrachtung, und so hielt ich's für das Zivilste, nun meinerseits gleichfalls den Sohlenreiniger zu beäugen. Das war ein ins Pflaster eingeschlagenes Eisenstück, das Dynastien von Sohlen schräg, wie eine Sichel fast, abgeschliffen hatten ... Ich präsumierte: Lerne betrachtete das Eisen gedankenvoll, ohne es überhaupt zu sehen.

Dann fuhr er jäh auf:

— Da, Nicolas, der Brief. Entschuldige, wenn ich dir Mühe machte.

— Aber, Onkel, Onkel! Dagegen bin ich abgehärtet. Chauffeure sind Dienstmädchen, so denkt man nun einmal. Da man immer wieder der Ansicht ist, daß wir nur aufs Einholen aus sind, bittet uns so manche Dame, wir möchten für sie eilige und gewichtige Dinge einholen ... Das ist Automobilsteuer ...

— Mach, mach, du bist ein lieber Junge! Los, die Nacht fällt ein.

Ich nahm den Brief. Den trostlosen, der in Schottland vom Wahnsinn Doniphans berichten sollte. Den tröstereichen, der den unwürdigen Amant Emmas fortschaffen sollte.


Sir George Mac-Bell
12, Trafalgar Street,
Glasgow (Schottland)


Die Adressenschrift machte mich nachdenken. Kaum noch Spuren von der einstigen Hand Lernes. Unkenntlich beinah. Die meisten Buchstaben, Akzente, die Punktierung sowie auch das allgemeine Bild taten »graphologisch« just das Gegenteil von einst dar.

Die Graphologie irrt sich nicht. Ihre Schlüsse sind unfehlbar. Der die Zeichen hinschrieb, war in allem ein anderer geworden.

In frühern Jahren hatte mir mein Onkel alles mögliche Gute erwiesen. Welches Laster hatte er also heute nicht? — Wie mußte der mich hassen, der mich einst so sehr geliebt hatte! ...

Herr Vermont berichtet die Rede mit weit mehr Großartigkeit als Treue. Lerne hat nach seiner Art hier gewiß die unberechenbaren Folgen einer so tollen Theorie erwähnt. Und man meint ihn zu hören, wie er fragt: »Wären die Erwachsenen demnach gehalten, ihre Jugendtorheiten zu büßen? Oder könnten sie dies unter dem Vorwand verweigern, daß sie ja ein ganz anderes begangen hat? ... Anders ausgedrückt: Kann der König von Frankreich die Gläubiger des Herzogs von Orleans rechtskräftig abweisen? ... Ist ein alter Groll gerechtfertigt? Nutzt sich das Gefühl der Dankbarkeit mit der Zeit nicht ab? ...« usw.... usw.... — Herr Vermont sagt uns, daß er zerstreut gewesen sei. Wir glauben es ihm aufs Wort. Er ist zu sehr Anfänger in der Kunst des Schreibens, als daß wir nicht sähen, daß er irgendwo eigenwillig abbrach, um sich das schon so wirre Kapitel zu erleichtern — er, der hier die tatsächliche Verwirrung des Lebens reproduzieren wollte, statt die Dinge nach jener schönen kunstvollen Ordnung zu verteilen, die den Ruhm des Historikers ausmacht. (Anm. d. H.)


9. Kapitel

In der Falle

Der Vater Mac-Bells kam unverzüglich. In Begleitung seines andern Sohnes.

Seit Lerne jenen Brief nach Schottland gerichtet hatte, gab's nichts Neues auf Fonval. Das große Geheimnis bestand fort, und wie eine hohe Mauer waren hundert und hundert Verfügungen um das Geheimnis, und diese Verfügungen waren alle — wider mich. Emma kam gar nicht mehr herab zu uns. Ich hörte sie vom kleinen Salon aus diesem und jenem wertlosen Zeitvertreib in ihrem Zimmer mit den Puppen aus Weidengeflecht nachgehen; ihre Hacken trommelten trocken auf den Plafond.

Meine Nächte waren leer. Ich schlief nicht in all den Nächten. Der Gedanke, daß Lerne und Emma zusammen waren — daß er ihren Leib verstörte und sie ihn dennoch dazu hergab —, folterte mich. Eifersucht macht erfinderisch; ich sah Szenen von einer schier unerträglichen Ausgeklügeltheit. Ich hatte mir gut schwören, daß ich die Vorgabe so bald als möglich aufholen würde, ich sah beständig Lerne als Liebhaber meiner Geliebten, kostete das Ausströmen seiner Umarmung, die Schändung derer, nach der er langte und die er hielt — so vollkommen, so doppelt und dreifach, wie's nur der kostet, der in Saft steht.

Einmal in der Nacht wollte ich aufstehn und ins Freie gehen, in der Nachtkühle spazieren und meinen Leib abzehren wie den eines wilden Tiers — aufs äußerste gebracht wie ein Eber ... aber da war alles wohl verriegelt.

Oh! Lerne bewachte mich scharf! ...

Gleichwohl hatte die Unvorsichtigkeit, aus der heraus ich ihm damals meine Entdeckung Mac-Bells erzählte, anscheinend keine andere Folge als einen Zuwachs an Freundschaft zu mir. Unsere Spaziergänge wurden immer häufiger, und er gefiel sich, schien es, mehr und mehr darin, mich als seinen Sozius zu betrachten — er tat, als ob er mir mein ewig ausspioniertes Leben erleichtern und mich sehr auf Fonval festhalten wollte, sei's, um sich in mir wirklich einen Associé zu präparieren, sei's nur, um die Gefahren einer Flucht abzuwenden. Seine Zuvorkommenheit war mir zutiefst zuwider. Das war die Periode, in der ich, ohne beaufsichtigt zu scheinen, es nur um so schlimmer war. Meine Tage waren wider meinen Willen überaus in Anspruch genommen. Die Ungeduld rieb mich auf. Die Zugänge zur Liebe und zum Geheimnis gleicherweise versperrt. Und ich wußte zuletzt — welch eine groteske Alternative! — nicht mehr, was mich mehr unterwühlte und aushöhlte: die Liebe, die mir alle Plastiken eines schönen, unerreichbaren Weibes vorgaukelte, oder das Mysterium in Gestalt eines alten, doch nicht minder unzugänglichen Schuhwerks.

Jener bedreckte elastische Stiefel war die Basis aller Hypothesen, die ich nächtens aufbaute, in der Hoffnung, meine Eifersucht durch meine Neugierde zu überbieten. Ich hatte mir gemerkt, daß der Werkzeugschuppen in der Nähe jener Lichtung war; da war der Gummistiefel also bequem auszugraben... und das, was im übrigen dazu gehören würde.

Aber Lerne — der unterjochte mich ja gewissermaßen mit seiner Liebe — der hielt mich unbarmherzig von der Stelle fern — ei, der verstand das — genauso wie vom Gewächshaus, vom Laboratorium, von meiner Emma und von allem!...

So wünschte ich mir sehnlichst irgendeine Begebenheit herbei, ein neues Geschehn, das diesen modus vivendi umschmeißen und mir erlauben würde, meinen Wächtern einen Streich zu spielen: Gott! Nur irgend etwas! Daß Lerne nach Nanthel müßte, daß meinetwegen irgendein Unglück geschähe, nur irgend, irgend etwas!...

Da kam das Unverhoffte. Da kamen die Herren Mac-Bell Vater und Sohn.

Mein Onkel hatte eine Depesche bekommen und zeigte sie mir unter lautem Jubel.

Warum solche Freude? Ernstlich nur, weil ich ihn auf die Gefahr aufmerksam gemacht, die ihn bedrohte, darum, daß er den kranken Mac-Bell ohne Wissen seiner Familie hier zurück behielt? Das war doch — verflucht noch mal! — ganz unmöglich ... Nein, nein, dieses ehrliche Gelächter konnte sehr wohl irgendeiner Unehrlichkeit, irgendeinem neuen Schurkenstreich gelten ...

Ich aber tat's dem Professor gleich und lachte mit — aber aus ändern, rechtlicheren Gründen als er. Und ich denke, ich hatte wohl Grund zu lachen.

Sie kamen eines Morgens in einem Break an, den man in Grey geliehen hatte und den Karl kutschierte. Sie glichen sich sehr und glichen alle beide sehr jenem Doniphan auf der Fotografie. Steif. Sehr bleich. Herzlos.

Lerne stellte mich, mit viel Ungezwungenheit, vor. Sie drückten mir die Hand. Kalt. Zugeknöpft ... Deren Moral trägt sozusagen Handschuhe,..

Man führte sie in den kleinen Salon. Sie nahmen Platz — ohne eine Silbe. Die drei Gehilfen standen da. Und Lerne ließ einen langen Speech auf englisch los, sehr lebhaft, mit viel Pantomimik und wie überaus erschüttert. Auf einmal demonstrierte er gewissenhaft, wie ein Mensch ausgleitet und sich einen Schädelbruch am Hinterkopf zuzieht. Dann nahm er die beiden Herrn am Arm und führte sie hinaus zum Schloßportal ... wir gingen hinterdrein ... und da draußen vorm Portal zeigte er ihnen den Schuhkratzer, den eisernen Sohlenreiniger, den Dynastien von Sohlen so wie eine Sichel ausgeschliffen hatten. Und gab die Schädelbruchtragödie da capo. Zweifelsohne — er explizierte ihnen, Doniphan hätte sich hier seinen Schaden geholt, der wie ein Kronreif oder ein Schlag mit der Sichel war.

So was war wohl noch nicht dagewesen ...! So was ...!

Dann ging man wieder in den Salon.

Mein Onkel redete und redete und fuhr sich dabei über die Augen. Die drei Deutschen rotzten mit der Nase, als ob sie das erste Tröpfeln von Mannestränen hinauf schnupfen wollten — die Herren Mac-Bell Vater und Sohn indes zuckten nicht mit der Wimper. Nichts an ihnen verriet ihren Schmerz oder ihre Ungeduld.

Endlich brachten Johann und Wilhelm auf einen Wink Lernes den frisch rasierten, pomadisierten Doniphan herbei — der eine Binde am Kopf trug und sonst aber das Aussehen eines jungen, sehr fashionablen Lords hatte ... obschon sein zu eng geschnittener Reiseanzug wie zum Platzen zugeknöpft war und sein würgerischer Kragen ihm alles Blut ins breite, gutmütige Gesicht trieb. — Seine pechigen Haare verbargen nur mühsam die große Schramme.

Wie er seinen Vater und seinen Bruder erblickte, leuchtete etwas wie Intelligenz und Glücklichsein im irren Auge auf. Seine bis dahin so apathischen Züge erhellten sich zu einem feinen, seelenvollen Lächeln. Ich glaubte, er käme mit einemmal wieder zu Verstand ... Aber dann fiel er vor seinen Blutsverwandten auf die Knie, leckte ihnen die Hände und stieß unartikulierte Schreie aus. Der Bruder konnte weiter nichts mit dem Armen anstellen. Der Vater gleichfalls. Hierauf verabschiedeten sich die Herren Mac-Bell von Lerne.

Lerne sagte noch einiges zu ihnen. Es war, als ob sie eine gastliche Einladung — einen Lunch ablehnten. Lerne drang nicht weiter in sie, und wir gingen alle hinaus.

Wilhelm lud Doniphans Gepäck auf den Kutschbock.

— Nicolas, sagte Lerne zu mir, ich bringe die Herren zur Bahn. Du bleibst mit Johann und Wilhelm hier. Karl und ich kommen zu Fuß zurück ... Ich setze dich also so lang als Hausherrn hier ein! fügte er lustig hinzu.

Und schüttelte mir heftig die Hand.

Wollte er mich foppen? Eine nette Hausherrnschaft unter der Zuchtrute der beiden Aufpasser!

Man stieg in den Wagen. Karl und das Gepäck vorne. Hinten: Lerne und der Geisteskranke — gegenüber den beiden gesunden Mac-Bells.

Der Wagenschlag klappte eben zu — da richtete sich Doniphan plötzlich auf: mit einem so entsetzten Gesicht, als ob der Tod die Sichel wetzte: ein langgezogenes Heulen, das aus allem andern sehr, sehr deutlich herauszuhören war, erscholl vom Laboratorium her ... Der Närrische wendete sich nach dieser Richtung und antwortete seiner Nelly — mit einem so viehischen Schrei, daß uns ein Schauder ankam ... wir dachten, das bedeutete das Ende, die Erlösung. Aber Lerne befahl blitzenden Blicks und schneidend: Vorwärts! Karl! Vorwärts! — zu deutsch — und versetzte dem irren Schotten einen solchen Stoß, daß der auf seinen Sitz zurückfiel.

Der Wagen fuhr an. Doniphan, der mit dem Oberkörper stark hin und her schwankte, hatte nur Augen für seinen Bruder, und die erzählten von einem namenlosen, unnennbaren Unglück.

Da war das grauenvolle Unbekannte wieder. Allenthalben. Kreisend. Einkreisend. Rührte mich mit seinem Atem an.

Fern verdoppelte sich das Heulen. Da rief Mac-Bell Vater im Wagen:

— Ho! Nelly! Where is Nelly?

Und mein Onkel antwortete:

— Alas! Nell' ist dead!

— Poor Nelly! sagte Herr Mac-Bell.

Zugegeben, ich war ein großer Ignorant ...

Aber soviel Englisch brachte ich doch auf, daß ich die paar Worte verstand ... Die Lüge Lernes empörte mich: Wie konnte er behaupten, Nelly sei tot! Das war doch ihre Stimme und nur ihre Stimme gewesen! So ein Betrug! — O warum schrie ich den phlegmatischen Herren da nicht zu: »Halt, halt! Ihr seid scheußlich beschwindelt! Hier geschieht Schreckliches, ich weiß nicht was, aber hier geschieht Schreckliches! ...« Aber dann hätten mich die Mac-Bells wohl für einen zweiten und anders Irrsinnigen gehalten ...

Unterdessen hatte der Schinder das Wägelchen bis zum Portal gezogen, das Barbara öffnete. Doniphan saß wieder auf seinem Sitz. Ihm gegenüber bewahrten die Herren Mac-Bell Vater und Sohn all ihre steifleinene Würde ... und erst als der Wagen durchs Tor fuhr, sah ich den Rücken des Vaters jäh krumm werden und sich schütteln, so sehr, daß das holprige Pflaster unmöglich ausschließlich daran schuld sein konnte.

Die altersschwachen raunzenden Türflügel schlossen sich.

Ich bin sehr sicher: nicht viel später muß der Bruder Doniphans bitterlich geweint haben ...

Johann und Wilhelm gingen weg.

Wollten sie mich von ihrer Gesellschaft befreien? Ich verfolgte sie die ganze Weide lang bis hin zum Laboratorium. Nelly schrie und klagte immer noch; sie wollten sie wohl zum Schweigen bringen. Und in der Tat, sie verstummte, sobald die Gehilfen in den Hof eintraten. Aber was ich für mich befürchtet hatte, geschah dann nicht. Sie kamen nicht wieder aufs Schloß her, um in meiner Nähe zu sein und mich auszuspionieren. Sondern zündeten sich fein Zigaretten an, die Käuze, und installierten schamlos ein durchaus öffentliches Farniente. Ich sah sie an einem Fenster ihres Wohnhauses: hemdärmlig, qualmend wie Schlote.

Als ich mich über ihre Absichten vergewissert hatte — (ohne mich zu fragen, ob sie so gegen die Befehle Lernes handelten oder ob er solches duldete ... und weltenweit davon entfernt zu denken, daß sie, indem sie bei offenem Fenster rauchten, etwa seine Instruktionen Punkt für Punkt ausführten) - begab ich mich zur Werkzeughütte.

Und bald grub ich die Erde um das alte Schuhwerk ... oder ich kann ja jetzt sagen: um das Bein ... auf.

Mit der Zehenspitze in der Luft, ragte das aus der trichterförmigen Grube auf; und die Spuren der Nägel Doniphans waren noch zu sehen, neben den andern Spuren einer noch älteren Wühlarbeit. Bei näherem Anschaun mußten da einst mächtige Krallen am Werk gewesen sein, der erste Ausgräber war sicherlich ein großer Hund — Nelly anscheinend, zu einer Zeit, da sie noch in voller Freiheit im Park umherlief.

Zu dem Fuß gehörte eine Wade, die nur ganz obenhin bestattet worden war. Möglich, dachte ich, daß dies das Überbleibsel eines anatomischen Präparats sei ... aber ich war doch nicht so recht überzeugt.

Tiefer ... Ein haariger Rumpf kam nach dem Bein. Ganz und gar Kadaver, nackt, und schon sehr verwest. Man hatte ihn überzwerch eingegraben. Der Schädel, der tiefer als die Füße lag, war noch vergraben. Sehr vorsichtig legte ich mit dem Grabscheit erst das Kinn bloß, dann den fast blauen Backenbart, den dichten Schnauzbart, und endlich das Gesicht ....

Jetzt wußte ich um das Geschick all derer, die auf jenem Gruppenbild festgehalten waren. Otto Klotz — zur Hälfte exhumiert, die Stirn von einer Erdscholle bedeckt — faulte da vor mir. Ich hatte ihn sofort erkannt. Überflüssig, ihn noch weiter auszubaggern. Im Gegenteil ... das Grab wieder zuschütten. Nichts soll hier von meinem Tun verraten ....

Und dennoch — plötzlich greife ich neu zum Grabscheit — halb wahnsinnig — und grabe und grabe — an der Seite des Toten ... Da erscheint ein Knochen, ein runder, wie ein giftiger Pilz, ein gebleichter und schon schwammiger Knochenfortsatz ... Sind da noch ... mehr ... sind noch ... mehrere Grabstätten?... O!...

Ich grabe, grabe, grabe ... fieberisch. Blendende Flocken wirbeln mir vor den Augen ... meine Augennetzhaut begeht jenes erste Pfingstfest ... feurige Zungen regnen vom Himmel ...

Ich grabe, grabe, grabe, grabe ... und ich entdecke einen ganzen Friedhof; aber barmherziger Gott; einen Friedhof von Tierleichen. Skelette die einen, andere oft noch in ihrem Feder- oder Haarkleid, vertrocknete und verfaulte — übelerregend! Kaninchen, Hasen, Hunde, Ziegen: von den einen die ganzen Leiber, von den andern nur noch abscheuliche Reste, die die Hunde vom Hundehof übriggelassen hatten. Ein Pferdeschenkel ... ein Stück von dir, mein lieber Biribi! Und unter frisch aufgeworfener Erde eine zwiefarbene Haut: der Balg der Pasiphae ...

Fauler Geruch, Gestank stieg auf. Erschöpft stützte ich mich mitten in dieser Abdeckergrube auf meine wacklige Schaufel. Der Schweiß, der mir von der Stirne rann, stach mir in die Augäpfel. Ich schnaufte.

Da fielen meine Blicke zufällig auf den Schädel einer Katze. Ich hob das Tier auf. Wie ein Pfeifenkopf! Wie ein Becherrand! Das will sagen: die Kappe war abgesägt, es war ein kreisrundes Loch durch einen Querschnitt entstanden ... Ich nahm einen andern, den Schädel eines Hasen, wenn ich mich recht erinnere: die gleiche Eigentümlichkeit. Vier, fünf, zehn, vierzehn, fünfzehn andere: all die Schädel klafften gleicherweise mit nur geringen Unterschieden im Anhieb. Und überall lagen solche Knochennäpfe umher, weite und enge, tiefe und seichte. Als ob all den Tieren die Schädeldecken mit einem Rasiermesser oder einer Laubsäge abgehoben worden wären ... ein millimetergenaues Gemetzel sozusagen ... ein Schlachten unter Präzision ...

Und plötzlich kam mir der Gedanke — ein unendlich gräßlicher Gedanke!

Ich bückte mich tief zu dem Toten herab und grub seinen Kopf vollends aus. Da konnte man nichts Außergewöhnliches sehen ... das Haar war ihm geschoren ... aber um den Hinterkopf herum von einer Schläfe zur andern ging — genau wie die Schramme Mac-Bells — eine scheußliche Schnittwunde ...

Lerne hatte Klotz umgebracht! ... Er hatte ihn wegen Emma ganz so beiseite geschafft wie all die Vierfüßer und Vögel, nachdem sie durch seine Experimente zu Tode gemartert waren! Chirurgische Verbrechen über Verbrechen! Hier kam ich hinter das ganze Geheimnis ...

»Die Geistesgestörtheit Mac-Bells«, überlegte ich mir, »die kam so: Lerne war, da der Unglückliche schon den Tod über sich schweben sah, plötzlich sein Mordwerk mißlungen! Warum? Weil er mitten unter seiner fürchterlichen Vergeltung an die Repressalien der Familie Mac-Bells denken mußte und vor ihrer Rache zurückscheute ... Klotz, ja, der war Waise und Junggeselle, wie Emma mir erzählt hatte — da konnt's zu Ende geschehn! ... Und Klotzens Schicksal, das wird dereinst das meinige sein, und auch Emmas Los, wenn man uns zusammen ertappt! ... O jetzt nur fliehen, fliehn um jeden Preis! Das war das einzig Mögliche! Emma und ich fliehen! Und war der Augenblick nicht günstig? Würde er sich uns je wieder darbieten wie eben jetzt? Wir müssen quer durch den Wald die Bahnstation erreichen, um Lerne und Karl auf ihrem Rückweg nicht zu begegnen! Aber das Labyrinth? ... War's nicht besser, man nahm das Automobil und fuhr die Kerle, sowie man sie traf, einfach übern Haufen? ... Ich weiß noch nicht ... aber wir werden ja sehn ... Hab ich wenigstens noch Zeit genug. Schnell, schnell, um Gottes willen nur schnell, schnell, schnell jetzt! ...«

Daß mir der Atem verging, so lief ich. Schneller als der Tod sein ... Zweimal fiel ich hin, so rannte ich. Nur fliehn, fliehn vor dem Grausen ...

Das Schloß! — Lerne noch nicht da. Sein Filzhut hing noch nicht an seinem gewöhnlichen Haken im Vestibül. Fürs erste hatte ich gewonnen. Nun galt's auszureißen, ehe er zurückkam. Über die Treppe, den Flur, die Garderobe ... in Emmas Zimmer.

— Fort, fort! stammelte ich. Komm, Liebste! ... Komm, komm! Ich werde dir alles erzählen ... Das sind Mörder auf Fonval! ... Was hast du? ... Wa-

Sie blieb regungslos, vor soviel Aufruhr in mir.

— Du bist ganz weiß! Erschreck dich doch nicht so. —

Da erst sah ich, daß sie in grauenvoller Angst war, daß ihre Augen starrten, ihre Lippen blutleer waren, und daß sie mir mit ihrem todverzerrten Gesicht bedeutete, ich solle still sein ... hier sei eine Gefahr, so nah ... so sehr nah, daß sie mich mit keinem Wort, mit keiner Gebärde mehr warnen könnte ...

Was denn, Gott, was denn? ... Mein Blick lief um — ich sah nichts. Nirgends rührte sich was im Zimmer. Aber Unsichtbares schwang. Die Luft rührte sich wie feindselig — gab keinen Atem her — zum Ersticken. Wer wollte mir da an? Was Übernatürliches fast ...

Was Schrecklicheres, als wenn Mephisto selber hervorgesprungen wäre: wie da Lerne mit einemmal da war, aus einem Kleiderschrank heraus ...

— Du hast uns warten lassen, Nicolas!

Entsetzen ... Emma sank um. Schaum vorm Mund — und krümmte sich.

Jetzt! schrie der Professor auf deutsch.

Vorhänge rauschen, teilen sich nebenan. Ein paar Modelle aus Weidengeflecht fallen um. Wilhelm und Johann werfen sich auf mich.

Fäuste. Fesseln. Verloren.

Die Todesangst machte mich feige.

— Onkel! flehte ich. Töten Sie mich auf der Stelle! Ich beschwöre Sie! Nur nicht martern! Eine Revolverkugel — Gift — was Sie wollen — nur nicht martern!

Lerne rieb mit einer nassen Serviette Emmas Wangen und — grinste.

Mir war, als ob ich wahnsinnig würde. Wer weiß, vielleicht war's Mac-Bell, in diesem Augenblick geworden? ... Mac-Bell ... Klotz ... die Tiere alle ... Ich erlitt einen rasenden Schmerz um den Hinterkopf herum, von einer Schläfe zur ändern ...

Die Gehilfen trugen mich hinab. Johann am Kopf, Wilhelm an den Beinen. — Vielleicht setzten sie mich ganz einfach hinter Schloß und Riegel? Einen Neffen, zum Teufel, den würgt man doch nicht ohne weiteres ab wie ein Huhn ...

Sie nahmen den Weg zum Laboratorium ...

In einem Anfall von Ohnmacht glitt Tag für Tag meines Lebens in der Zeit eines Herzschlags — an mir vorüber.

Der Professor holte uns ein. Am Wohnhaus der Deutschen vorüber. Die Hofwand lang. Lerne öffnete eine Tür im Erdgeschoß des linken Hauses, und man schaffte mich, unter jenem Saal mit den Apparaten, in einen Raum wie ein Waschhaus, kahl wie eine Gruft und von oben bis unten mit weißen Kacheln ausgepflastert. Ein grober Vorhang, der auf einer Stange an Ringen hing, halbierte den Raum. Die Luft roch nach Apotheke. Und es war sehr hell. Und an der Wand, da stand ein kleines Gurtbett, auf das Lerne hinzeigte und sagte:

— Deine Liegestatt ist seit langem für dich hergerichtet, Nicolas...

Dann teilte mein Onkel Befehle in deutscher Sprache aus, und die beiden Gehilfen nahmen mir die Fesseln ab und entkleideten mich. Jeder Widerstand war vergeblich gewesen.

Ein paar Minuten später lag ich gemütlich zu Bett. Die Decke bis ans Kinn. Eingebunden. Johann wachte bei mir, rittlings auf einer Fußbank, der einzigen Ausstattung dieses Orts.

Durch den Vorhang, der halb aufgezogen war, sah ich eine andere zweiflügelige Tür; die auf den Hof hinaus. Mir gegenüber durchs Fenster mein alter Kamerad — die Fichte ... Mir wurde immer elender zumut. Bittern Geschmack, den Geschmack des nahen Todes im Mund. Gleich hob doch jene scheußliche Chemie an, die mein Sterben sein sollte! ...

Johann spielte mit einem Revolver und hatte jeden Augenblick was an mir zu schaffen. Er schien entzückt von der Farce. Ich drehte mich nach der Wand hin und las da was, das auf die Glasur mühsam, entstellt — mit einem Diamantring, wie mir schien — hingeritzt war:

Good bye for evermore, dear father. Doniphan.

Leb wohl für immer, lieber Vater. Doniphan. — Der Arme! Der lag einst ebenfalls hier auf diesem Bett ... Und Klotz wohl gleichfalls ... Und wer sagte mir, daß das die einzigen beiden Opfer vor mir gewesen waren? ... Aber was machte ich mir nun daraus? Wenig. Wenig. Verdammt wenig ...

Der Tag ging hin.

Und über uns war ein eilig Hin- und Herlaufen. Auf den Abend ward's seltener. Dann hörte es ganz auf. Und dann löste Karl, der aus Grey-l'Abbaye gekommen war, Johann ab.

Dann wurde ich gebadet. Und Lerne zwang mir eine bittere Arznei ein. Wohl Magnesiumsulfat. Nun blieb kein Zweifel mehr: man wollte mich metzgern. Das waren die Vorbereitungen zu einer Operation. Das kennt man — in diesem Jahrhundert der Tranchierkunst. Morgen früh also ging's los ... Was war's wohl, das man da auf meinem Leib experimentieren wollte, eh's ans endliche Krepieren ging? ...

Allein mit Karl.

Hunger hatt ich. — Nebenan war der unsäglich traurige Wirtschaftshof. Ich hörte Rascheln von Stroh, leises Gegacker, gedämpftes Gequiek. Das Viehzeug brüllte.

Nacht.

Lerne trat ein. Ich war maßlos erregt. Er fühlte mir den Puls.

— Hast du Schlaf? fragte er.

— Du Schinder! antwortete ich.

— Gut. Ich werde dir ein Beruhigungsmittel eingeben.

Er gab mir was. Ich trank's. Es schmeckte nach Chloral.

Wieder allein mit Karl.

Kröten singen. Sternfackeln schwingen. Der Mond zieht auf. Mit rostglühender Scheibe. Heilig ... Alle Schönheit der Nacht... Ein vergessenes Gebet, ein Kindersprüchlein kniet in meinem Herzen, in meinem zerrissenen Herzen — das glaubt neu an gestern und ans himmlische Paradies, glaubt stark, glaubt fromm ... »daß ich in Himmel komm ...« — Wie konnte ich je an der Wahrhaftigkeit des Paradieses zweifeln? ...

Der Mond, das ist der Himmelsmutter Diadem.

Kinderweinen ...

Und ich schlief ein in Delirien. Ein Brummkreisel tat wie Donnergeroll. (Es gibt quasi unhörbares Summen, das wie der Donner ferner Sündfluten tut.)... Da war was auf dem Weideplatz draußen. Wurde der geschlossen? Dieser Wirtschaftshof war unerträglich! ... Der Stier brüllte. Und mir war, als ob das Brüllen immer noch anwuchs. Näher? Trieb man Jupiter und seine Kühe denn abends in einen Stall dieser höchst sonderbaren Farm? ... Ach nein! ... Aber großer Gott, welch ein Heidenlärm! ...

Delirien ... Das narkotische Mittel, das mich entweder dem Tod weihte oder meinen Wahnsinn wollen sollte, wirkte ... und ich fiel in einen ungesunden künstlichen Schlaf, der bis zum Morgen währte.

Tippte mir wer auf die Schulter.

Stand Lerne — in einer weißen Bluse — an meinem Bett.

Als ob mir das Messer an der Kehle säße.

— Wieviel Uhr? Muß ich sterben? ... Oder ist schon alles vorüber? —

— Geduld, mein lieber Neffe! Es hat noch gar nicht angefangen.

— Was tun Sie mit mir? Wollen Sie mir die Pest einimpfen?... Die Schwindsucht? ... Die Cholera? ... Sagen Sie, Onkel! ... Nein? Was sonst?

— Sei kein Kind, sagte er.

Er trat zurück ... und da war ein Operationstisch da. Auf dem schmalen Gestell etwas wie ein Gittersieb — es sah ganz aus wie eine Folterbank. Instrumente, Flaschen blitzten in der Morgensonne. Eine Wolke Watte auf einem Tischchen. Jene beiden vernickelten Globen auf Ständern waren wie Taucherhelme ... und ein Rechaud brannte unter jedem ... Ich wurde beinah ohnmächtig.

Nebenan, hinter dem jetzt verschlossenen Vorhang ... da war was, da geschah was. Und ein penetranter Äthergeruch kam von da her. Geheimnisse! Geheimnisse ohne Aufhören!

— Was gibt's dahinten? schrie ich.

Und ich sah Karl und Wilhelm. Die räumten von der ändern Hälfte des Raumes etwas hierherein. Und auch sie hatten weiße Blusen an. — Waren sie mehr als nur Gehilfen? ...

Da hielt Lerne etwas in der Hand; und ich spürte etwas Kaltes aus Stahl im Genick. Und schrie von neuem auf.

— Esel, sagte mein Onkel. Das ist doch nur eine Schermaschine! Und er schor mir das Haar und rasierte mir dann die Kopfhaut. Jeden Strich fühlte ich wie einen Schnitt ins Fleisch.

Dann seifte man mir ein zweites Mal den Schädel ein und wusch ihn ... und dann beschrieb der Professor mit einem fetten Stift und einem schweren Kompaß kabbalistische Linien auf meiner Glatze.

— Jetzt zieh das Hemd aus! sagte er dann. Gib doch acht! Du verwischst mir sonst die Zeichnung!...

Und nun leg dich da hin und streck dich aus!

Sie halfen mir auf den Tisch hinauf. Und banden mich fest, die Arme unter dem Gitter.

Wo war wohl Johann?

Karl applizierte mir ohne ein Wort eine Art Maulkorb vors Gesicht. Ein intensiver Äthergeruch füllte mir die Lungen. — Warum kein Chloroform? dachte ich.

Lerne empfahl mir:

»Atme tief und regelmäßig ein, es ist zu deinem Besten .... Los!«

Ich gehorchte.

Lerne nahm eine Spritze zur Hand .... Au, au! Er stieß sie mir in den Nacken.

Zunge und Lippen wurden mir schwer und gehorchten nicht mehr.

»Wartet doch! Ich sch-schlaf doch nicht! ...«

Was ist das ... Gift? ... Syphilis?

»Nur Morphium,« sagte der Professor.

Betäubung kam über mich.

Ein zweiter — aber sehr schmerzhafter — Stich in die Schulter.

»Ich sch-schlafe noch nicht! Wart-tet um Gottes will... ich sch-schlafe noch nicht!«

»Weiter wollte ich nichts wissen!« brummte mein Henker.

Ein paar Augenblicke später lindert etwas meine Qual. Süß von irgendwo. Sagte die Zeichnung auf meinem Kopf denn nicht an, daß man mich nun gleich umbringen würde? Und Mac-Bell, der hätte dennoch die Trepanation überstanden? ...

Als ob man mich von mir selber entfernte, als ob man mich von mir selber forttrüge .... Silberne Schellen klingklingten einen himmlischen Chor, an den ich seitdem mich nie wieder erinnern konnte, obschon er mir damals unvergeßlich klang.

Ein neuer Stich in die Schulter - schier unfühlbar. Ich wollte ihnen wieder zurufen, daß ich noch nicht schliefe. Vergeblich. Meine Worte wurden nicht Klang, waren wie unter Wasser gesprochen, zutiefst, wie auf dem Grunde eines unendlichen Meeres. Meine Worte waren schon tot und gestorben; nur ich wußte noch von ihnen.

Die Vorhangringe auf der Vorhangstange klirrten.

Und dies war's, was ich ohne Wehtun litt (im Schoße eines vorgelogenen Nirwanas): Lerne bringt von der rechten Schläfe bis zur linken, um den Hinterkopf herum, einen tiefen Einschnitt an ... daß es wie ein halber Skalp ist ... und klappt mir dann den ausgeschnittenen Lappen über Augen und Nase: so daß die Stirnhaut das Scharnier dazu abgibt .... Von der Seite muß mein Kopf grad so blutig und rot anzuschauen sein wie ich damals den Schimpansen sah ....

»Hilfe! ... Schlaf noch nicht! ...«

Die Silberglocken lassen mich nicht schreien. Erst klingen sie wie tief im Meer versunken ... und jetzt so zerreißend, so fürchterlich dröhnend wie Sturmglocken ... Und dann versinke ich selber in einem Meer von Äther ...

Bin ich oder bin ich nicht? Ich bin ... ich bin ein Totes, das weiß, daß es ein Totes ist ... nun nicht mehr ....

Nichts.


10. Kapitel

Die Operation

Als ich die Augen wieder auftat: Schatten alles. Und die Ohren wie verstopft, die Nase wie zugehalten. Ich wollte wieder sagen: »Fangt doch nicht an! Ich bin ja noch wach!« Aber kein Wort kam aus mir, und mir war wie in den Delirien der letzten Nacht: als ob das Stiergebrüll wieder nah wäre, näher käme und aber klang, als ob's aus mir selber erklänge .... Ich spürte meine Sinne nicht; ich war willenlos, fühllos, träge. Ich kauerte.

Und wie eine große stumpfe Sicherheit kam's über mich, daß das Rätselhafte nun geschehen wäre.

Nach und nach zerteilten sich die Finsternisse. Und wie eine dumpfe Seelenruhe kam's mich an. In dem Maße wie meine Blindheit wich, kamen auch Gerüche und Geräusche wieder her, immer zahlreicher, zahllos, wie eine Menge Leute, die alle glücklich und selig sind. Glückseligkeit. O blieb's so, blieb's so, blieb's!

Aber dann nahm mich das Leben wieder, das Leben hatte mich wieder.

Nur ... alle Dinge, die ich jetzt unterschied, blieben unförmig in der Kontur, wurden gar nicht plastisch und waren bizarr gefärbt. Ich sah, so war mir, einen weiteren Raum, doch schien mir der vergrößerte Raum verschwommener als vorher. Und ich mußte mich daran erinnern, daß solche Betäubungen die Pupille verändern ... daher diese Abweichung meiner Sehkraft ....

Daß man mich vom Tisch fortgehoben und auf der andern Seite des Raumes auf den Boden hingelegt hatte, konnte ich nichtsdestoweniger mit Leichtigkeit konstatieren. Überhaupt die ganze Situation erkennen, obwohl mir mein Auge alles wie ein Hohlspiegel verzerrte. Der Vorhang war nicht mehr da. Lerne und seine Gehilfen standen um den Operationstisch und waren da bei irgendeiner Arbeit, von der ich aber nichts sehen konnte, denn ihre Rücken hinderten mich ... wahrscheinlich reinigten sie die Instrumente. Durch die große geöffnete Flügeltür sah man in den Park und sah — auf zwanzig Meter ungefähr — eine Ecke von der Viehweide, von wo die Kühe käuend und brüllend zu uns herglotzten.

Nur dies eine war: ich glaubte, das allerrevolutionärste Bild der Expressionistenschule vor mir zu haben! Das Azurene des Himmels hatte wohl seine lichte Tiefe, aber war zu einem schönen Orange geworden. Die Weide, die Bäume schienen mir rot statt grün. Was früher gelb gewesen, war jetzt violett, mit einem Stich wie ins Zinnoberische. Alles und jedes hatte seine Farbe geändert — die schwarzen und die weißen Dinge ausgenommen. Das schwarze Schuhwerk der vier Männer war wie zuvor; ihre Blusen gleichfalls. Aber diese weißen Blusen hatten ... grüne Flecken; und auf den Fliesen waren grüne Lachen — das konnte doch nichts anderes als Blut sein? Und schien mir doch grün, was ich rot haben wollte? ... Und diese Lachen hauchten ein starkes Arom her, das mich von hier vertrieben hätte, wenn ich mich hätte rühren können. Und trotzdem roch's nicht so, wie ich wußte, daß Blut roch ... so hatte ich es noch nie gerochen ... und ebenso alle anderen Gerüche. Gleichwie ich mich nicht erinnern konnte, solches Hellklingen jemals vernommen zu haben ....

Und das Blendwerk verging nicht, und all das Fremdfarbige verblieb, wie sich auch die Ätherdämpfe verflüchtigten!

Ich kämpfte gegen das alles an, lehnte mich auf. Unmöglich.

Man hatte mich auf eine Streu aus Stroh gelegt ... ja, ja, ja, ja, ganz sicherlich aus Stroh ... aber aus malvenfarbigem Stroh! ...

Die Operateure wendeten mir den Rücken zu — Johann ausgenommen. Von Zeit zu Zeit warf Lerne in ein Waschbecken Watte, die grün von Blut gefärbt war ....

Johann bemerkte als erster, daß ich das Bewußtsein wieder erlangt, und teilte dies dem Professor mit. Da sahen die vier neugierig zu mir her, und mit einemmal konnte ich auf dem Operationstisch einen Menschen liegen sehen - ganz nackt, gebunden, die Arme unter dem Gitter, leblos und weiß, mit geschlossenen Augen, leichenhaft, mit schwarzem Bart, der die Totenblässe noch erhöhte, und den Kopf bandagiert ... und die Bandagen mit Blut befleckt, mit ... grünem Blut befleckt. Seine Brust hob und senkte sich regelmäßig. Er atmete mit vollen Lungen. Seine Nasenflügel bebten ihm bei jedem Atemzug.

Und dieser Mensch —? — und dieser Mensch: Der war ich!

Als ich gewiß war — und die Kontrolle war sehr leicht —, daß da nicht etwa nur ein Spiegel im Spiel war, kam mir der Gedanke: Lerne hatte mein Wesen verdoppelt, ich war jetzt der sowohl als jener, ich war zwei ...

Oder träumte ich?

Nein, nein, ich träumte absolut nicht. Bis jetzt war im Grunde doch gar nichts so Absonderliches vorgegangen: ich war weder tot, noch war ich geistesgestört — und diese Evidenz machte mich im höchsten Grade wieder munter. (Das scheint wohl kaum glaublich. Das scheint sehr bestreitbar. Aber die Zukunft wird's lehren.)

Der Operierte da drüben schüttelte mit dem Kopf. Wilhelm band ihn los, und ich wohnte dem Erwachen meines Doppelgängers bei. Nachdem er die Augen aufgetan hatte, wackelte er noch einmal ziemlich idiotisch — mit dem Kopf, tastete blöd an den Tischrändern hin und setzte sich hoch. Er schien ausnehmend schlecht gelaunt. Ich hätte mich selber nie für also vertiert gehalten.

Man legte den Kranken auf das kleine Gurtbett. Er ließ sich verhätscheln. Aber bald wurde ihm übel, er keuchte, und ich sah ein: es bestand absolut keine Kommunikation zwischen mir und mir, ich fühlte absolut nicht, was ich litt — außer jenes selbstverständliche Mitleiden, das man für einen Gentleman hat, der einem sozusagen unvergleichlich ähnlich sieht ....

Aber was denn? ... Unvergleichlich ähnlich? ... War der ein Duplikat meines Leibes? Oder war's mein Leib in Person? ... Ach nein, ich Ochse! — Herrgott, ich fühlte, sah und hörte doch! Wenn auch miserabel, so doch immerhin so reichlich, daß ich überzeugt sein konnte: ich habe Nase, Aug und Ohr! Ich wollte mich strecken, da spürte ich Stricke um meine Glieder: ich hatte doch also Fleisch, mageres und steifes, aber doch immerhin Fleisch .... Mein Leib war also hier und nicht dort! ...

Der Professor befahl, man solle mich losbinden.

Das hanfene Netz zerriß. Viel Eile trieb mich an. Ich war mit einem Ruck hoch ... aber ich war plötzlich so entsetzt, daß ich ausschlug. Gott, war ich plump und niedrig! ... Ich wollte an mir selber herabsehen: unter meinem Kopf war nichts, nichts. Und als ich mich mit vieler Anstrengung weit vorbeugte, sah ich an Stelle meiner Füße zwei gespaltene Holzschuhe ... Holzschuhe? ... an schwarzen und krummen, rauhhaarigen, borstigen Beinen.

Ich schrie laut auf ... und es war ein Gebrüll, wie das zur Nacht, das aus meinem Munde ausging, das das Haus in seinen Grundfesten erzittern ließ und weit, weit, weithin schallte und von den hohen Felswänden widerhallte.

»Still doch, Jupiter!« sagte Lerne. »Du erschreckst mir ja den armen Nicolas, der die Ruhe so nötig hat!«

Und ich sah meinen Leib da drüben, der vor Schrecken aufgeschnellt war.

Ich war also der schwarze Stier! ... Der schwarze Stier war ich! Der scheußliche Magier Lerne hatte mich in ein Tier verwandelt!

Und er machte sich über mich lustig, der Rohling, und seine drei Mordgesellen hielten sich, die Seiten vor Lachen. Meine Rinderaugen wollten weinen.

»Tjajajaja,« tat der Hexenmeister, als ob er in meinen verstörten Gedanken läse — »eija doch! Du bist also jetzt der Jupiter. Aber dir steht das Recht zu, noch mehr über dich zu wissen. Hör mal deine Personalakten. Du bist in Spanien in einer der berühmtesten Stierzüchtereien am Quadalquivir geboren und stammst von notorischen Eltern ab, deren männliche Nachkommen glorreich, mit dem Degen in den Gedärmen, auf dem Sande der Arenen unterliegen. Ich hab dich den Banderillos der Toreadore entführt. Da sich eure Rasse für meine Pläne vorzüglich eignete, kaufte ich euch, dich und die drei Kühe, für teures Geld. Du hast mich 2000 Pesetas, den Transport nicht mitgerechnet, gekostet. Du bist fünf Jahre und zwei Monate alt und kannst noch mal so alt werden ... wenn wir dich an Altersschwäche sterben lassen wollen. Ich erwarb dich, mein Lieber, um an deinem Organismus einige Experimente vorzunehmen ... und dieses war das erste davon.«

Und mein zärtlicher Verwandter brach in ein närrisches Lachen aus. Schüttete sich aus vor Gewieher. — »Hahaha! Nicolas! ... Geht's dir gut, was? Gar nicht so übel, ich weiß gewiß. Deine Neugierde, du Sohn von einem Weibe, deine infernalische Neugierde ... wie? Ich wette, du bist viel weniger beleidigt als neugierig, hm? ... Nun denn, ich bin ein herzensguter Mensch, und da du ja diskret bist, mein lieber Eleve, sollst du alles, auf das du entbrannt bist, erfahren. Hab ich dir's übrigens nicht gleich gesagt: »Der Augenblick ist nah, wo du alles erfahren sollst.« Nicolas, du sollst alles wissen. Ich bin kein Teufel, kein Thaumaturg und kein Hexenmeister. Weder Baal Peor, noch Moses, noch Merlin — ich bin ganz einfach Lerne. Meine Macht kommt nicht von oben oder unten, sie ist die meinige, und ich bin stolz darauf. Meine Wissenschaft ist's. Die Wissenschaft der Menschheit ist's, die ich bereichert hab, ich bin ihr kühnster Pionier, ich bin ihr erster Streiter .... Aber zanken wir uns nicht um Kleinigkeiten. Kannst du mit deinen Bandagen alles hören und verstehen?«

Ich nickte mit dem Kopf.

»Gut. So hör und roll nicht so mit den Augen. Es wird sich alles aufklären, zum Donnerwetter, wir sind doch hier in keinem Roman! ...«

Die Gehilfen putzten die Instrumente und ordneten sie. Mein Leib da drüben schnarchte. Lerne zog die Fußbank zu mir her, setzte sich nah zu meinen Augen und Ohren und diskurrierte:

»Mein lieber Neffe, es war vorhin unrecht von mir, daß ich dich Jupiter nannte. Im wahren Sinn hab ich dich absolut nicht zum Stier gemacht — du bist immer noch der Nicolas Vermont — denn der Name bezeichnet doch insonders die Person, die Seele, und nicht den Leib. So wie du deine Seele behalten hast und die Seele ja das Gehirn zum Sitz hat, wirst du mich angesichts all der chirurgischen Instrumente leicht verstehen, wenn ich dir sage: daß ich nur das Gehirn Jupiters mit dem deinen vertauscht hab und daß das seinige nun in deinem menschlichen Werkel wohnt.«

»Nun wirst du mir sagen, Nicolas, daß das ein sehr zweideutiger Scherz sei .... Du ahnst weder das grandiose Ziel meiner Studien noch das Gedankensystem, das dazu führt. Dies hier ist nur ein kleiner Spaß, eine neue Ovidsche Verwandlung; es ist möglich, daß sie dir gar nichts sagt, etwas rein Subsidiarisches. Wenn wir sagen wollen: eine Skizze, ein fast spielerischer Entwurf.«

»Nein, nein, du siehst bei diesem einen Fall hier kaum einen höhern Zweck. Einen Mutwillen, ja, eine kleine Bosheit. Einen Dummerjungenstreich ohne soziale und industrielle Aussichten und Ausbeute.«

»Mein Zweck aber ist: die Interversion der Persönlichkeit des Menschen — die ich durch den Austausch der Gehirne erreiche.«

»Du weißt von meiner eingewurzelten Passion für Blumen. Der frönte ich bis zum Übermaß. Früher war mein Leben ganz von meinem Beruf ausgefüllt, und als einzige Erholung widmete ich den Sonntag der Gärtnerei. Der Zeitvertreib war von Einfluß auf meine Profession, die Okulierkunst auf die Chirurgie; im Hospital weihte ich mich mehr und mehr animalischen Okulationen. Ich spezialisierte mich und geriet in heiligen Eifer, indem ich in der Klinik meinen Enthusiasmus vom Treibhaus wiederfand. — Zu Anfang ahnte ich nur dunkel einen Kontakt zwischen animalischer und vegetabilischer Okulation, nur etwas wie einen Bindestrich zwischen den beiden. Aber durch logische Arbeit präzisierte ich die Sache bald ... doch, darauf werden wir noch zurückkommen.«

»Als ich mich von der animalischen Okulation so sehr einnehmen ließ, lag dieses ganze Feld der Wissenschaft völlig brach. Ich kann wohl sagen: Seit den Indiern des Altertums, die die ersten Pfropfkünstler gewesen waren, war diese Kunst stationär geblieben.«

»Aber vielleicht weißt du die Prinzipien nicht? Hör zu —«

»Das alles, Nicolas, basiert auf dieser Tatsache: Die animalischen Stoffe haben jeder eine persönliche Vitalität. Der Leib eines lebendigen Tiers ist nichts als das Milieu, in dem die Stoffe leben, das Milieu, aus dem sie heraustreten können, indem sie den Leib selber längere oder kürzere Zeit überleben.

§ Die Nägel und die Haare wachsen noch nach dem Tode. Das weißt du doch? Sie überleben den Leib also.

§ Einer, der vierundzwanzig Stunden tot ist und etwa keine Nachkommenschaft zurückließ, erfüllt immer noch die Hauptbedingung, wär sozusagen noch zeugungsfähig. — Leider fehlen ihm dazu andere essentielle Fähigkeiten. Von den Gehängten zum Beispiel sagt man ...

Aber ich will hier der Reihe nach vorgehen:

§ Unter gewisser erforderlicher Feuchtigkeit, Oxydierung und Wärme verstand man, am Leben zu erhalten: einen kupierten Rattenschwanz — sieben Tage; einen amputierten Finger — vier Stunden. Am Ende dieser Perioden waren sie tot, aber während der sieben Tage und während der vier Stunden würden sie, wenn man sie dem Leib richtig wieder angesetzt hätte, weiterhin gelebt haben.«

»Das hatten schon jene alten Indier zuwege gebracht — die setzten bei Züchtigungen abgehauene Nasen wieder an oder ersetzten sie, wenn die Ansätze ins Feuer geschmissen worden waren, durch Nasen aus Hautstücken, die sie dem Gemarterten, mein lieber Nicolas, schon im voraus aus den Hinterbacken herausgeschnitten hatten.«

»Eine solche Operation ist der erste Fall animalischer Okulation und besteht darin, daß man einen Teil eines Individuums auf dem Individuum selber verpflanzt.«

»Der zweite Fall ist der: Man verschweißt zwei Lebewesen, indem man sie beide verwundet und von dem einen ein abgeschnittenes Stück dem andern aufsetzt, das dann auf diesem weiterlebt.«

»Der dritte Fall: Man verpflanzt einen Teil eines Lebewesens auf ein anderes, immer so, daß es dort sein eigenes Leben bewahrt. — Das ist die eleganteste der drei Arten. Und die war's, die mich verführt hat ....«

»Aber so eine Operation ist heikel. Aus sehr vielen Gründen. Und der Hauptgrund ist dieser, daß eine Okulation um so weniger gern gedeiht, je entfernter die Verwandtschaft ist. Etwas von einem Lebewesen dem Lebewesen selber aufgepfropft, gedeiht herrlich. Weniger schon von Vater auf Sohn. Und immer noch weniger von Bruder auf Bruder, von Vetter auf Vetter, von einem Fremden auf einen Fremden, einem Deutschen auf einen Spanier, einem Neger auf einen Weißen, Mann auf Weib, Kind auf Greis.«

»Als ich mich an diese Wissenschaft machte, mißlang die Auswechselung, um die es sich handelte, innerhalb von zoologischen Familien. Und mehr noch innerhalb von Ordnungen und Klassen.«

»Aber einige Experimente sollten eine Ausnahme machen. Und diese waren es, auf die ich die meinigen stützte. Es galt erst den Austausch zwischen Fisch und Vogel, ehe man mit Erfolg an den Menschen ging. — Ich sagte: einige Experimente:

§ Wiesmann hatte sich die Feder eines Zeisigs aus dem Arm ausgerissen, die er einen Monat vorher eingepflanzt hatte. Und das ließ eine kleine blutende Wunde zurück.

§ Boronio hatte einen Zeisigflügel und einen Rattenschwanz auf einen Hahnenkamm gepfropft.

»Das war nicht viel. Aber die Natur selber spornte mich an:«

§ Die Vögel kreuzen sich ohne Scham und bringen zahlreiche Bastarde hervor, was mir die Möglichkeit einer Fusion der Arten bewies.

§ Und dann, wenn man sich noch immer vom Menschen fern hält, sind es doch die Pflanzen, die beträchtliche, schöpferische Kräfte haben.«

»Das war — mit ein paar Worten — die Lage, die ich vorfand und die ich nützen wollte.«

»Ich zog hierher auf Fonval, um mit aller Muße arbeiten zu können.«

»Und bald darauf gelangen mir wunderbare Operationen. Sie sind weltbekannt. Besonders die eine. Du erinnerst dich gewiß.«

»Lipton, der Konservenkönig, der amerikanische Milliardär, hatte nur ein Ohr und wollte doch zwei haben. Ein armer Teufel verkaufte ihm eins von sich für 5000 Dollar. Ich führte die kleine Operation aus. Das neue aufgepfropfte Ohr starb erst mit Lipton, zwei Jahre später — an einer Indigestion.«

»Und da, während die Alte wie die Neue Welt meinen Triumph bejubelten, zur selbigen Zeit, da ich aus lauter Liebe meiner Emma ungeheuere Reichtümer schaffen wollte, hatte ich jene große Idee, die mir also kam:«

»Wenn ein Milliardär, den sein fehlendes Ohr ärgert, für die Behebung dieses kleinen Schönheitsfehlers schon 5000 Dollar bezahlt — wieviel möchte er dann wohl dafür bezahlen, daß er ganz und gar an Leibe ausgewechselt wird, daß er zu seinem Ich — zu seinem Gehirn — einen vollständig neuen Körper bekommt, ein neues, anmutiges, männliches und junges Kleid aus Fleisch und Blut an Stelle seines alten gebrechlichen und abstoßenden Plunders? — Und wieviel Bettelvolk andererseits gäb's, das seine glänzende Anatomie gerne für ein paar Jahre Schlemmerei fortwürfe?«

»Du mußt bedenken, Nicolas, daß der Kauf eines jugendlichen Körpers nicht nur die Annehmlichkeit einer neuen Geschmeidigkeit, Blutwärme und Abhärtung bedeutet, sondern auch den enormen Vorteil mit sich bringt, daß der ganze Mensch sich in diesem neuen Milieu regeneriert — verjüngt! Oh ... ich bin auch nicht der erste, der dies anstrebte! Paul Bert schon gab die Möglichkeit zu, daß man ein Organ nacheinander auf mehrere Leiber übertragen könnte, in dem Maße wie die alt werden ... derart, daß durch solche fortwährenden Verjüngungen der Traum zur Wirklichkeit wurde, unbegrenzt lange zu leben, mit dem gleichen Magen etwa, auch mit dem gleichen Gehirn durch viele Leiber hindurch. Das hieß wahr und wirklich: Ein Mensch kann unbegrenzt lange leben, mit Hilfe einer Reihe von Verkörperungen, einer Reise durch verschiedene Rümpfe ... indem man von einer Haut in die andere fährt, so wie vom Nacht- ins Taghemd.«

»Die Erfindung zu machen überholte weit all meine früheren Hoffnungen. Ich verfolgte von nun an nicht nur mehr die Möglichkeit der Auswahl einer sympathischen Einkleidung: Ich hielt das Geheimnis der Unsterblichkeit.«

»Da das Gehirn der Sitz des ›Ich‹ ist — du weißt doch, das Rückenmark ist nur eine Transmission, ein Zentrum aller Reflexe — handelte es sich um nichts weiter als: okulieren zu können ....«

»Freilich, von einem Ohrwaschel bis zum Gehirn ist nicht nur ein Sprung ... und doch nur wieder ein Sprung: (1°) von der knorpeligen Substanz zur Nervenmaterie und (2°) vom Angegliederten zum Ganzen. Da mußte mir die Logik helfen, die Logik, die sich auf berühmte und offiziell beglaubigte Präzedenzfälle stützen konnte:

1° § Abgesehen von Pfropfungen der Schleimhaut, Haut usw. usw. ersetzten im Jahre 1861 Philippeaux und Vulpian die Nervenmaterie eines Sehnerven.

§ 1880 wechselt Gluck bei einem Huhn einige Zentimeter Hüftnerven gegen Kaninchennerven aus.

§ 1890 löst Thompson ein paar Kubikzentimeter Gehirn von Hunden und Katzen aus und führt dafür andere Zerebralsubstanz entweder von andern Hunden und Katzen oder anderen Arten ein.

Hier kamen wir also vom Knorpel zum Nerv, vom Ohrfragment zum Gehirn. — Besehen wir uns noch die zweite Schwierigkeit:

2° § Die Gärtner verpfropfen leicht ganze Organismen.

§ An Stelle von Fingern, Schwänzen und Pfoten verpfropften Philippeaux und Mantegazza schon ziemlich bedeutende Organe: wie Milz, Magen, Zunge. Machten — wie aus Liebhaberei — aus einem Huhn einen Hahn. Sogar die Bauchspeicheldrüse versuchte man zu verpflanzen.

§ Orrel und Guthrie glauben 1905 in New York Venen und Arterien von Tieren auf Menschen übertragen zu können.

»Somit wären wir über die Grenze vom Angegliederten zum Ganzen gekommen.

§ Endlich behauptet Mantegazza, er hätte Markteile und Froschgehirne übertragen! ...

»Nach alldem waren also meine Projekte realisierbar.«

»Ich ging ans Werk. «

»Aber da war ein Hindernis: es geschah, daß, sowie Leib und Gehirn getrennt wurden, das eine oder andere oder alle beide starben, eh sie mit dem Fremden verbunden waren.«

»Aber da faßte ich mir vor den folgenden Tatsachen ein Herz.«

»Was den Leib anbetrifft:

§ Ein Tier kann sehr wohl mit nur einem Gehirnlappen leben. Du selbst sahst eine Taube sich wenden und drehn, die zu drei viertel Teilen ihres Gehirns beraubt war.

§ Oft fliegen geköpfte Enten weit, ja Hunderte von Metern weit vom Block fort, auf dem ihr abgehauener Kopf liegt.

§ Eine Heuschrecke lebte vierzehn Tage lang ohne Kopf. Vierzehn Tage lang! Das ist ein wahr bewiesenes Experiment.«

»Und was die einzelnen Organe betrifft, so erzählte ich dir vorhin schon.«

»Gehirn und Leib mußten also bei richtiger Behandlung die paar Minuten Trennung, die unbedingt erforderlich sind, jedes für sich allein leben.«

»Aber obgleich dem so war, brachte mich die Langsamkeit der Trepanation im Prinzip darauf, nicht die Gehirne, sondern die ganzen Schädel auszuwechseln, indem ich von Brown-Séquard wußte, daß der Schädel eines Hundes, der mit oxydiertem Blut angefüllt war, die Hinrichtung um eine Viertelstunde überlebte. «

»Aus jener Zeit datieren heteroklitische Wesen: Ein Esel mit einem Pferdekopf, eine Ziege mit einem Hirschkopf ... ach! In der Nacht deiner Ankunft hat Wilhelm die Türen offen gelassen, und diese Monstra, die eines Doktor Moreau würdig waren, haben mit vielen andern Behandelten das Weite gesucht.«

»Aber wo bin ich stehengeblieben? Ja ... Ich will dich Genesenden nun nicht mit vielen Details übermüden: wie ich die erste Methode aufgab und glücklich die ›Lernesche Schädelkreissäge Extra Rapid‹ erfand, jene Gehirnbehältergloben oder künstlichen Hirnhäute und all die Nervensalben und Nervenlöther, wie ich auf die Notwendigkeit von Morphiuminjektionen nach Broca kam, die die Blutgefäße verengern und allzu reichlichen Blutverlust verhüten, wie ich den Gebrauch von Äther zur Betäubung einführte usw. usw. usw. usw. ...«

»Dank alldem intervertierte ich die Persönlichkeit eines ... eines ... (ach! ich kann nie auf den Namen kommen!)... eines ... Eichhörnchens und einer Ringeltaube — das war fein — dann die einer Grasmücke und einer Viper, eines Karpfens und einer Amsel: kaltes Blut und warmes Blut - das war glänzend! Nach all solchen Dingen mußte die Substitution eines Menschen ein Kinderspiel sein.«

»Da boten sich Karl und Wilhelm mir zum Hauptversuch an. Das war groß, das war das Höchste. Otto Klotz war fort, hm! Mac-Bell war nicht sicher: so operierte ich einzig mit Hilfe von Johann und mit meinen automatischen Maschinen.«

»Es gelang über die Maßen. «

»Die braven Kerle! ... Wer wollte vermuten, daß ihnen ihr ganzer Leib amputiert ist und daß seit jenem Tag dieser in jenem und jener in diesem wohnt und umherläuft! ... Sieh doch!«

Und er rief die Gehilfen herbei, hob ihnen die Haare auf und zeigte mir die veilchenfarbenen Ringe um den Hinterkopf, von einer Schläfe zur andern. Die beiden Deutschen lächelten sich an — ich mußte sie bewundern. Dann fuhr Lerne fort zu erzählen:

»Mein Glück war also gemacht. Ich sollte Ruhm erwerben, und ich sollte meine geliebte Emma — mein Unschätzbarstes, Nicolas! besitzen!«

»Aber nun galt's, meine Erfindung anzuwenden.«

»Die Wahrheit zu sagen — etwas bekümmerte mich. Ich meine den Einfluß der Moral auf das Physische und umgekehrt. Nach einigen Monaten veränderten sich nämlich meine Operierten. Wenn ich einen Körper mit einer feineren Geistigkeit als vorher begabte, so ruinierte die ihn; ich sah unter anderm, wie Schweine mit dem Gehirn eines Hundes leidend wurden, stark vom Fleisch fielen und sehr rasch verendeten. Und im Gegenteil — die Intelligenzen, die dümmer als ihre Vorgänger waren, unterwarfen sich ihrem neuen Leiblichen, und jedes solche Tier wurde immer noch blöder und gedieh dabei aufs allerfetteste. Zuweilen kam's auch vor, daß sehr wildes Fleisch einen kleinen Geist mit all seiner Tierheit beeinflußte: Einer meiner Wölfe übertrug all seine Grausamkeit auf ein Hammelhirn! — Aber würde dieser Nachteil bei meinen zukünftigen Klienten, den Menschen, nicht schreckliche Fehlschüsse an Gesundheit und Charakterstärke zeitigen? Das war wie eine Verhöhnung und konnte mich dennoch nicht abhalten. «

»Ich wollte Mac-Bell nicht gerne mit Emma allein lassen, so expedierte ich ihn nach Schottland. Ich aber nahm den Kurs nach Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, der Milliardäre und des angeklebten Ohrs. Das schien mir das geeignetste für mich. Und das war vor zwei Jahren. «

»Am Tag nach meiner Ausschiffung mietete ich mir fünfunddreißig Strauchdiebe, die entschlossen waren, ihre gesunde Leiblichkeit zu Nutz und Frommen von fünfunddreißig Milliardären, die ich kennenlernen, ausforschen, belehren und überzeugen mußte, zu opfern.«

»Schlappe.«

»Ich hatte bei den abscheulichsten und verdorbensten angefangen.«

»Die einen hielten mich für wahnsinnig und ließen mich hinausschmeißen.«

»Wieder andere waren beleidigt. Bedeuteten mir schielend und aus schwindsüchtigen Lungen, wie ich dazu käme, sie krank zu finden.«

»Todkranke waren sicher, in den allernächsten Tagen zu genesen, und noch sicherer, daß sie unter der Wirkung meines Äthers sterben würden. «

»Noch andere getrauten sich nicht, denn: ›Das hieße Gott versuchen!‹ Die scheuten mich wie den Teufel, ja, besprengten mich sogar mit Weihwasser .... Ich hatte ihnen gut alle möglichen Vorstellungen über Religion und Leben machen ... es nützte nichts. «

»Viele waren der Meinung: ›Man weiß, was man hat, aber man weiß nicht, was man kriegt.‹«

»Wirst du mir glauben, wenn ich dir sage, daß die Weiber die einzigen waren? Die wollten närrisch gern zu Männern gemacht werden. Aber meine gemieteten Galgenvögel — zwei oder drei ganz verwegene ausgenommen — schreckten wild davor zurück, weibliche Geschlechtsteile in Kauf zu nehmen. «

»Ich führte ihnen das Verführerische eines unbegrenzt langen Lebens vor Augen. Aber da antworteten mir die Siebzigjährigen: ›Das Leben, das Gott schenkt, währt sowieso schon zu lang. Wir wünschen nichts als das nahe Ende.‹ — ›Aber ich gebe Ihnen doch mit der Jugend alles Sehnen und Verlangen neu zurück!‹ — ›Dafür bedank ich mich schönstens! Ich hab nur noch den einen Wunsch, keinen Wunsch mehr zu haben !‹«

»Die im Mannesalter standen, sagten mir oft: ›Ich bin froh, daß ich weiß, was ich weiß. Ich hab lieber meine Erfahrung von heut, als daß ich bei aller Feurigkeit und Jugend noch mal all meine Jugendblödsinnigkeiten begehen möchte:‹«

»Es fanden sich ja wohl ein paar Faustnaturen, die den Verjüngungspakt mit mir eingehen wollten.«

»Aber diese paar Nabobs hatten alle noch den einen Einwand: die Operation sei gefährlich, und es sei Unvernunft, soviel Leben für ein wenig Lebenslüsternheit zu wagen. Du siehst, Nicolas, nur die Jugend selber setzt ihr Leben ein ....«

»Es galt für mich also, die Gefahr bei allem erst noch so viel wie möglich auszuschalten. Ich war zu neuen Studien bereit! Aber mir waren die Augen geöffnet! Ich wußte von da an, wie bescheiden die Zahl derer war, die bei einer neuen Erfindung sich mir anvertrauen würden, doch auch, daß es immerhin genügen würde, mich reich und glücklich zu machen .... Aufgeschoben sollte nicht aufgehoben sein.«

»Ich komm verbittert und verschlossen — mit Groll und Wut im Herzen nach Fonval zurück. Für Emma und Doniphan nur noch ein unversöhnlicher Rächer. Ich erwischte die beiden; ich hab mich gerächt. Du hast's doch wohl erraten? Gestern haben die beiden Mac-Bells das Gehirn Nellys mit fortgenommen — die Seele Doniphans aber logiert in der Bernhardinerin. Die gleiche Züchtigung sollten du und Emma für den gleichen Mißbrauch erfahren. Salomo hätt nicht weiser urteilen, Circe nicht besser zaubern können als ich.«

»Nun denn, mein lieber Neffe, ich hab gearbeitet — trotzdem du mir dann hierherkamst und ich so peinlich auf dich aufpassen mußte. Vielleicht trennen mich nur noch Tage, und mir gelingt der Transport der Persönlichkeit ohne chirurgischen Eingriff

»Stell dir vor, ich hab die Okulation von Pflanzen nie vernachlässigt. Ich hab es darin sogar sehr, sehr, sehr weit gebracht, und diese meine Erfahrungen zusammen mit meinen Experimenten an Tieren, dies bildet heut ein ziemliches Universalwissen, was Verpflanzung und Übertragung überhaupt angeht. Die Kombination dieser Wissenschaft mit andern Wissenschaften ist's, die mir die mögliche Lösung ergibt. — Man generalisiert im allgemeinen viel zu wenig. Nicolas! Wir sind in Parzellen vernarrt, in unendlich kleine Minuskeln sterblich verliebt, wir sind von der Manie der Analyse besessen, unser Auge hängt am Mikroskop. Bei der Hälfte all unserer Forschungen müßten wir ganz anders vorgehen, mit einem — wie sag ich's gleich? — mit ganz entgegengesetzten, sozusagen synthetisch-optischen Instrumenten, mit einer synoptischen Brille, wenn du so willst, kurz: mit etwas wie einem Megaloskop statt immer mit dem Mikroskop!«

»Ich steh vor einer kolossalen Entdeckung, kann ich dir sagen!«

»Aber ohne Emma, mußt du nicht vergessen, wär ich nicht so weit, hätt ich's niemals bis hieher gebracht! Die Liebe ist's, die mich zum Ruhm antreibt! ... Zu diesem Behufe, mein liebes Neffchen, wirst du dir die menschlichen Züge des Professors Frederic Lerne gefallen lassen müssen, ei ja! Emma liebte dich mit einem so schönen Feuer, mein Lieber, daß ich darauf kam, mich als dich zu verkleiden, um an deiner Stelle so süß geliebt zu werden! Diese Rache ist die beste ... und wie so pikant obendrein! Ich brauche nur noch für wenige Zeit meine verhutzelte Gestalt, dann aber werd ich den alten Adam ausziehn ... Der junge Adam, liegt denn der auf dem Bett da drüben nicht schon fein bereit für mich?«

Bei diesen sarkastischen Worten weinte ich laut auf — und so schön ich nur konnte. Mein Onkel tat, als ob er Mitleid mit mir hätte:

»Aber ich seh schon, ich mute dir, so tapfer du dich hältst, mein teurer Patient, fast zuviel zu. Ruh dich nun, ruh dich. Daß deine Neugierde befriedigt ist, das wird dir einen heilsamen Schlaf bringen. — Nur, daß ich nicht vergesse: Erreg dich nicht, daß du die Welt nun anders als früher siehst. All die Dinge werden dir nun eben, flach, platt wie auf einer Fotografie erscheinen. Das kommt davon, daß du sie meist nur mit einem Auge auffängst. Viele Tiere sind sozusagen zwei Einäugige. Sie sehen nicht stereoskopisch, Andere Augen, andere Ansichten. Andere Ohren, andere Musik. Und so fort. Das tut nichts. Es faßt ja auch jeder Mensch jede Sache anders auf. Aus Gewohnheit heißen wir eine bestimmte Farbe »rot«, wohl ja! Aber der eine versteht darunter — das kommt sogar häufig vor — eine Impression wie grün, ein anderer wie türkischblau .... Und damit — schönen guten Abend!«

Nein, meine Neugierde war absolut nicht befriedigt. Ich wollte überlegen, aber es war mir nicht möglich, die Punkte festzuhalten, die mein Onkel unaufgeklärt gelassen hatte. Ich war zu Tode betrübt, das war es. Und ich war nach dieser Operation wie mit Äther imprägniert. Mit Ätherdämpfen gesättigt — meine menschliche Urteilskraft sowohl als mein Stierherz.


11. Kapitel

Jupiter auf der Weide

Die acht Tage, die ich verbunden, zu steter Ruhe angehalten und mit irgendeinem Apothekerzeug ernährt, im Laboratorium lag und genesen sollte, waren Tage schrecklichster Niedergeschlagenheit.

Bei jedem Erwachen meinte ich das Ganze nur geträumt zu haben. Und dann brachten mir empfindliche Schmerzen meine Lage schnell wieder zum Bewußtsein. Es ist bekannt, daß Amputierte an der Wundstelle so leiden, grad als ob ihnen das abgenommene Bein oder der abgesägte Arm weh täte. Wenn man nun bedenkt, daß mir der ganze Leib amputiert war, wird man begreifen, welchen Schmerz ich an allen Gliedern litt, an meinen Händen, an meinen Füßen, an allem, das nicht mehr da war .... Ich fühlte auf das schmerzhafteste all meine Extremitäten, und das so deutlich und unterschiedlich, als ob sie noch alle an mir wären ....

Doch dies Seltsame verringerte sich dann und verging endlich ganz.

Nicht so schnell aber mein Herzeleid. Die, die ihre Mitmenschen einst mit ähnlichen Farcen amüsierten — Homer, Ovid, Apulejus, Perrault — die wußten freilich nicht, was für Tragödien das wurden, wenn sich diese Träume einmal verwirklichten. Welches Drama ist doch der Esel des Lucian! Welches Martyrium war diese Woche der Diät und gefesselten Untätigkeit für mich! Ich war für die Menschheit tot und wartete feig auf die Todesstrafe der Vivisektion oder auf einen raschen Verfall .... vor Ablauf der fünf Jahre, die mir gesetzt waren! ...

Trotz allem Herzweh aber heilte ich. Nachdem mich Lerne für wiederhergestellt (!) befand, wurde ich auf die Weide hinausgetrieben.

Europa, Athor und Jo galoppierten vor mir her. Und ich mag noch so schändlich scheinen, es zwingt mich etwas zu gestehen, daß mir die Damen von ungeahntem Reiz erschienen. Sie umkreisten mich auf das liebenswürdigste, und obgleich ich mich im Zaume halten wollte, war ich aus einem souveränen Instinkt heraus, der zweifellos von meinem verdammten Stiersteiß herrührte, wie vernarrt! Aber dann gaben meine Holden Fersengeld, vielleicht weil sie in ihrer okkulten Sprache nicht die richtige Antwort von mir erhielten, vielleicht auch, daß eine jähe Ahnung sie schreckte.

Tage, Tage, und sie wurden mir immer noch nicht zahm und vertraut. Tage, Tage — und ich verwandte doch jede nur mögliche menschliche Hinterlist! Mit Gewalt erst, mit wütendem Ausschlagen zwang ich mir sie. — Das war wohl ein Grund, hier lange Philosophien anzustellen. Ich würde mit Freuden hier eine Dissertation davon geben. Aber ein solches Kapitel wäre im Fluß meiner Erzählung ein wohl erbaulicher, aber unzeitiger Damm.

Nach jenem ersten Augenblick, da mich die Mißgunst und die Flucht meiner drei gehörnten Damen ärgerte und ich mit einem krankhaften Feuer und einem verhaspelten Ansprang ihre Liebe wollte, begann ich, friedlich das Gras von der Weide zu rupfen.

Hier beginnt eine Reihe interessanter Dinge — lauter unerhörte Beobachtungen aus meinem neuen Zustand heraus. Ich war so vollauf in Anspruch genommen und so amüsiert, daß ich aus dem Körper des Stieres wie aus einem Coupéfenster herausschaute — wenn schon ein wenig wie aus einem Sträflingsabteil und einen Polizeisergeanten mit geladenem Gewehr neben mir —, aber Wunder über Wunder wahrnahm, die mir der Zufall schenkte.

So sehr kniete sich mein Menschengeist in diese Tierorgane, daß ich in der Tat etwas wie glücklich war.

Es war wirklich eine neue Welt, die sich mir auftat. Die Welt des Tierkindes. So wie mir meine Augen, meine Ohren und meine Schnauze sensationelle Gesichte, Gehöre und Gerüche nach dem Gehirn drahteten, so lieferte mir meine Zunge mit ihren Warzen außerordentlich originale, nie geschmeckte Kostproben. So eine Strohhütte, die so ein Tier ist, birgt tausend Köstlichkeiten, von denen wir Paläste, die wir Menschen sind, uns nichts träumen lassen. Die Küche eines Gastronomen könnte mit zwölf Schüsseln nicht gegen das aufkommen, das ein Stier auf einem Fußbreit Wiese findet. Ich kann mich nicht enthalten, den Genuß meines Futters mit dem meiner einstigen Speisen zu vergleichen. Es gibt einen größern Unterschied zwischen Schneckenklee und Klee als zwischen einer gebackenen Seezunge und einer Rehkeule in Weidmannssauce. Alle Pimente würzen die Pflanzen für einen kräuterfressenden Tiermund: die Blattknospe schmeckt ein wenig fad, die Distel etwas pfeffrig, aber nichts, nichts kommt dem wohlriechenden differenzierten Heu gleich .... Eine Viehweide ist ein allezeit servierter Schmaus; und ein fortwährender Hunger nötigt die Feinschmecker zu Tisch.

Das Wasser der Tränke war je nach der Stunde und Zeit von einem andern Geschmack, säuerlich bald und bald gesalzen oder gezuckert, leicht des Morgens und schwer des Abends. Ich vermag die Entzückungen des Tränkens nicht zu schildern, und ich glaube, daß die Olympischen in einem rachsüchtigen und spöttischen Testament dem Menschen nur die Gabe des Lachens hinterließen, den Tieren aber das ausgezeichnete Privileg, Ambrosia in den Kräutern der Wiesen und Nektar aus allen Quellen zu genießen.

Ich erfuhr die Köstlichkeit des Wiederkäuens, und ich begriff die Rinder in der Andacht des Immerwiederkostens — durch vier Magen hindurch —, während die Gerüche des Feldes in ihren Nasenlöchern eine ganze pastorale Symphonie als Kirchenmusik aufspielen.

Ich experimentierte mit meinen Sinnen, erprobte all meine Fähigkeiten ... und so widerfuhren mir seltsame Impressionen .... Die reinste Erinnerung bewahr ich meiner Schnauze — die war das Zentrum all meines Gefühls, der unfehlbare subtile Probierstein aller guten und schlechten Körner, der weitausgestellte Wächter all meiner Feinde, der Lotse, der hohe Rat, eine Art selbständigen und dogmatischen Gewissens, ein Orakel, das sich auf Ja und Nein begriff, das nie einen Schnitzer beging und dem man immer gehorchte. Ich möchte sehr gerne wissen, ob Jupiter, als er um die Prinzessin Europa die Gestalt eines Stiers annahm, nicht von seiner Schnauze am allerallermeisten entzückt war, viel viel mehr als von jener ziemlich degoutanten Entführung ....

Dann aber — und nur zu bald — redete meine entkräftete Konstitution ein Wörtlein mit. Ich bekam Kopfweh, Schnupfen, Zahnschmerzen — die ganze Sippschaft der Indispositionen eines Stadtfracks aus dem XX. Jahrhundert. Ich magerte ab. Bekam schwarze Gedanken. Das kam davon, daß meine Seele die Herrschaft über den Leib bekam, wie mir mein Onkel vorhergesagt hatte — und außerdem, weil zwei Dinge geschahen, die meine Auszehrung noch beschleunigten:

Nach einer Zeit — sie war wohl vor Schrecken krank geworden — sah ich Emma wieder. Ich sah sie am Fenster ihres Zimmers, dann am Fenster im Erdgeschoß, dann im Freien. Sie ging bald täglich am Arm der Magd aus und machte einen Spaziergang, wobei sie stets das Laboratorium mied, darin Lerne mit seinen Gehilfen unermüdlich arbeitete. Matt war sie, und ein wenig welk. Sie schritt langsam hin, sah bleich aus, und hatte einen starren Blick, sie war wie Mond in der Sonne, ihre Augen waren wie die Blumen der Nacht. Pathetisch war sie, und wie eine Witwe war sie, in edler Trauer drückte sie den Aufruhr ihrer Liebe aus und die Leidenschaft ihres Wehs. Sie liebte mich also immer noch, und da sie mich nicht sah, glaubte sie, mein Schicksal war das Schicksal jenes Doktor Klotz gewesen und nicht das Los Mac-Bells, den sie übrigens verkannt hatte. Sie mußte mich entweder für tot oder für geflohen halten. Die Wahrheit erfuhr sie nicht!

Jeden Tag folgte ich mit frommerem Eifer ihrer Prozession, so lang und weithin ich konnte. Ich war nur durch einen Eisendraht mit Widerhaken von ihr getrennt und wollte mich ihr durch Mimik und durch Laute zu erkennen geben. Aber Emma entsetzte sich vor dem Stier, vor seinen Pirouetten und vor seinem Gesang. Sie begriff nichts — so wie ich einst in der Hündin den Doniphan nicht verstanden hatte. — Nur zuweilen, wenn eine allzu menschliche Geste meine vierfüßige Gewichtigkeit wackeln machte, amüsierte sie sich ....

Und ich war überrascht, sie lächeln zu sehen.

So kam die Liebe wieder mit ihrer Qual.

Und so konnte die Eifersucht nicht ausbleiben.

Und das war das zweite Ding, das meine Auszehrung beschleunigte.

Eifersucht — aber ganz ungewöhnliche Eifersucht ....

Zwischen der Weide und dem Teich war jener sechseckige Pavillon, jener Kiosk, jenes Lusthäuschen: mein Ex-Riese Briareus. Und Lerne beunruhigte mich dadurch sehr, daß er meinen ehemaligen Leib dort einlogierte. Ich sah, wie die Gehilfen erst ein paar Möbelstücke da hineintrugen, und dann jenes Wesen selber hinbrachten .... Und seit dem Tag war jener Mensch da, preßte die Stirn gegen die Scheiben und sah stupid zu mir hinüber.

Die Haare wuchsen ihm wieder, und sein Bart war kraus. Er war zum Tölpel und zum Dickwanst geworden. Seine Kleider waren dem Platzen nah. Sein Aug — jenes Mandelauge, auf das ich so stolz gewesen war — wurde rund und glotzend. Der Mann mit dem Gehirn eines Stiers sah aus wie Doniphan, aber bestialischer noch, viel weniger gutmütig als jener. Mein armer Körper hatte ein paar charakteristische Gesten unserer Familie beibehalten: ein unverbesserlicher Tic ließ ihn von Zeit zu Zeit mit den Schultern zucken, grad als ob sich das Scheusal durch die Fenster des Kioskes hindurch über mich lustig machen wollte. Zuweilen in der Abenddämmerung begann er zu schreien; dann zerriß sich meine schöne Baritonstimme in unausstehlichen Mißlauten, daß es wie Gorillarufen klang. Und dann heulte Mac-Bell aus dem Laboratorium her mit dem Geheul eines kranken Hundes dazu, und da konnte ich nie länger widerstehen und mußte gleichfalls brüllen — und so sang ein gar gräßlich Terzett in der Bucht von Fonval um die Abendzeit ....

Und Emma bemerkte, daß der Kiosk bewohnt war.

An diesem Tag ging sie mit der Barbara meine Weide entlang. Und ich begleitete sie wie gewöhnlich bis zu dem kleinen Lustwäldchen, das quer herlief, und wollte am Eingang auf sie warten. Tauben gurrten da.

Sie wollten hineingehn. Aber jäh hielten sie an.

Emma stand — ganz verwandelt. Mit jenem Ausdruck der Beseelung, den ich an ihr kannte: mit vibrierenden Nasenflügeln, halbgeschlossenen Augenlidern und wogendem Busen. Sie umklammerte einen Arm der Barbara.

»Nicolas! murmelte sie. Nicolas! ...«

»Ja?« tat die Magd.

»Dort! Dort! Dort! ... Du siehst aber auch gar nichts! ...«

Und die Turteltauben lachten ihr ersticktes Lachen. Und Emma zeigte Barbara den Menschen im Kiosk — hinter dem Fensterkreuz.

Und nachdem sie sich vergewissert hatte, daß man sie vom Laboratorium aus nicht sehen konnte, machte die Schöne Zeichen, schickte Küsse .... Der Mensch aber tat, als sähe er nichts. Er sperrte seine runden Augen auf, ließ die Lippen hängen und sah aus, ach!, wie ein vollkommener Idiot.

»Wahnsinnig!« sagte Emma. »Er auch! Lerne hat ihn mir genau wie Mac-Bell wahnsinnig gemacht! ...«

Da weinte das Mädchen herzzerbrechend, und in mir stieg eine ungeheure Wut auf.

»Bloß,« empfahl ihr die Magd ... »lassen Sie sich nie in der Nähe des Kioskes ertappen. Hier wird man von allen Seiten gesehn!

Die andere schüttelte ihre schönen Locken, trocknete ihre Tränen und ließ sich aufs Gras hinsinken und lag da auf dem Bauch wie Sphinxe tun ... den Kopf auf den Händen, mit anstrebendem Rücken und ragendem und sehr aufgebrachtem Hinterteil ... und ihre Liebe sang ein Klaglied dem Leib jenes schönen Männchens, ihrem Freudenspender. So wie sie jetzt dalag, schien sie auch den Blödsinnigen ungleich mehr als vorher zu interessieren ...

Eine solche Szene überstieg die Grenzen alles Grotesken oder Schrecklichen! Dieses Weib verlangte nach meinem Leib, in dem ich doch gar nicht drinnen war! Dieses Weib, das ich anbetete, war in ein Tier verliebt! Durfte ich das so ruhig hinnehmen? ... Ich wußte, wie das mit Mac-Bell gewesen war, daß Emmas Geilheit vor einem Wahnsinnigen nicht zurückschreckte! Und daß mein Leib, der athletischer war als der Doniphans, sie noch viel mehr erregen mußte! ...

Mein Zorn brach aus. Das war das erste Mal, daß ich meinem neuen wilden Fleische unterlag. Schnaubend und schäumend, in rasender Wut fegte ich über die Wiese hin und riß die Erde mit den Klauen und mit den Hörnern auf ... ich wollte töten, töten, töten, ganz egal, wen! ...

Von jenem Augenblick an waren all meine Träume vergiftet. Ich verabscheute den Leib, den man mir gestohlen hatte, ich war eifersüchtig auf ihn, und so oft Jupiter-Ich und Ich-Jupiter uns ansahen, jeder vor Heimweh nach seiner verwüsteten Hinterlassenschaft, überwältigte mich die Wut von neuem. Ich brüllte und brüllte — mit gehobenem Schwanz, Rauch an den Nüstern und vorgesenktem Kopf — und wollte töten, töten, töten, und wollte es mit soviel Wunsch als Wünsche im Frühling sind. Die Kühe wichen mir aus, soviel sie konnten. Alle Tiere im Garten hatten Angst vor dem wilden Stier. Und eines Tages kam Lerne vorüber und — nein wie der dann lief, lief was er nur Beine hatte! ...

Ich litt so sehr. Dahin die Freude an neuen Beobachtungen. Ekel und nur wieder Ekel vor meinem neuen Leibe. Ich verfiel zusehends. Das Futter verlor für mich alles Arom, das Wasser der Tränke alle Schmackhaftigkeit, und die Gesellschaft meiner Damen wurde mir entsetzlich. Und dann wandelten mich mählich frühere Gelüste an und äußerten sich recht sonderbar: ich wollte Fleisch essen, und dann ... und dann ... hätt ich so sehr gern wieder einmal eine... Zigarette geraucht! Unbezahlbar, wie? Anderes wieder war nicht so lächerlich. Ich schlotterte vor Furcht vor dem Laboratorium, sowie ein Gehilfe dem Weideplatz auf zehn Schritt nahekam, und die Angst, daß man mich nachts anbinden würde, raubte mir den Schlaf.

Und das war noch nicht alles. Ich war überzeugt, daß ich in diesem Wiederkäuerschädel wahnsinnig werden müßte. Ich hatte unbeschreibliche Wutanfälle zu erleiden. Und das immer häufiger. Und dazu kam noch Emma mit ihrem widerlichen Betragen.

Diese niedliche Promenadenmacherin umschlich pünktlich und beharrlich den Kiosk, und der Minotaurus wurde lüstern. — In solchen Augenblicken hatte er übrigens wahr und wahrhaftig das Aussehen eines Menschen: so sehr macht uns dieser Trieb den Tieren gleich!... Emma betrachtete mit viel Wohlgefallen dieses grausame Gesicht, darin nicht der leiseste Zug spielte, diese phosphoreszierenden Augen über den flammenden Backen, dieses im höchsten Grade gemeine Gesicht, das ich schon an wirklichen Menschen beobachtet hatte und das in die steinernste Jungfrau ein wenig warmes Begehren zu bringen vermöchte .... War's möglich, dies war die Maske, die die »Liebe« aufsetzte? Ach, nun durfte ich auch nicht mehr erstaunen, daß so viele Geliebtinnen unter den Küssen des »Gottes« die Augen schlossen! ...

Emma betrachtete also diese Grimasse mit sehr viel Wohlgefallen und sah nicht, wie Lerne, der sie belauerte, verächtlich dazu lachte.

Lachte. Aber als Philosoph lachte. Lachte, nur um nicht zu weinen. Mein Onkel litt sichtbarlich. Er schien eingesehen zu haben, daß ihn Emma niemals lieben würde. Er wachte und arbeitete.

Auf der Terrasse des Laboratoriums und auf dem Dach des Schlosses wurden Apparate aufgestellt, deren Handhabung er eifrig studierte. Da waren sehr charakteristische Spitzen montiert, und da in den beiden Häusern fortwährend Gebimmel erscholl, war ich der Meinung, daß man da Stationen von drahtloser Telegrafie und drahtloser Telefonie eingerichtet hatte.

Eines Morgens ließ Lerne auf dem Teich ein kleines Fahrzeug — ein Kindertorpedo — allerlei Evolutionen ausführen. — Er leitete es vom Ufer aus, vermittelst eines Apparates, der gleichfalls jene charakteristischen Spitzen montiert hatte. Telemechanisch. Nun war gewiß: Der Professor studierte die Wirkung in die Ferne. Die neue Methode zu seiner Interversion der Persönlichkeiten? ... Sehr wohl möglich.

Doch was ging das mich an? Daß ich aus all meiner Trübsal glücklich herauskommen würde, das hielt ich für einfach unmöglich. Ich würde diese zukünftige Entdeckung nie kennenlernen, noch all die Geheimnisse, die vergangenen, von meinem Onkel und seinen Mitarbeitern ....

Indem ich dennoch über alle die Mysterien nachdachte, wollte ich mich über die Schlaflosigkeit meiner Nächte und den Müßiggang meiner Tage hinwegtäuschen. Aber es waren vergebliche Anstrengungen. Es war wohl, weil mein Geist schwerfällig geworden war — ich konnte kaum Tatsachen, die ich soeben erzählte, im Kopfe behalten und aus nichts und nichts klug werden .... Ich behielt selbst die nicht, denen Lerne anscheinend höchste Bedeutung zumaß, und durch die ich auf eine Befreiung hätte hoffen können ....

Da — in der Mitte des September — kam plötzlich, gänzlich unvorhergesehen, meine Errettung — unter folgenden Umständen:

Seit einiger Zeit schon war die platonische Vertraulichkeit zwischen dem Minotaurus und Emma eine sozusagen ungestümere geworden. Sie betrachteten sich aus der Entfernung mit einer täglich zunehmenden Trunkenheit.

Das Monstrum, das sich nun in meinem Leibe eingelebt hatte, gestikulierte. Seine Pantomimen waren geil und so, wie Affen sich gebärden.

Emma sehreckten diese Orang-Utan-Galanterien durchaus nicht ab; und sie suchte nun mit Vorliebe Deckung in dem kleinen Lustwäldchen. Von da aus und von allen ungesehen — außer von jenem entsetzlichen Kerl, der mein Wesen wie ein Hanswurst parodierte — von da aus konnte sie sich in aller Freiheit mit ihm mit den Blicken paaren und von den rosigen Spitzen ihrer weißen Finger wie von einer minniglichen Schleudermaschine ihre Küsse zu ihm hinschießen und seine Flamme beschwören — mit Mummerei und falschem Schein wie Ballerinen. Ich sah wenigstens keine andern Erklärungen und Beteuerungen als nur solche ... Und sollten die genügen, um die Brunst des Viehs herauszukitzeln?

Oh, o ja. Und die Zote geschah.

Eines Nachmittags, da ich mich bemühte, meine Freundin durch die Büsche hindurch zu beobachten, wie sie den falschen Nicolas aufreizte, klirrten mit einemmal Fensterscheiben zu Boden. Der Minotaurus, der mit seiner Geduld zu Ende war, sprang durchs Fenster heraus. Und ohne auch nur im geringsten auf meine unglückliche Leiblichkeit acht zu haben, stürzte er dahin — stieß sich und ritzte sich an allem, wurde zerschunden und mit Blut bedeckt und brüllte fürchterlich.

Dann war mir, als ob Emma aufschrie und davonlaufen wollte. Aber da war das Ungetüm auch schon im Lustwäldchen.

Hinter mir hörte ich Leute laufen. Das Geklirr der Scheiben hatte Lerne und seine Gehilfen aus dem Laboratorium herausgetrieben, sie wurden das Entweichen gewahr und liefen nun nach dem fatalen Lustwäldchen.

Dummerweise machten die Gehilfen, die meine Nähe ahnten, einen Umweg um die Weide herum, um mir zu entgehen. Nur Lerne nahm den kürzesten Weg über den Stacheldraht und rannte über den Weideplatz — mit seinem von den Stacheln zerrissenen Überzieher. Aber ach! Er war alt und konnte nicht laufen .... So würden sie wohl alle vier erst hinkommen, wenn die Chose lang erledigt war .... Scheußlich! Scheußlich!

Nein! Das durfte nicht sein!

Ich lief auf den wackligen Zaun los und trat ihn nieder, wenn ich auch Kratzer abbekam ... und bohrte mir mit einem Satz Weg durchs Gehölz.

Das Bild, das sich dartat, war wert, daß man es bewunderte:

Durch das Laubgewölbe querher sprengte die Sonne ihren Lichtsamen auf das Unterholz aus. Da wo der Weg sich krümmte, lag Emma bleich und aufgeregt — mit reizend aufgeschlagenen zierlichen Unterkleidern. Sie ächzte vor Wollust, und ihr heiseres Wehklagen, das wie ein Miau klang, war mir zu sehr vertraut, als daß ich daraus nicht etwas wie das Schlußwort eines Kapitels Liebe gehört hätte. Vor ihr aber — aufrecht und erschrockener und verdutzter als je — stand der Abscheuliche und verbarg nichts von all seiner lächerlich aussehenden gesättigten Mannheit.

Doch hatte ich nicht lange Zeit, hinzusehen. Zwischen ihm und mir blitzten alle Sterne der Mitternacht. Ein Blutrausch schrie aus mir. Eine unbezähmbare Wut in mir schoß wie auf ein rotes Tuch los. Mit gesenkten Hörnern stieß ich auf etwas, das umfiel. Ich trat mit allen vier Beinen darauf. Und trampelte und trampelte und trampelte ...

Bis die Stimme meines Onkels keuchend rief:

»Lieber Freund, damit bringst du dich ja selber um! ...

Mein Wahnsinn verrauchte. Die Sterne verloschen. Ich sah plötzlich wieder:

Das schöne Mädchen, das gestillt war, saß auf der Erde da, blinzelte ins Licht und begriff nichts. Die Gehilfen, jeder hinter einem Baum, paßten auf mich auf. Lerne aber beugte sich über meinen einstigen nun ausgerenkten und wie toten Leib, hob ihm den Kopf auf — und da blutete es aus einem großen Loch.

Herrgott, Herrgott, ich — ich war so namenlos dumm gewesen, mich selber um die Ecke zu bringen!

Der Professor befühlte den Blessierten von allen Seiten und diagnostizierte dann:

»Ein Armbruch. Drei Rippenbrüche. Fraktur am Schlüsselbein und am linken Schienbein. Na, das alles würde ja wieder werden ... Aber was ihm das Horn da am Kopf einstieß, das ist ernst .... Hm! Ins Gehirn gedrungen. Futsch. Nichts mehr zu machen. In einer halben Stunde: finita la comedia! ...

Ich mußte mich an einen Baum lehnen, um nicht umzufallen. Mein Leib, das Land der Länder, mein Vaterland ging zuschanden. Es war aus mit ihm .... Für immer aus meiner einstigen Wohnung verbannt, hatte ich die erste Bedingung zu meiner Errettung zu einer Unmöglichkeit gemacht. Es war aus .... Hier konnte selbst Lerne nicht mehr helfen; er hat es selber gesagt .... Eine halbe Stunde! ... Das Horn ins Hirn eingedrungen! ... Aber ... aber ... aber ... dieses Gehirn ... Er konnte doch ...!

Im Gegenteil, im geraden Gegenteil — er konnte doch ...! Ich näherte mich Lerne. Es ging um Leben und Tod.

Mein Onkel sprach betrübt aufs junge Weib ein:

»Mußtest du dich in den da so verlieben, daß du ihn sogar noch in einer solchen miserablen Verfassung besitzen wolltest! ... Arme Emma! Ich muß schon gar nichts sein und an mir haben, daß man mir solche Ruinen noch vorzieht!

Emma weinte auf seine Hände.

»War das nötig!« wiederholte er und sah bald auf die Sünderin, bald auf den Sterbenden und bald auf mich. — »War das nötig! Mußte das sein! ...«

Ich aber tat schon seit einigen Augenblicken alle möglichen Kreuz- und Luftsprünge und gab einen Gesang von mir, ein Lied, das Worte sein sollten. Mein Onkel hörte mir zu. Ich sah nichts anders, als daß es hinter seiner Stirn stürmisch arbeitete wie hohlgehende See ... und ich verdoppelte meine Beschwörungen.

»Ja, jaja, ich begreife deinen Wunsch, mein lieber Nicolas, sagte mein Onkel. Du möchtest gerne dein Gehirn in deinen alten Leib zurückhaben, das wär dann die Rettung ... wie? ... Na, wollen mal sehen!«

»Retten Sie ihn, retten Sie ihn!« flehte die Ehebrecherin, die nur Lernes Wort aufgefangen hatte. »Retten Sie ihn! Und ich schwöre Ihnen, Frédéric, und ich schwöre Ihnen, daß ich ihn nie wieder lieb haben will.«

»Hör auf!« sagte Lerne. »Im Gegenteil, du wirst ihn von nun an lieben müssen, soviel du nur kannst. Ich verlange nichts mehr von dir. Ich kämpfe nicht länger gegen mein Schicksal an ...«

Er rief die Gehilfen herbei. Ein paar kurze Befehle. Karl und Wilhelm trugen den röchelnden Minotaurus. Johann lief, so eilig er konnte, voraus.

»Schnell! schnell!« sagte der Professor auf deutsch und fügte dann französisch hinzu: »Schnell! Nicolas, komm hinter uns her!«

Ich gehorchte. In lautem Jubel, daß ich wieder in meinen Leib eingehen sollte. In schrecklicher Angst, daß er etwa vor der Operation noch stürbe.

Die Operation gelang ganz und gar.

Aber da die Betäubung vor der dringenden Not nicht so sorgfältig ausgeführt werden konnte, erlebte ich unter dem Äther einen sehr instruktiven, aber äußerst schmerzensreichen Traum.

Mir träumte: Der Spaßvogel Lerne hätte mir anstatt meiner Leiblichkeit die der Emma verliehen! Welch ein Fegefeuer unter so lieblicher Form! Ich sehnte mich nach dem Stierleib zurück. Meine Seele füllte sich mit einmal mit nervösen Forderungen und hitzigen Instinkten an. Stärker als jeder Wille waren da auf einmal ein natürlicher Wunsch und ein Verlangen, ein Gelüste und eine Gier. Und ich fühlte, wie mein männlicher Geist sich gegen all das so weich und wollüstig als möglich auflehnte. Sicherlich hatte ich es mit einem exzeptionellen Temperament zu tun — dessen Liebe eine chronische Krankheit war ... indes, wenn ihr das gewöhnliche Verhalten der Männer und die Macht der Venus bei so vielen Frauen betrachtet, wieviel von euch, meine Brüder, würden wohl, wenn ihr das Geschlecht ändern und das Gehirn bewahren würdet, anständige Mädchen und nicht feile Dirnen werden? ...

Kann übrigens sein, daß der Äther ein schlechter Gynäkologe war und daß mich mein Traum genarrt hat. Es war nur ein Alp — eine Viertelsekunde lang — schwingend.

Abenddämmer, rote Schatten im Waschhaus. Ich kann, wie ich die Augen tief genug nach unten drehe, die Spitzen meines Schnurrbarts sehen.

Das war die Auferstehung des Nicolas Vermont.

Und zur selbigen Zeit Jupiters Ende. Sie sind grad dabei — da hinten —, jene schwarze Masse, in der ich wohnte, zu zerstückeln. Im Hof draußen streiten sich schon laut die Hunde um die ersten Klumpen, die ihnen Johann hingeschmissen hat ....

Mein gebrochenes Bein tut mir weh ... und das Schlüsselbein .... Also! Ich bin wieder im Rahmen, und das Bild heißt Schmerz.

Lerne wacht bei mir. Er ist aufgeräumt. Man sollte es wenigstens meinen. Hat sein Gewissen nun Ruh? Hat er nicht alles gesühnt, das er an mir übel getan? Durfte ich ihm noch grollen? ... Mir scheint, ich müßt ihm einigermaßen dankbar sein ....

Nichts sieht einer Wohltat so täuschend ähnlich als ein freiwilliges Wiedergutmachen eines begangenen Unrechts ....


12. Kapitel

Wirkung in der Ferne

Als schwarzer Stier hatte ich mir geschworen, sobald mir meine ursprüngliche Gestalt zurückgegeben würde, mit oder ohne Emma zu fliehen. Nun war der Herbst schon im Verscheiden, und ich war immer noch auf Fonval.

Ich erfuhr jetzt hier eine andere Behandlung.

Ich konnte von nun an über meine Zeit verfügen, wie mir beliebte. Der erste Gebrauch, den ich von meiner Freiheit machte, war, nach dem Beinhaus in jener Waldlichtung zu gehen und dort jede Spur von meinem einstigen Besuch zu verwischen. Ein gütiger Gott hatte es gewollt, daß während meines Tierdaseins auf der Weide keiner hieher gekommen war, keiner der Gehilfen meine Grabschändung bemerkt hatte. Entweder hatte man jetzt einen neuen Friedhof, oder mein Onkel vivisezierte keine niedern Tiere mehr, oder die Experimente in anima vili waren überhaupt aufgegeben worden.

(In Parenthese: ich konstatierte an jenem Tag etwas, was mir sehr das Herz erleichterte. Ich hatte gefürchtet, daß die Seele des unglücklichen Dr. Klotz wohl gleichfalls in irgendeinem Tier eingesperrt sei. Aber seine Hülle — denkt an jenes Baudelairesche Gedicht — widerlegte es. Das Gehirn des Toten, es war da und wies jetzt noch zahlreiche und tiefe Windungen auf. Der Zahl und der Tiefe der Windungen nach war's ein Menschengehirn, und so deutete das alles — Dank dem Himmel! — nur auf einen gemeinen einfachen Mord ....)

Ich sagte schon, daß ich jetzt über meine Zeit nach Belieben verfügen konnte.

Und ein liebevoller und reumütiger Lerne hatte während meiner Krankenzeit an meinem Kopfkissen gestanden. — Oh! Nicht der Lerne von einst, der lustige Kumpan meiner Tante Lidivina! Aber auch nicht mehr jener grausame, mörderische Wirt, vor dem einem der Atem stockte.

Als er mich wieder auf den Beinen sah, ließ er Emma kommen und sagte ihr in meiner Gegenwart, daß ich von einem Anfall von Schwachsinnigkeit geheilt sei und sie mich nun geradezu anbeten müßte:

— Was mich angeht, fuhr er fort zu sprechen, so verzichte ich auf Turnübungen, die zu meinem Alter nicht mehr recht passen. Emma, du hast das Zimmer neben dem meinigen nun für dich allein, das, in dem du all deinen Putz aufbewahrst. Ich bitt euch beide nur dies: verlaßt mich nicht. So jähes gänzliches Verlassensein würde den Kummer nur vermehren, den ihr leicht begreifen könnt, und der aber bald vergehen wird, der Kummer: denn meine Arbeit wird bald recht behalten ... Reg dich nicht auf, mein Töchterchen, den größten Nutzen von meiner Erfindung sollst du genießen. In diesem Sinn bleibt alles beim alten. Und Nicolas wird darum nicht weniger mein Teilhaber und in meinem Testament bedacht werden ... darum, daß er mit dir im Bett gelegen hat. — Liebt euch in Frieden!

Und als der Professor so gesprochen hatte, begab er sich wieder zu seinen elektrischen Maschinen.

Emma wunderte sich nicht im geringsten. Sie hatte vertrauensvoll und naiv die Tirade meines Onkels angehört und dabei in die Hände geklatscht. — Ich aber, als erfahrener Komödiant, ich hätte mir sagen sollen, daß er soviel Güte nur vortäuschte, um mich bei sich zu behalten — entweder weil er Enthüllungen von mir befürchtete oder weil er irgendein neues Vorhaben mit mir hatte. Aber durch die beiden Operationen, da hatten wohl mein Gedächtnis und meine Urteilskraft ein wenig gelitten ... »Warum«, sagte ich mir, »warum an diesem Menschen zweifeln, der mich ganz aus freien Stücken aus der übelsten, finstersten Lage befreite? Er harrt auf einem guten Wege aus! Alles ist zum besten.«

So begann ein Leben. Ein freundliches — und ein unmoralisches. Ein Leben voller Liebschaft und Freiheit bei uns — voller Arbeit und scheinbarer Entsagung bei ihm. Und wir waren — hüben wie drüben — diskret. Emma und ich in unsern Ergüssen, mein Onkel in seinem Verzicht.

So arbeitsam und umgänglich der Professor nun war — wer hätte da wohl an seine Blutopfer geglaubt? An die Falle, in die er mich gelockt hatte? An Klotz, den er ermordete? Und an Nelly-Mac-Bell, der nicht abließ, seine schrecklichen Klagen — so wie ich einst — zu den Wolken und Sternen zu senden?

Denn die Hündin war immer noch da! Und ich war sehr bestürzt, daß Lerne eine Rache so lange hindauern ließ, eine Rache, um die ihm doch nicht mehr ernst sein konnte, seit Emma ihm nicht mehr gehörte. . Ich beschloß, meinem Onkel meine Betroffenheit einzugestehen.

— Nicolas, antwortete er mir, du hast den Finger auf meine schlimmste Wunde gelegt. Aber wie das anstellen? ... Um all die Dinge wieder in die richtige Reihe zu bringen, ist es unbedingt nötig, daß der Körper Mac-Beils hieher zurückkommt ... Durch welche List könnte man den Vater bewegen, daß er den Sohn noch einmal herschickt? ... Denk nach. Hilf mir. Ich verspreche dir, sofort zu handeln — sowie einer von uns etwas Gutes ausgeheckt hat.

Diese Antwort nahm mir meine letzte Voreingenommenheit für ihn. Ich fragte mich nicht, warum sich Lerne über Nacht, ganz von heute auf morgen, so gewandelt hatte. Ich meinte nur, Lerne hätte sich etwas wie bekehrt und Buße gelobt. Und die andern Tugenden, die ihm jetzt noch abgingen, die würden zweifelsohne sämtlich wiederkommen, seine ganze Redlichkeit würde neu geboren werden und so evident sein wie seine Wissenschaft, die ihn nie im Stich gelassen ...

Seine Wissenschaft aber war schier unumschränkt. Davon konnte ich mich von Tag zu Tag mehr überzeugen. Wir hatten unsere Spaziergänge von früher wieder aufgenommen, und jedes kleinste Ding auf unsern Promenaden löste bei ihm eine Fülle gelehrten Wissens aus. Ein Blatt von einem Baum brachte die ganze Botanik her. Alle Lehre von den Insekten erscholl beim Anblick einer Assel. Ein Regentropfen — und ein Wolkenbruch chemischer Gelahrtheit ging hernieder. Bis wir so an der Waldgrenze ankamen, hatte ich jedesmal so viel aus Lernes Munde gehört, daß ich sofort meinen Doktor hätte machen können.

Und erst hier, an der Scheide zwischen Wald und Feld, hättet ihr ihn sehen müssen. Beim letzten Baum hielt er an — unerbittlich an —, stellte sich auf einen Grenzstein und hielt eine Dissertation über das Universum — vor der weiten Ebene und dem hohen Himmel. Und seine Schilderungen waren so genial, daß man meinte, die Natur entschleiere und öffne sich bis in das Herz der Erde, bis ans Ende der Welt. Seine Worte machten Hügel bersten, den Erdschoß sich auftun und gebären ... und unsichtbare Planeten erstrahlten dazu. Er wußte um den Dampf der Wolken und verriet den Ursprung des Nordwinds, beschwor prähistorische Landschaften und zauberte das Zukunftsbild der Gegend. Sinn und Gestalt erhielt das ganze unermeßliche Panorama, vom kleinsten Grashalm neben uns bis zum fernsten blauenden Horizont. Mit einem Wort, jedes Ding wurde definiert, enthüllt und kommentiert, und wie er mit ausholenden Bewegungen bald jenen Fluß, bald jenen Kirchturm beschrieb, schien sein Arm der Arm eines Gottes, und auf jeden Wink entzündeten sich da draußen lichte Feuer...

Unser Rückweg nach Fonval war dann meist etwas weniger wissenschaftlich. Da gab sich mein Onkel dann Spekulationen hin, die ihm, wie ich vermute, für meine Intelligenz zu verwickelt und zu hoch waren ... und summte dazu seinen Lieblingsrefrain, den er sicher von seinen deutschen Gehilfen hatte: »Rumfideldum fideldum«.

Und gleich nach unserer Ankunft eilte er jedesmal ins Laboratorium oder ins Treibhaus.

Oft auch fuhren wir per Automobil aus. Dann ritt mein Onkel ein anderes Steckenpferd. Dann reihte er mein Vehikel in die Kategorie der Lebewesen ein, erklärte die Tiere von heute, von gestern und von morgen ... und daß unter den Tieren von morgen gewiß der Automobilwagen seinen Platz einnehmen würde. Und die Weissagung endete immer mit einem Lobgedicht auf meinen Achtzigpferdigen.

Dann wollte er den Wagen steuern lernen. Das war nach einiger Zeit getan. Er steuerte fortan statt meiner, und das war mir recht, da meine Augen in der letzten Zeit, seit den beiden Operationen, nach ein wenig Anstrengung schon immer sehr müde wurden. Auch auf meinem linken Ohr hörte ich nicht mehr so fein als früher. Aber ich wollte Lerne nichts von allem sagen ... ich fürchtete, das würde dann seine Gewissensbisse, die ihn anscheinend quälten, noch um ein paar vermehren.

Es war nach einem dieser sportlichen Ausflüge. Ich säuberte meinen Wagen — ich mußte das immer selber besorgen —, da find ich zwischen der Rücklehne und dem Polstersitz meines Onkels ein kleines Notizbuch. Das ihm wohl aus der Tasche herausgefallen war. Ich steckte es ein, mit der Absicht, es ihm zu übergeben.

Aber da trieb mich die Neugierde an. Ich lief auf mein Zimmer — ohne den Professor vorher getroffen zu haben — und untersuchte den Fund.

Etwas wie ein Tagebuch. Voller Notizen. Und viele flüchtig hingeworfene Zeichnungen. Der Niederschlag eines emsigen Studiums, die Buchführung über Arbeiten im Laboratorium. Die Zeichnungen verstand ich nicht. Und der Text — der bestand aus viel mehr deutschen Worten als aus französischen. Ziemlich schleuderisch.

Ich begriff nichts von allem. Nur eine Eintragung von ganz zuletzt, die schien mir ein weniger chaotisches Stück Literatur zu sein und etwas wie ein Resümee all der voraufgegangenen Seiten. Ein paar französische Vokabeln und der Sinn, den sie ergaben — das erweckte in mir plötzlich wieder den unheilbaren Detektiv und Linguisten. Diese Substantive aber zwischen viel deutschen Ausdrücken lauteten so: 1 Transmission... Gedanke... Elektrizität... Gehirne... galvanische Säulen...

Mit Hilfe eines Wörterbuches, das ich im Zimmer meines Onkels stibitzte, entzifferte ich diese Quasi-Geheimschrift, in der sich zum Glück einige Ausdrücke recht oft wiederholten. Hier ist die Übersetzung. Ich gebe sie mit allen meinen Ungeschicktheiten wieder und mit all der Eile, die mich dabei antrieb, da ich ja das Notizbuch so schnell wie möglich zurückgeben mußte.

Schlussfolgerungen am 30.

Aufgabe: Vertauschung der Persönlichkeiten ohne Vertauschung der Gehirne.

Basis für alle Untersuchungen: frühere Experimente haben bewiesen, daß jeder Körper eine Seele besitzt. Denn Seele und Leben sind untrennbar voneinander, und alle Organismen haben zwischen ihrer Geburt und ihrem Sterben eine mehr oder weniger differenzierte Seele, je nachdem sie selber einen feineren oder primitiveren Organismus haben. So hat vom Menschen bis zu den Polypen und bis zum Moos herab jedes Lebewesen seine eigene Seele. (Schlafen die Pflanzen nicht? Atmen sie nicht? Und verdauen sie nicht? — Warum also sollten sie nicht auch denken können?)

Das beweist also, daß dort, wo kein Hirn ist, eine Seele ist.

Denn, Seele und Hirn sind unabhängig voneinander.

Mithin kann man die Seelen vertauschen, ohne daß man die Gehirne zu vertauschen braucht.

Transmissionsexperimente

Der Gedanke ist die Elektrizität, insofern als unser Gehirn die galvanische Säule ist (oder der Akkumulator — das weiß ich noch nicht genau; — aber das ist gewiß, daß sich die Transmissionen des geistigen Fluidums analog der Transmission des elektrischen Fluidums vollzieht). Experiment Nr. 4 beweist, daß sich der Gedanke mit einem Konduktor überträgt.

Experiment Nr. 10, daß er sich auch ohne Konduktoren, auf Ätherwellen übertragen lassen kann.

Die darauffolgenden Experimente indizieren den defekten Punkt, der dieser ist:

Eine Seele, die ich in einen Organismus expediere, ohne daß dieser davon weiß, eine solche Seele komprimiert sozusagen die Seele, die sie in dem Organismus vorfindet — jedoch ohne sie austreiben zu können. Und diese Seele, die ich expedierte — mit der ich in den Organismus wie in Feindesland einfiel und eroberte — die selber hält an ihrem früheren Organismus (an ihrer Heimat, an ihrem Vaterland) mit einer Art unerklärlichem geistigen Stiel (Wurzel!-Patriotismus? — Heimweh?) fest... so fest, daß bis zum heutigen Tage noch keine völlige endliche Abtrennung möglich war.

Stimmen die beiden Wesen aber gewissermaßen überein, mißglückt die reziproke Transmission aus dem gleichen Grund. Der hauptsächliche Teil der beiden Seelen installiert sich wohl im Organismus seines Partners, aber jener verdammte geistige Stiel verhindert die eine wie die andere, ganz und gar aus dem Leibe herauszugehen, von dem sie sich losreißen wollte.

Je simpler der empfängerische Organismus im Vergleich mit dem absenderischen Organismus ist, um so voller dringt dieser mit seiner Seele in jenen — leereren — ein, um so mehr Platz findet dieser in jenem — und um so dünner, schwankender und gebrechlicher wird dann jener Stiel, der noch im absenderischen Geist haftet — aber ist immerhin noch da.

Am 20. verschaffte ich mir geistigen Zutritt in Johann.

Am 22. inkarnierte ich mich in eine Katze.

Am 24. in eine Esche.

Der Zutritt war von Fall zu Fall leichter, die Invasion von Fall zu Fall kompletter, aber jener »Stiel« blieb.

Da dachte ich, daß das Experiment an einer Leiche gelingen müßte, weil da doch kein Fluidum ist, das meinem Eindringen von vornherein wehrt. Aber ich habe nicht bedacht, daß Seele und Tod unvereinbar miteinander sind und daß das Leben unzertrennlich dazu gehört. Das war nichts. Das war abscheulich.

Theoretisch ... was brauchte man, damit jener Stiel fortfiele? Einen empfängerischen Organismus, der gar keine Seele hätte (damit man die seinige ganz da einlogieren könnte) und der doch nicht tot wäre; anders ausgedrückt: »einen belebten Leib, der nie gelebt hat«. Das ist das Unmögliche.

Praktisch also müssen wir das Fortfallen des Stiels erreichen mit Hilfe von absenderischen Organismen, von denen ich keine Ahnung habe...

Nicht daß die Experimente dieser Periode kuriose Resultate ergeben hätten ... wir haben folgendes konstatiert:

1. Das menschliche Gehirn enthält sich in einer Pflanze fast total.

2. Von Mensch zu Mensch - bei gegenseitigem Einverständnis — gelingt der Austausch der Persönlichkeit sehr vollständig, abgesehen von jenem Stiel, jener wechselseitigen Verwurzelung, daß die Seelen wie eine Art Schwestern, daß die Geister ähnlich wie siamesische Zwillinge werden...

3. Von Mensch zu Mensch — ohne gegenseitiges Einverständnis — ermöglicht die Senkung der empfängerischen Seele (unter der Pression der andern) trotz der Unvollkommenheit des Verfahrens eine partielle und momentane Verkörperung durch das absenderische Individuum. Eine äußerst interessante Verkörperung... wobei ein Teil dessen schon erfüllt, was ich alles erfüllen werde, wenn ich mein Ziel erreiche.

Es scheint mir unerreichbar.

Darauf also gingen die allumfassenden Studien hinaus, die mir mein Onkel so leidenschaftlich verkündigte!

Die Theorie war verblüffend. Und ich hätte verblüfft sein sollen. Hier war eine Neigung zum Spiritualismus, die bei einem Materialisten wie Lerne höchst seltsam sein mußte. Die neue Doktrin präsentierte sich in phantasmagorischem Licht, daß sich viel Augen hinter gelehrten Brillen, blitzenden Kneifern und zwingenden Monokeln hätten groß aufsperren müssen. Aber ich — ich sah nicht sogleich allsoviel dadrin, ich war ein wenig krank zu jener Zeit. Ich sah kaum mehr, als daß ich nur ein deutsch-französisches Mene Mene Tekel Upharsin übersetzt hatte. Ich hielt mich an nicht viel mehr, als daß »ein belebtes Wesen, das nie gelebt hat« nicht existierte, und daß der Professor zweifelte, jemals den »Stiel« fortfallen machen können. Daß es ihm also mißlingen würde ... Bei seinen frühern Großtaten traute ich ihm alle Mirakel zu; und nur eins erstaunte und verblüffte mich: seine Ohnmacht.

Ich ging meinen Onkel suchen — ich wollte ihm sein Notizbuch bringen. Barbara, die ich traf — die Brust auf dem Bauch, den Bauch zwischen den Beinen — die sagte mir, daß Lerne im Park promeniere.

Ich konnte ihn nicht finden. Aber am Teichrand bemerkte ich Karl und Wilhelm, die einer Sache auf dem Wasser zusahen: Ich konnte die beiden Lümmel mit ihren ausgewechselten Gehirnen nicht ausstehen und mied sie, wo ich konnte; aber das Schauspiel, das sie am Ufer festhielt, zog auch mich an ... und ich ging zu ihnen hin.

Das, was sie da ansahen, das sprang und spritzte und sprühte diamantfarben immerzu aus dem Wasser auf — und war ein Karpfen. Das hüpfte, tanzte — rührte die Flossen und schwang sie wie Flügel. Grad als ob der Karpfen versuchte, auf- und davonzufliegen ...

Der Unglückliche! Er bemühte sich wirklich aus Leibeskräften! Das war der Fisch, dem Lerne die Seele einer Amsel eingegeben hatte. Der eingekapselte Vogel wollte mit seinem neuen schuppigen Leib nach alter Stimme des Bluts und seiner Rasse darbend nach Luft und Blau zum Himmel aufschnellen. Zum Schluß, nach einem letzten ganz und gar verzweifelten Sprung fiel er aufs Land heraus — mit klappenden Kiemen. Da hob ihn Wilhelm auf ... und die Gehilfen entfernten sich mit ihrem Fang. Auf dem Weg redeten sie ihn mit allerlei an und amüsierten sich recht wie Lausbuben über ihn. Sie pfiffen, wie eine Amsel pfeift, und dann schlugen sie unter lautem Lachen ein unbändiges Gewieher an — und ohne daß sie's wußten, gelang ihnen das Pferdetrompeten ungleich besser als das Vogelgeflöte ...

Ich blieb sinnend am Teich stehen: an dem flüssigen Gefängnis, darin ein Verhextes nach Aufflug und nach seinem Nestchen geschmachtet hatte ... Diese weite Wasserfläche, die das Tierchen so wild aufgepeitscht hatte, die war wohl noch nicht ganz wieder glatt — da war es schon tot ... Sein Martyrium endete wohl sogleich in einer Bratpfanne ... könnte man doch die Qual der andern Opfer nun auch endigen: der ausgebrochenen Tiere — und des armen Mac-Bell! ... Mac-Bell?... Oh! Mac-Bell! Wie den — wie ihn befreien?...

Eine letzte sanfte Welle — wie ein Schleier — und das Wasser war beruhigt und eingeschlafen. Unermeßlich tief spiegelte sich das Firmament in ihm. Und ganz zutiefst glomm der Abendstern auf, Millionen Meilen weit ... und doch genügte nur ein kleines in deinen Gedanken, und er schwamm auf der Oberfläche ... Und die vielgestaltigen Blätter der Seerose — die einen rund, gekrümmt die andern und wieder andere sichelförmig — waren die Monde in allen Phasen auf diesem Traumgewässer ...

»... Mac-Bell!« dachte ich wieder. »Mac-Bell!« ... Was tun? ... In diesem Augenblicke erklang fernher die Torglocke. — Sollte da zu dieser Stunde noch jemand ...? Ein Besuch ...? Hierher kam doch nie wer!...

Ich ging eilig ums Schloß herum und dachte zum erstenmal daran, was wohl mit Nicolas Vermont geschehen würde, wenn hierher auf Fonval einmal eine gerichtliche Haussuchung käme.

Hinter einer Ecke des Schlosses hervor spähte ich aus.

Lerne stand nah dem Tor und las ein Telegramm, das er soeben bekommen hatte. Ich trat aus meinem Versteck heraus.

— Da, Onkel, sagte ich, da ist ein Notizbuch. Ich denke, es gehört Ihnen ... Sie haben's im Automobil liegen lassen.

Da rauschten Röcke her und ich drehte mich um.

Emma kam auf uns zu. Leuchtend vor Abendsonne, aus der ihr Haar jeden Abend neuen Vorrat zu haben schien. Ein Lied wie eine Rose zwischen den Lippen. Kam. Und ihr schmiegsamer Gang war wie ein Tanz.

Die Glocke hatte auch sie herbeigelockt. Sie fragte, was für ein Telegramm das wäre.

Der Professor antwortete nicht.

— Oh, oh! Was gibt's! sagte sie. Mein Gott, was gibt's denn schon wieder?

— Ist's recht was Schlimmes, Onkel? fragte ich nun.

— Nein, antwortete Lerne. Doniphan ist tot! Das ist alles.

— Der arme Junge! — sagte Emma. Dann, nach einem Schweigen: Aber ist es nicht besser tot sein als wahnsinnig? Das war das beste für ihn ... Du, Nicolas, mach kein solches Gesicht — und komm ... komm!

Und sie nahm mich bei der Hand. Und führte mich aufs Schloß zu. Lerne ging anderswo hin.

Ich war wie vor den Kopf geschlagen.

— Laß mich! Laß mich! schrie ich plötzlich. Das ist zu schrecklich! Doniphan! ... Der Arme! ... Du weißt nichts, du kannst es nicht verstehn ... Aber so laß mich doch!

Ich war in fürchterlicher Aufregung. Riß mich von Emma los und lief Lerne nach. Sah ihn am Eingang zum Laboratorium stehn, mit Johann sprechen und Johann das Telegramm zeigen. Der Deutsche ging grad ins Haus, als ich beim Professor ankam.

— Onkel - Onkel! ... Sie haben ihm nichts gesagt, nicht wahr? ... Nichts! ... Nichts Johann gesagt? ...

— Doch. Warum?

— Oh! ... Er wird's den andern sagen! Er wird ihnen von Mac-Bells Tod erzählen ... und so wird's Nelly erfahren, Onkel! Sicher, sicher! Sie werden es ihr sagen ... Oh! So begreifen Sie mich doch endlich, Onkel: Die Seele von Doniphan wird erfahren, daß ihre menschliche Hülle nicht mehr ist! ... Und das darf nicht! Das darf nicht! Das darf nicht! ...

Mein Onkel aber sagte mit unerschütterlicher Ruhe:

— Absolut keine Gefahr, Nicolas. Glaub mir.

— Absolut keine Gefahr? Was wissen Sie davon? Diese Deutschen sind Strolche und Blutsauger; sie werden alles erzählen, glauben Sie mir! ... Ich beschwöre Sie, Onkel ... es ist ein Risiko ... die Zeit vergeht... lassen Sie mich hinein, ich bitte Sie! ... Bitte, bitte, gehen Sie da weg ... eine Sekunde ... um des Himmels willen ... Himmelsakrament noch mal!

Ich hatte von meiner Stierzeit profitiert. Ich stieß wie mit Hörnern aus. Mein Onkel saß platt im Gras und schimpfte. Mit einem Ruck war die Tür auf. Der ehrliche Johann, der dahinter Wache gestanden hatte, schlug mit blutender Nase hin. Und ich mitten im Hof! Fest entschlossen, koste es was es wolle, die Hündin an mich zu reißen und sie nie wieder herzugeben.

Die Meute stob auseinander und flüchtete in die Winkel. — Sofort ersah ich Nelly. Man hatte ihr einen eigenen Käfig gegeben. Ihr mächtiger ausgehungerter räudiger elender Leib lag lang hinterm Gitter ausgestreckt.

Ich rief:

— Doniphan!

Sie rührte sich nicht. — Viele Hundeaugen lauerten auf mich her. Einige Köter knurrten.

— Doniphan! ... Nelly! ...

Nichts.

Ich erfuhr die Wahrheit: Hier hatte der Tod gleichfalls eingeerntet ...

Ja. Nelly war kalt und starr. Eine Kette war ihr um den Nacken — man schien sie erdrosselt zu haben. Ich wollte mich vergewissern — da waren Lerne und Johann da.

— Mörder! schrie ich. Ihr habt ihn gemordet!

— Nein! Auf Ehre! Ich schwör's dir! erklärte mein Onkel. Man fand ihn heute morgen so, wie du ihn hier siehst.

— ... Sie meinen also, er hat sich ... er hat sich selber umgebracht? Schrecklich, schrecklich!

— Mag schon sein, sagte Lerne. Aber es gibt noch eine andere, wahrscheinlichere Schlußfolgerung. Ich meine, es war etwas anderes, was ihn mit der Kette erwürgte ... Dieser Leib da war sehr krank. Seit Tagen litt er — da war kein Zweifel mehr — an Tollwut... Ich verberge dir nichts, Nicolas, ich rechtfertige mich ganz und gar, du siehst ...

— Oh! stammelte ich. An der Wut! ...

Lerne folgerte mit größter Ruhe:

— Es ist aber auch möglich, daß wir da etwas nicht wissen. Man fand die Hündin um acht Uhr morgens — und da war sie noch warm. Der Tod war vor einer Stunde eingetreten ... Der Professor zeigte das Telegramm her.

»... und«, sagte er dann, »Mac-Bell ist heute Morgen um sieben Uhr — also genau in demselben Augenblick gestorben.«

— Woran? ... keuchte ich. Woran gestorben?

— Gleichfalls an der Tollwut.


13. Kapitel

Experimente oder Halluzinationen? ...

Emma, Lerne und ich sitzen nach dem Frühstück im kleinen Salon — da bekommt der Professor mit einemmal einen Ohnmachtsanfall.

Es war nicht das erste Mal. Ich hatte schon ein paarmal solche Störungen in der Gesundheit meines Onkels bemerkt. Aber es war so eigentümlich — und ich studierte diese Anfälle geradezu. Deshalb will ich hier davon sprechen. Ein zufällig und nur einmal Anwesender hätte diese Krisen geistiger Überanstrengung zugeschrieben. Und in der Tat: Mein Onkel arbeitete ja über alle Maßen. Das Laboratorium, das Treibhaus und das Schloß genügten ihm nicht mehr. Auch der Park mußte herhalten. In dieser Zeit starrte ganz Fonval von kompliziertem Gestänge, Sparren, Mastwerk, ungewöhnlichen Telegraphen. Und da einige Bäume die Experimente störten, wurde eine ganze Gesellschaft von Holzfällern aufgeboten. — Nur die Freude, daß auf dem Gut nun wieder der frühere freiere Verkehr war, konnte mich über das Sakrileg an den alten Baumheiligen trösten. — Die ganze Kasserolle, die Fonval hieß, war zum Atelier geworden ... und der Professor lief hin und her, fieberisch, von einem Gebäude zum ändern, von dieser Maschine zu jener, alles Vorrichtungen, die jenen fatalen »Stiel« doch endlich fortfallen machen sollten. Zuweilen aber fiel ihn jene Schwäche an. Und immer dann, wenn er gerade sehr angestrengt nachdachte und irgendein Ding grad recht mit den Augen fixierte — immer mitten in angestrengtester Gehirnarbeit. Da wurde er bleich und bleicher ... bis ihm dann die Farbe ganz von selber wieder ins Gesicht zurückkam. Aber nach solchen Krisen war er todmüde. All seine Zuversicht war jedesmal dahin, und einmal hörte ich ihn gänzlich niedergeschlagen sagen: »Ich werde es nie ... nie ... nie ...« Oft schon wollte ich ihn darum anreden. Heute wollte ich es ganz bestimmt.

Wir sind also grade beim Kaffee. Lerne sitzt in einem Lehnstuhl vorm Fenster und hält seine Tasse in der Hand. Die Unterhaltung gerät ins Stocken; immer mehr. Hört ganz auf. Verlischt. Stirbt. Wie ein Feuer stirbt.

Die Uhr schlägt. Die Holzfäller gehen draußen vorüber. An die Arbeit. Die Äxte geschultert. Wohin geht der Zug dieser Liktoren?

Wer von meinen alten Kameraden fällt heute unter dem Beil? Jene Buche? Oder jener Kastanienbaum? Ich kann sie durchs Fenster sehen. Wie sie dastehn. Rostrot von Herbst. Kupfern. — Die Fichten sind um so viel dunkler geworden ... Blätter fallen wie an Fallschirmen. Es weht kein Wind. — Jene riesige Pappel ragt mit ihrem greisen Gipfel über alles. Ich kenne sie von jeher. Der Anblick weckt Erinnerungen aus meiner Kinderzeit.

Da fliegt ein Schwarm Vögel schreckhaft aus ihr auf. Zwei Raben fliehn krächzend. Ein Eichhörnchen von Ast zu Ast und schwingt sich auf den benachbarten Nußbaum. Irgendein übles Tier, das da im Baum kletterte, muß sie alle erschreckt haben. Ich kann aber nicht sehen, was. Gebüsch verbirgt mir die ganze untere Partie der Pappel. Aber ich war überaus überrascht zu sehen, wie der Baum von oben bis unten auf einmal erschauerte, von einem oder zwei Stößen erschüttert wurde und langsam mit den Zweigen schwankte. Als ob ein Wind aufgestanden wäre, der nur für diesen Baum allein wehte.

Und ich dachte an die Holzfäller und wollte mir nicht klarwerden, was für eine Rolle die wohl bei dieser Sache spielen könnten.

»Sollte mein Onkel«, sagte ich mir, »ihnen die Hinrichtung dieses Pappelbaums, des ehrwürdigen Greises, des Königs auf Fonval anbefohlen haben? Nein, nein, das war denn doch zu arg!« Und ich wollte Lerne darüber befragen und drehte mich zu ihm um und sah da, daß er seinen Anfall hatte.

Unbeweglich, bleich und mit starr ausgerichtetem Blick saß er ... und daran erkannte ich, daß es sein altes Übel war. Dann aber erfuhr ich, was er mit einer somnambulen Beharrlichkeit mit den Augen zwang und beherrschte. Der Pappelbaum war es — der liebe alte — und der mit einemmal ganz so gräßlich aussah wie jene Dattelpalmen im Treibhaus, von denen ich nicht wußte, ob sie geifernd oder geil waren, ob sie sich im Kampf oder in Liebe hatten ... Und an Lernes Notizbuch mußte ich denken. War da nicht — zwischen der Abwesenheit dieses Menschen und dem Leben in jenem Baum ein grauenhafter Zusammenhang? ...

Plötzlich klang etwas, wie ein Beil gegen Holz klingt. Der Pappelbaum schwankte, neigte sich ... und mein Onkel sprang in die Höhe, daß seine Tasse zu Boden klirrte, und während ihm seine Gesichtsfarbe zurückkam, rieb er sich das Schienbein, als ob das Beil den Menschen und den Baum — alle beide getroffen hätte. Nach und nach erholte sich Lerne wieder. Ich tat, als hätte ich nichts als seinen Anfall gemerkt, und sagte ihm, daß er sich schonen müsse, diese häufigen Krisen würden ihn zuletzt schwer krank machen. »Wußte er wenigstens den Ursprung davon?«

Jaja, nickte mein Onkel. Emma bemühte sich um ihn.

— Ich weiß, ich weiß, sagte er endlich ... Herzklopfen ... Ohnmacht ... ich behandele die Sache doch mit einem herzstärkenden Mittel ...

Nein, nein! der Professor behandelte die Sache nicht. Er ging vielmehr schauderhaft mit seiner Gesundheit um. Seine Haut war ihm ein Arbeitskittel, nichts weiter ...

Emma riet ihm:

— Wenn Sie an die frische Luft gingen? Das würde Ihnen guttun.

Er ging. Wir sahen ihn pfeiferauchend auf die Pappel lossteuern. Axthiebe schallten her. Der Baum neigte sich, fiel ... Der Onkel, der keinen Schritt zur Seite getreten war, wurde von den Zweigen gepeitscht.

Nun war Fonval ohne seinen natürlichen Campanile mit einemmal so platt ... es war etwas aus dem Himmel gerissen ... ich suchte die Stelle, wo der Baum war ... vergessen ... maß seine Höhe ... nur mehr eine Legende ...

Lerne trat wieder ein. Er ahnte nicht einmal, daß er eine Unklugheit begangen hatte. Seine Unbesonnenheit machte einen schaudern, wenn man dachte, was für verzweifelte Experimente er ausführte, wie jene Seelentransfusionen, von denen das Notizbuch erzählte.

War das so etwas, dem ich soeben beigewohnt hatte? — Ich grübelte mit einer Art Ahnung und Besorgnis darüber nach. Mit so gemischten Gefühlen, als wie ich sie nur auf Fonval hatte. Spießrutenlaufen im Finstern ... — War zwischen Lernes Herzschwäche und der Unruhe des Baums eine Koinzidenz? Welches Geheimnisvolle verband sie im Augenblick jener Axthiebe? ... Gewiß, gewiß — die bloße Ankunft der Holzfäller konnte schuld an der eiligen Flucht der Vögel gewesen sein ... Und was jenes Schütteln anging, so konnte es davon herrühren, daß der Holzfäller auf den Baum klettern mußte, um das obligate Seil anzulegen ...

Ich stand — wieder einmal — vor einem Kreuzweg. Welche Straße war die richtige? ... Ich war nicht scharfsinnig genug. Litt immer noch von den beiden Operationen her. Und war zudem noch von einer intensiven Liebe beherrscht, die ich mit Emma trieb und die Lerne begünstigte. Woher da Spannkraft? Die Wollust war mir Gift. Ich konnte nicht mehr sein ohne Emma, so wie ein Opiumraucher nicht ohne seine Pfeife oder ein Morphinist nicht ohne seine Spritze. (Ich bitte um Entschuldigung. Es ist unanständig, so zu vergleichen. Aber es ist — richtig.) Ich war schon so kühn geworden, daß ich Emma oft sogar in ihrem Zimmer besuchte und mir holte, was ich brauchte. Da hatte uns Lerne eines Abends überrascht, und am andern Morgen benutzte er die Gelegenheit, uns den Wortlaut unseres Kontraktes zu wiederholen: »Absolute Freiheit, euch zu lieben, unter der Bedingung, mir nicht zu entfliehen. Sonst darf keines von mir etwas hoffen.« Und dies sagte er besonders zu Emma, weil er genau wußte, was das für sie bedeutete.

Es ist erstaunlich und mehr als das, daß ich einen solchen schmählichen Vertrag eingegangen war ... Aber ein Weib kann mehr als der größte Hexenmeister: ein heimlicher Blick, ein Rühren in den Hüften, und wir sind in unserer Persönlichkeit intimer und radikaler transformiert, von jenem fatalen »Stiel« nicht zu reden, als es der größte Magier vermöchte. Was war Lerne gegen Emma?

Emma! ... Ich hatte sie in allen Nächten. Trotz der Nähe des Gelehrten. Er schlief Wand an Wand mit uns. Konnte uns hören, wie er wollte. Konnte uns sogar durchs Schlüsselloch sehen ... Gott sei mir Sünder gnädig! Aber das war mir ein Anreiz mehr, eine lasterhafte Würze zu unserm orgiastischen Abendmahl!

Soll ich erzählen, was für ein Schmaus das war? Und wie köstlicher er von Nacht zu Nacht wurde? ...

Emma war — unbefangen. Die wußte die alten starren Vorbilder solcher Feste in immer neue Riten und nicht selten sogar in Travestien einzukleiden — sozusagen. Sie machte in immer wieder anderer Art die Honneurs ... wurde dabei aber niemals herkömmlich, nachtreterisch, numeriert und katalogisiert, sondern war, ich weiß nicht, wie sie das machte — und sie selber wußte es wohl auch nicht, immer und durchaus originell. Ach, wie vielseitig war sie doch, aus nichts als Instinkt, bald tyrannisch fordernd, bald nachgiebig gelehrig. Ihr Leib steckte voller List und voller Lustigkeit. Und war auf das höchste und herrlichste wandelbar. Wenn er in der Aktion, in der natürlichen Geste oft der einer zügellosen Kurtisane schien, erfüllte ihn im nächsten Augenblick schon wieder eine keusche Anmut oder er lag gleich darauf unbeweglich wie ein sehr junges unschuldiges Mädchen, das gradeben aufgeblüht ist. O du — mit deinem bräutlichen Leib und deinen seltsam kindhaften Blößen! ...

Ich schätzte diese Liebe über alles. War unersättlich. Bewies hundertmal, was mir der Leib war. Und wenn's dann doch geschah, daß ich mit einemmal lieber hungerte als tafelte, müssen unwiderlegliche Gründe mitgespielt haben.

Es war bei folgender Scheußlichkeit. Die ich, wenn ich den Inhalt jenes Notizbuchs nicht gekannt hätte, zweifellos meinem nervösen Zustand zugeschrieben haben würde: »eine Folge der beiden Operationen« ... und wobei ich dann fort und fort ein widerliches Spielzeug Lernes gewesen wäre. — Glücklicherweise aber durchschaute ich die Taktik Lernes auf den ersten Blick.

Eines Abends. Ich will vom Erdgeschoß aus nach oben und von meinem Zimmer in das Zimmer Emmas. Da hör ich überm Speisesaal im Zimmer meines Onkels einen Stuhl rücken. Zu so später Stunde war Lerne sonst schon immer zur Ruh, aber das sollte mich wenig kümmern. Ich trat also deshalb absolut nicht leiser auf ... ich wollte ja zu nicht Unerlaubtem, ich war ja gewissermaßen autorisiert.

Emma machte sich die Haare zur Nacht. In die koketten Parfüms ihres Zimmers mischte sich jener Geruch angebrannten Papiers, daran man die Hitze des Brenneisens erprobt. Wie Höllengeruch unter die himmlischen Gerüche eines Mädchens im Unterröckchen ...

Nebenan war's ganz still. In übergroßer Vorsicht riegelte ich die Türe zu Lerne von innen ab. Wir brauchten also nicht die geringste Angst zu haben, daß Lerne etwa hereinkäme. Was ja weiter gar nicht gefährlich, nur ein bißchen inopportun gewesen wäre ... Durchs Schlüsselloch: alles dunkel. Nie noch hatte ich soviel Umstände gemacht, soviel Vorsichtsmaßregeln getroffen.

Mit wogendem Busen zog mich Emma, ganz seiden von Musselin und noch mehr von Fleisch, zum Bett hin.

Auf dem Kamin brannten zwei helle Lampen. Das Auge will auch was haben! Es ist nur billig, daß bei diesem Spiel ein jeder unserer Sinne teil habe — bei diesem Spiel, zu dem uns die gütige Natur ausnahmsweise einen sechsten Sinn verlieh.

Wir entzündeten uns aneinander, entflammten uns. Mit ihr, mit Emma wurde die Divina comedia zu einem Intrigenstück. Nichts fehlte: Prolog, Peripetie, Theatercoups, Lösung des Knotens. Und es war ganz wie in einem jener brillanten Stücke, in denen es immer kommt, wie man sich's wünscht — und doch anders.

Erst sollte ich Emma schön tun...

Dann, als sie meinte, daß nun des Vorspiels genug wäre, wurde sie heroisch und stieg sozusagen aufs hohe Roß ... es sollte ein phantastischer Brautritt werden.

Und unter diesem Walkürenritt geschah das Furchtbare, Grausige.

Statt daß ich die Sprossen der Wollust bis zum Paroxysmus hinanstieg, war mir's im Gegenteil, als ob ich die Leiter herabglitt — die Lust nahm in dem Maße ab, in dem sie zunehmen sollte. Ich hielt mich tapfer; mein Fleisch wurde immer wütender und stärker — aber je schöner das wurde, desto weniger Befriedigung verspürte ich ... Dieses armselige Resultat beunruhigte mich. Erst in hohem Grade. Aber — seltsam — dann immer weniger ... Aufhalten, aufhalten! Pfffttt! Ja prosit! Mein Wille war soviel als null. Ich fühlte, meine Körperkräfte nahmen ständig zu. Und meine Seele, die wie zwergenhaft geworden war, war ohnmächtig, meine Muskeln zu regieren, noch hatte sie selber irgendwelchen Genuß von all den Manövern. Mein Leib ging nach Belieben mit mir um ... und ich sah nur noch, daß Emma glänzte vor Glück.

Als ob eine fremde Seele in der meinigen Platz gegriffen hätte. Und sich auf meine Kosten regalierte. Mein eigenes »Ich« war in einen Winkel meines Hirns zurückgetrieben — ein anderer betrog mich mit meiner Geliebten — und meine Geliebte selber wurde auch betrogen! ...

Solche Reflexionen bewegten — mikroskopisch klein — meine zwergenkleine Seele. Im höchsten Augenblick der Lust war mir, als ob sie ganz und gar nicht mehr da wäre.

Dann zog sie wieder ein und nahm wieder Besitz von allem. Und auch meine Gedanken kamen mir wieder. Ich fühlte die große, gute Mattigkeit, den Nachtrab des Eros, in meinen Gliedern — und einen Krampf in der rechten Wade. Auf meiner Schulter ruhte der Kopf Emmas — in süßer Ohnmacht ...

Ich war wieder bei mir. Nur meine Augen waren noch starr auf einen Punkt gerichtet — wie in all diesen scheußlichen Minuten — auf das Schlüsselloch zum Zimmer Lernes. Selbst jetzt konnte ich den Blick noch nicht fortwenden.

Doch — jetzt, jetzt konnte ich's ... Hinter der Tür meines Onkels rückte ein Stuhl. Ein Geräusch, wie wenn einer von einem Sessel aufsteht und auf den Zehenspitzen davonschleicht ... — Das Schlüsselloch war wie ein kleines Fenster, dahinter alles Geheimnis steht...

Emma seufzt:

— Du warst — ein einziges Mal ausgenommen — noch nie so stark, Nicolas ...

Ich lief davon. Ohne ein Wort.

Jetzt sah ich klar. Hatte mir der Professor nicht gesagt: »Ich hab daran gedacht, mir deinen Leib zu leihen und mich an deiner statt liebhaben zu lassen?« Wie er sich damals beeilte, meinen Körper zu retten — was er in einem Notizbuch aufgeschrieben trug — und die Geschichte mit der Pappel: jetzt sah ich klar. Lernes Ohnmachten sahen ganz so aus, als ob's Experimente wären. Als ob er in einer Art Hypnose seine Seele da in fremde Gegenstände hineinversetzen würde. Das Aug am Schlüsselloch, hatte er sein »Ich« in mein Gehirn hineinprojiziert. Seine halbvollendete Entdeckung erlaubte ihm das! Jene unwahrscheinliche Entdeckung von der Welt! ... — Nun wird man mir sagen: daß ich falsch raisonierte. Aber auf Fonval, wo die Inkohärenz die Regel bildet, hat eine Erklärung von etwas um so mehr Chancen, je absurder sie ist!

Oh, oh! Jenes Auge Lernes am Schlüsselloch! Es war allmächtig! Es sah auf mich und verfolgte mich wie Jehovahs Blick aus dem dreieckigen Judas den Kain verfolgt!...

Scherz beiseite. Ich hatte die neue Gefahr erkannt. Nun galt es, ihr zu entgehen. Und da war nur ein möglicher Ausweg: die Flucht. Die Flucht mit Emma wohlverstanden — — Emma sollte um keinen Preis der Welt bei meinem Onkel bleiben ...

Aber Emma war keine von denen, die man ohne ihren Willen fortschaffen kann. Lerne hatte ihr Reichtümer über Reichtümer versprochen. Und die Arme glaubte an das scheußlich modernisierte Ammenmärchen. Die dachte nur an zukünftigen Prunk! Die war albern und geil. Wenn ich die mithaben wollte, mußte sie erst die Versicherung haben, daß sie darum keinen Pfennig verlieren würde ... Und die Versicherung konnte ihr nur Lerne selber geben ...

Es handelte sich also darum, die Zustimmung Lernes zu erwirken!... Und dazu mußte ich Erpresserkünste spielen lassen. Lerne war der Mörder Mac-Bells, das war's! Lerne war der Mörder des Dr. Klotz, ei ja! Ich mußte meinem Onkel Daumenschrauben aufsetzen, daß er zu Emma sprach, so wie ich wollte ... Dann konnte ich meine Freundin von hier fortnehmen!

Nur so ging's, nur so! Mein Plan stand bis in die Einzelheiten fest.


14. Kapitel

Der Tod und die Maske

Und doch wurde der Plan niemals ausgeführt.

Nicht daß ich zag gewesen wäre. Ich war jederzeit fest entschlossen. Und als mir Zweifel an der Existenz der Gefahr aufstiegen, war das zu einer Zeit, da meine Pläne schon nicht mehr realisierbar waren. Aber solange sie's waren, wartete ich mit heftigster Ungeduld auf die erste beste Gelegenheit, die sich gäbe, und diese Hast, mit der ich alles enden wollte, förderte ehrlich gestanden sogar noch meine Angst...

Überall, überall witterte ich Gefahr. Oft und zumeist da, wo's gar nichts zu befürchten gab. — Emma verbrachte die Nächte in meinem Zimmer. Alle Schlüsselritzen, jede kleinste Spalte, durch die der fürchterliche »Seher« mit seinen Augen hätte hereinschauen können, wurden verstopft. Und trotzdem der Ort nun absolut verteidigt war, beklagte sich Emma über meine Kälte, ich getraute mich nicht mehr. Und als ich's doch wieder einmal wagte, überfiel sie ihre seltsame Ohnmacht nach der Leidenschaft um viel früher als gewöhnlich; heute will mir freilich scheinen, daß es war, weil sie so lange gefastet hatte — damals aber vermutete ich hinter dieser allzu schnellen Abwesenheit einen neuen schlimmen Streich: konnte in Emma in jenen Augenblicken nicht eine fremde Seele sein? ... Und das Grauen, in der schönen Hülle meiner Freundin etwa dem Sadismus des alten Lerne genug getan zu haben, machte mich für immer ihre Umarmungen scheuen. — Dem Onkel, dem konnte ich nicht einmal mehr in die Augen sehen. Ich ging schreckerfüllt mit gesenktem Blick und mied die Blicke aller andern, sogar die der Porträts, deren Augen uns überall hin zu verfolgen scheinen. Ein Nichts machte mich zusammenfahren. Ich fürchtete mich vor jedem Tier, das einen weißen Kopf hatte, vor jeder Pflanze, die im Wind schwankte, vor jeder Stimme eines Vogels in einem Baum ...

Man sieht also: es war höchste Zeit, daß ich von hier fort kam — und daß ich mit allen Kräften danach strebte! Aber ich wollte doch den Moment abwarten, in dem mich Lerne willig anhören würde und da ich meine Drohung dann recht sehr ausnützen könnte. Und dieser Moment ... der kam nicht. Die Entdeckung nämlich wollte nicht kommen. Der Mißerfolg unterminierte den Professor. Seine Ohnmachtsanfälle — vielmehr: seine Experimente — häuften sich und ließen ihn rapid von Kräften kommen. Und das beeinflußte seine Stimmungen sehr übel.

Einzig auf unseren Spaziergängen lebte er auf. Da sang er dann immer noch sein »Rumfideldum« und blieb alle zehn Schritt weit stehen und ließ eine wissenschaftliche Betrachtung vom Stapel. Am allermeisten bezauberte das Automobil den Zauberer.

Ich mußte daran denken, daß ich vor Monaten auf dem Automobil schon einmal eine rasende Dummheit begangen hatte, und trotzdem wollte ich es ein zweites Mal nun auf einem Ausflug auf dem Achtzigpferdigen versuchen.

Und ich hätt's getan, wenn ... Ja, wenn!

Es war im Wald von Loureq. Drei Kilometer vor Grey. Auf dem Rückzug nach Fonval von einem Ausflug gegen Bouziers.

Wir nahmen einen leichten Hügel. In voller Fahrt. Lerne lenkte. Ich ging meine Rede durch und wiederholte mir wohl zum hundertstenmal die langher vorbereiteten Sätze. Wie von Fieber trocknete mir der Mund aus. Seit Anfang der Fahrt hatte ich immer und immer wieder die erste bündige Silbe zurückgeschluckt, die die Erpressung einleiten sollte. Vor jeder Dorf- und jeder Wegbiegung hatte ich mir vorgenommen: »Jetzt!« Aber da kamen wir nun schon all die Nester und Krümmungen zurück — und ich hatte noch keinen Laut getan. Kaum zehn Minuten noch. Da! Auf der Höhe des Hügels eröffne ich das Feuer! Das ist die Gnadenfrist!...

Die erste Phrase stak schon im Lauf und wartete nur, abgedrückt zu werden, da wich der Wagen mit einemmal unheimlich nach rechts aus und schleuderte nach links — Herrgott, wir werfen um! Im selben Augenblick hab ich die Führung und bremse mit Händen und Füßen ... Und der Wagen hält — just auf der Höhe.

Dann seh ich Lerne an.

Er sitzt zusammengesunken. Der Kopf fällt ihm vornüber. Die Augen hinter den Brillen sind stier. Der eine Arm hängt schlaff herab. — Eine Ohnmacht! Das hätte schön werden können!... Aber diesmal — sind's diesmal nicht wirkliche Herzkrämpfe? Was faselte ich doch immer von Experimenten!...

Er will nicht wieder zu sich kommen. Ich nehm ihm die Brille ab. Das kahle Gesicht ist wächsern. Die Hände — ich hab ihm die Handschuhe ausgezogen — gleichfalls wie Wachs. Ich nehm seine Hände — was versteh ich von Ärztekunst — und klatsche mit ihnen, wie man es bei Schauspielerinnen macht, die Lampenfieber haben.

Der Applaus schallt in die ländliche Stille. Sonor und unheimlich — zum Exit des großen Komödianten.

Frédéric Lerne ist nicht mehr. Seine Hände sind kalt, seine Backen ganz fahl, sein Blick ohne Seele, sein Herz stand still. Er war seinem Herzübel, an das ich nicht glauben wollte, erlegen. Wie Herzkranke sterben: ohne Laut.

Ich war erschüttert. Eben die Gefahr mit dem Wagen und nun der Tod in Person ... das war zuviel ... Eine Sekunde, und von allem Lerne verblieb nichts als ein Fraß für Würmer und nichts als ein Name, um ihn zu vergessen. Nichts weiter. Und trotzdem ich diesen Schädling so sehr haßte und mich nun von ihm befreit wußte — die Behendigkeit des Todes, mit der diese ungeheuerliche Intelligenz eskamotiert wurde, konnte vorerst nichts, als mich maßlos entsetzen.

Wie eine Figur aus dem Puppenspiel, die nun tot zu sein hat, lag Lerne in dieser Landschaft, die wie gemalt war. Und der Tod puderte ihm das Pierrotantlitz.

In dem Maße aber, als der Geist ins Unendliche entwich, schien sich die irdische Hülle meines Onkels zu verschönen. Ich sah dem Wunder auf Lernes Zügen zu. Licht, selig licht wurde es ihm um die Stirn — als ob sein Leben eine Wolke gewesen wäre — vor irgendeiner Sonne, die nun hervortrat. Sein Gesicht wurde marmorn weiß — und das Ganze war hinfort keine Puppe mehr, sondern eine Statue.

Die Augen wurden mir naß. Nun wußte ich's. Wär mein Onkel heut vor fünfzehn Jahren in all seinem Glück und all seiner Weisheit gestorben, er hätte nicht schöner ausgesehen als jetzt ...

Aber ich darf nicht länger träumen. Dieses Tête-à-tête auf einer belebten Straße mit einer Leiche muß aus sein. Ich faßte ihn beherzt an und setzte ihn auf den linken Wagensitz. Band ihn mit ein paar Riemen fest. Und nachdem ich ihm die Handschuhe wieder angezogen, seine Kopfbedeckung und die Brillen wieder aufgesetzt und ihm sein Halstuch neu umgebunden hatte, schien er eingeschlafen und nichts weiter.

So fuhren wir.

Keinem in Grey fiel die Steifigkeit meines Nachbarn auf — und ich brachte ihn sachte bis Fonval. Und viel Ehrfurcht fühlte ich für den verstorbenen Gelehrten und zugleich manch Mitleiden für den alten Verliebten, der soviel gelitten hatte. Ich hatte über dem Ende alles vergessen, was vorhergegangen war. Fürchtete ihn auch nicht mehr und verachtete und haßte ihn auch nicht mehr im geringsten.

Seit unserem Renkontre im Labyrinth, am Morgen meiner Ankunft, hatte ich nie wieder mit den Deutschen gesprochen. — Ich ging also zu ihnen ins Laboratorium, nachdem ich das Automobil mitsamt seinem geisternden Chauffeur unter der Aufsicht der Magd am Schloßeingang gelassen hatte.

Ich gestikulierte — die Gehilfen verstanden sofort, daß etwas Außerordentliches geschehen sein müßte, und folgten mir. Mit ihren Armesündergesichtern, die beim Geringsten Unheil wittern. Als sie sahen, was sie betroffen hatte, verbargen sie auch gar nicht, daß ihnen das ein schlimmer Strich durch die Rechnung war, und waren ersichtlich voller Angst. Sie redeten sehr erregt aufeinander ein. Johann behielt recht, die andern zwei wurden sehr unterwürfig. — Ich wartete, was sie tun würden.

Da halfen sie mir den Professor in sein Zimmer bringen und auf sein Bett legen. Emma kam, schrie auf und lief davon. Dann gingen die Deutschen ohne jede Förmlichkeit, und Barbara und ich blieben allein beim Onkel. Die dicke Magd vergoß einige Tränen. Zu Ehren und angesichts des Todes, wie ich vermutete. Und nicht für die Manen ihres verflossenen Gebieters. Sie betrachtete ihn — in ihrer ganzen Leibesfülle. Lernes Nase wurde spitz, die Nägel liefen blau an.

Schweigen.

— Wir müssen ihn schön machen, sagte ich plötzlich.

— Lassen Sie mir das, antwortete Barbara. Das ist keine Arbeit für Sie, und ich versteh mich drauf.

Und ich verließ den Toten. Barbara war ein Dorfmütterchen. Die sind alle ein wenig Hebamme und Leichenfrau. Bald nachher kam sie und sagte:

Fertig. Und schön geworden. Fehlt nichts als das Weihwasser und die Orden, die ich nicht finde ...

Lerne war so weiß auf seinem weißen Bett. Und all das Weiße floß ineinander, und es war wie ein alabasterner Sarkophag mit dem Bildnis eines Toten — aus einem Block gehauen. Der Onkel: rührend lieb frisiert; in seinem Plisseehemd; mit der weißen Krawatte. Die Hände, so bleich!, gefaltet — und hielten einen Rosenkranz. Ein Kruzifix erglänzte auf der Hemdbrust. Knie und Füße hoben sich unter dem Linnen ab — wie ferne Schneegipfel. Auf dem Nachttisch, hinter dem Kessel ohne Weihwasser, in dem zwecklos als überflüssiger Weihwasserwedel ein trockener Buchsbaumzweig lag, brannten zwei Wachskerzen. Barbara hatte das Möbel in etwas wie einen Altar verwandelt, und ich machte ihr Vorwürfe ob solcher Inkonsequenz. Sie blieb mir die Antwort nicht schuldig, sagte, daß das alles so sein müsse, und schloß dabei die Vorhänge. Da fielen wie von der Zimmerdecke herab und wie Würmer tiefe Schatten aufs Gesicht des Toten ... und krochen hin und nisteten sich ein und fraßen ... daß ich die Magd anschrie:

— Fenster auf! Licht herein! Hierinnen soll Tag von draußen sein und Vogelsang und Blumenduft aus dem Garten ...

Die Magd gehorchte. »Obgleich sich das alles ganz anders gehörte.« Dann gab ich ihr Instruktionen, daß sie die obligaten Leichenbesorgungen täte, und bat sie, mich allein zu lassen.

Der starke Hauch welker toter Blätter drang ein vom Park. Der macht unendlich traurig. Du atmest ihn, wie du Grabgesang hörst ... Krähen flogen vorbei und schrien hallend, daß mir wie in einer Basilika war ... Und der Abend kam an. Und der Tag war im Verscheiden.

Ich sah mich weiter im Zimmer um. Überm Schreibtisch ein Pastell — darauf lächelt meine Tante, meine Tante Lidivina, lächelt... Man sollte die Menschen nicht lächelnd malen; der tut ein Unrecht an ihnen, der das tut. Sie sehen zuviel Sachen, die ihnen das Herz bluten machen. So wie hier diese Tante in Farben, die dazu lächeln mußte, daß ihr Gemahl mit einer Schlampe hurte, und die selbst dazu noch lächeln mußte, daß er nun aufgebahrt war ... Das Bild war wohl vor zwanzig Jahren gemalt. Aber der Pastellpuder ist wie der Puder des Alters — und sah das Bild wie gealtert aus.

Tante ... Jugendzeit... ich mocht nicht mehr hinsehn ...

Und ich dachte und sah andere Dinge. Daß Dämmer einfiel ... die ersten Fledermäuse schwirrten ... daß dies und jenes da war ... und daß die Kerzenflammen tanzten ...

Wind stand auf. Kam stöhnend durchs Laub her. Schritt hin. Klagend. Und tat mit einemmal einen solchen Seufzer, daß die eine Kerze verlöschte. Die andere flackerte ... Schnell das Fenster zu. Nur nicht im Finstern sein.

Ich sollte mir den Toten doch noch genauer ansehen. Ich sollte...

Die Lampe an. Lerne badete in Licht.

In der Tat, er war schön. Sehr schön. Nichts mehr von der Wildheit, die mich nach fünfzehn Jahren Fernseins so verstören sollte ... außer ein wenig Ironie, die da um den Mund spielte, ein Fläumchen Spott. Hegte mein Onkel selig da noch einen Hintergedanken? Im Tod noch schien er's wie mit der Natur aufnehmen zu wollen, der im Leben der große Retuschierer der Schöpfung war ...

Und sein Werk stand neu vor mir auf. Mit all seinen Wagnissen und Verbrechen. Sein Werk, dafür ihm Pranger und Ruhm zugleich, Zuchthaus und Palme gebührten. Vor kurzem noch hätte ich geschworen, daß er nur das eine von beiden verdiente ... aber ... aber welch Ungeheueres mag das — vor ungefähr fünf Jahren gewesen sein, was den Wirt zum Mörder seiner Gäste machte?...

Ich fragte mich's. Wieder und wieder. Und die Geister Klotz und Mac-Bell schienen im Kamin versteckt und klagten. Schienen in allen Ritzen verborgen und sangen. Die Kerzenflammen tanzten. Ein Vorhang hob sich groß und senkte sich dann wieder. Die weißen und leichten Haare Lernes flogen. Der Wind raufte sie, ließ sie borstig starren, zauste sie ...

Und wie die Windhand im Haar Lernes spielte, sah ich entsetzt und weit übers Bett gebeugt jetzt etwas aufleuchten, jetzt es verschwinden, jetzt wieder aufglühen und jetzt neu sich verhüllen: unter den Silberlöckchen Lernes die violette Schramme, von einer Schläfe zur ändern um den ganzen Hinterkopf herum!...

Der schreckliche halbe Kronreif! Der wahre Zeuge der Operation! Mein Onkel operiert! Von wem? ... Von —

— von Otto Klotz selbstverständlich! Nun, natürlich!

Das Geheimnis entschleiert. Der letzte Schleier zerrissen. Alles klar! Alles: Die jähe Wandlung des Professors zugleich mit dem Verschwinden seines Hauptmitarbeiters, mit der Reise Mac-Bells, mit der Unsichtbarkeit Lernes! Alles: die verwandelten Briefe, die entstellte Handschrift, das Mich-nicht-wieder-Erkennen, der deutsche Akzent, die Pfeife, das Nachlassen des Gedächtnisses, der nach Klotz angenommene Charakter, seine Kühnheit, seine Leidenschaft für Emma, die sträflichen Experimente, die Verbrechen an Mac-Bell und mir! Alles! Alles!! Alles!!! Alles!!!!

Wie hatte mir Emma erzählt? Da, da, da, da — nun fügte sich eins ins andere:

Vier Jahre vor meiner Wiederankunft auf Fonval kommen Lerne und Otto Klotz von Nanthel zurück, wo sie den Tag über waren. Lerne ist wahrscheinlich sehr aufgeräumt. Er ist ganz und gar erfüllt von seinen Studien der Okulierkunst, die nur und nur zum Heil der Menschheit sein sollen. Klotz aber, den's nach Emma verlangt, der will den Experimenten eine andere Richtung geben — eine profanere, eine gewinnsüchtigere: Gehirne austauschen. Zweifellos schlug er diese Idee (die er in Mannheim aus Mangel an Geld nicht ausführen konnte) — meinem Onkel vor. Aber vergeblich.

Da wird er gewissenlos und gemein. Mit Hilfe seiner drei Komplicen, die benachrichtigt waren und im Dickicht lauerten, überwältigt er den Professor, knebelt ihn und sperrt ihn ins Laboratorium ein. Ihn, nach dessen Reichtum und Freiheit, anders: nach dessen Persönlichkeit er lüstern ist.

Aber er will erst noch ein letztes Mal seinen Leib und seine Stärke brauchen, eh er sich ihrer für immer entledigen muß: und er verbringt jene Nacht mit Emma.

Den andern Tag, noch vor Sonnenaufgang, kehrt er ins Laboratorium zurück, drin Lerne gefangen sitzt. Seine drei Komplizen betäuben die beiden und praktizieren das Gehirn Klotzens in die Schädelhöhle meines Onkels. Was Lernes Gehirn anlangt, so stopft man's obenhin in Klotzens Stirn, der ja nur mehr ein Kadaver ist, und begräbt das Ganze hastig — so wie's ist ... Marsch!

Und das ist dann: Klotz in der Maske Lernes! Herr auf Fonval! Herr über Emma! Herr seiner Arbeiten! Wie ein Einsiedlerkrebs in der Muschelschale des Wesens, das er getötet hat ...

Emma sieht ihn aus dem Laboratorium herauskommen. Er nimmt Besitz vom Schloß — bleich und schwankend —, stülpt das ganze Leben auf Fonval um — und läßt die Labyrinthwege anlegen. So ist er vor Strafe sicher und beginnt in diesem unzugänglichen Talkessel mit seinen grausigen Experimenten. Mit seinen glücklicherweise vergeblichen Experimenten! Denn der Tod kam ihm zuvor. Die Herzkrankheit Lernes mußte er bei seiner Vermummung unweigerlich mit in Kauf nehmen. Der Einbrecher, über dem das Haus zusammenstürzt ...

Nun begriff ich auch, warum dieses Gesicht im Tode die früheren lieben Züge meines Onkels wieder angenommen hatte! Die Seele des Deutschen war ausgefahren aus diesem Leib, und beherrschte und verwüstete ihn nicht länger!...

Klotz der Mörder Lernes, und nicht Lerne der Schlächter Klotzens!... Die Verwandlung Lernes hatte mir nicht entgehen können, wenn ich allein mit ihm zusammengetroffen wär. Daß ihn aber alle andern, Emma und die Gehilfen, daß ihn die ganze Umgebung für den wahren Lerne ausgab, das hatte mich blind gemacht. Ich glaubte dem Lärm um mich mehr als meiner eigenen Stimme ...

»Ach Tante,Tante,Tante«, dachte ich, »du hast gut lächeln mit deinen gemalten Lippen. Dein Frédéric ward vor beinah fünf Jahren in einer scheußlichen Schlinge gefangen und erwürgt — und das letzte Fremde war eben aus diesem kalten Leib ausgetrieben. Hier ruht dein Lerne, er ist es ganz selber wieder bis auf ein Stückchen Hirn, einen fremden nichtssagenden Lappen Fleisch. Dein ausgezeichneter Gemahl ist's, bei dem wir wachen — und ein ganz anderer ist's, der eben in Sünden und schwerer Schuld verstarb ...«

Bei diesem Gedanken heulte ich laut auf — vor diesem seltsam Verstorbenen. Nur jener Witz, jenes Flämmchen Spott, jene paar Stäubchen Ironie, der Nachlaß jener Lumpenseele genierte mich noch. Ich fuhr mit Fingerspitzen darüber hin und wischte es fort und massierte den schon erhärteten Mund und wollte ihn nach meinem Gefallen modellieren.

In dem Augenblick aber, als ich (wie ein Bildhauer) ein wenig zurücktrat und meine Arbeit aus der Entfernung maß, klopfte es leis.

— Ich bin's, Nicolas, ich ... Emma.

Sie wußte nichts von allem! Sollte ich ihr die Wahrheit sagen? Wie würde sie einen solchen Wahnsinn des Schicksals aufnehmen? ... Ich glaubte sie ein wenig zu kennen. Sie hatte mich manchmal schon ausgelacht und mir vorgeworfen, daß ich geflunkert hätte ... Ich schwieg also.

— Ruh dich, sagte sie leise. »Barbara kommt dich ablösen.

— Nein, nein, danke. Laß mich.

Ich und nur ich mußte die Totenwacht halten bei meinem Onkel. Ich hatte ihn des Schlimmsten angeklagt, ich wollte seiner und meiner Tante gedenken und um Verzeihung bitten.

Und wie stürmischer Wind auch draußen umfuhr, wir beredeten uns leis die ganze Nacht, der Tote, das Pastell und ich.

Um den Morgen kam Barbara. Und ich ging in die Frühe hinaus, die Feuer meines Bluts zu kühlen.

Der herbstliche Park roch welk, roch nach Friedhof. Der große Wind zur Nacht hatte all die Blätter von den Bäumen gepflückt, meine Schritte raschelten über den zolldicken Blattbelag. Die Bäume Skelette. Nur da und dort im Astwerk noch ein letztes Blatt, von dem man aber auf den ersten Blick kaum sah, war's wirklich Laub oder war's ein Spatz. In wenig Stunden hatte der Park Wintertoilette gemacht. — Was wurde aus dem herrlichen Treibhaus, wenn nun der Frost kam? ... Vielleicht gelingt es, vielleicht kann ich mir jetzt Eintritt verschaffen. Die Deutschen ziehen doch ab ... Ich steuerte drauf los. Aber schon von weitem sah ich was, das mir die Schritte beschleunigte. Die Tür zum Gewächshaus offen — und ätzender und rußiger Rauch drang durch Tür und Fensteröffnungen.

Ich trat ein.

Rundbau, Aquarium und der dritte Raum — ein Bild der Zerstörung. Alles durcheinandergeschmissen, zerbrochen, verbrannt. In jeder der drei Hallen große Haufen. Zertretene Blumen, zerschlagene Töpfe, Glasscherben, Korallen, besudelte Pflanzen, krepierte Tiere: kurz, drei große häßliche Düngerhaufen. Das Ende alles Herrlichen, alles Rührenden und alles Abstoßenden, das einst da war. In einer Ecke glühte jetzt noch ein Haufen alter Lumpen. In einer ändern Ecke zerfielen auf einem Aschenhügel einige Zweige — und das waren gerade die kompromittierendsten von allen — unter knisternder Kohlenglut. Und nach verbrannten Knochen stank's.

Diese Plünderung konnte nur von den Gehilfen herrühren. Die wollten jede Spur ihrer Arbeiten tilgen. Ich hatte sie zur Nacht nur nicht gehört, weil der laute Wind war. Ich hätte sie aber auch in ihrem Verdienstlichen, das sie taten, absolut nicht aufgehalten. Nur immer zu ...

Dann ging ich nach jenem Massengrab in jener Lichtung. Die Gruft war aufgewühlt. Gebein und Gerippe von Tieren lag umher. Die einen ohne Stirnschale, die andern ganz ohne Schädel. Nur Klotz — nur Nelly waren verschwunden.

Die Zerstörung im Laboratorium war eine meisterliche zu nennen. Die zeugte von angeborenem Genie. Und sogar ein wenig von allem Germanentum. Ich lief, wie ich wollte durchs Haus ... und bald war der Wind Portier und öffnete mir zuvorkommend, bald war er ein ziemlicher Lausejunge und schlug mir eine Tür vor der Nase zu. Im Hof lebte nur noch Getier, das noch nicht operiert war. Von allen andern sah ich nichts; von allen andern erfuhr ich erst später. Hier also war alles peinlich sauber zugrunde gerichtet. — Die Operationssäle boten ein unbeschreibliches Chaos von zersplitterten Phiolen, und ein See von pharmazeutischen Essenzen überschwemmte den Boden. Bücher, Papiere und Notizhefte waren hingeschlachtet, ja selbst jene seltsamen Apparate zum Sühnopfer dargebracht. Die meisten chirurgischen Instrumente aber waren geraubt. Die Schurken hatten das Rezept der Klotzschen Schädeloperation und alles Zubehör fein mitgenommen. Sie wollten ihre Kunst wohl anderswo weiterhin anwenden. Die Kommoden und Kleiderkasten in ihrem Wohnhaus waren alle geräumt. Die drei Genossen hatten sich also aus dem Staube gemacht.

Wie ich das verheerte Haus verlasse, entdeck ich in einer Ecke was Bläuliches. Einen Kohlenhaufen, der einem mit seinem Leichengestank den Atem benahm. Ich geh trotzdem näher — und da springt etwas aus diesem pestilenzialischen Haufen hervor — eine halbtote, halbdurchbratene Ratte — und will mir an den Beinen hochhüpfen. Der Schädel ist ihr trepaniert, man sieht die blutige Gehirnmasse.

Vor Mitleid und Ekel trete ich mit meiner Ferse das letzte Opfer der Unmenschen tot.


15. Kapitel

Das neue Tier

Der Herr Leichenschauarzt waren von einer dankenswerten Apathie vor soviel Unglück und untersuchten nichts. Ich erzählte Seiner Ehrwürden von den Herzkrämpfen meines Onkels selig — und der Herr Leichenschauarzt erteilten mir die Erlaubnis zur Beerdigung.

— Der Doktor Lerne ist gewiß tot, sagten Ehrwürden, und damit ist unsere Mission, wenn es Ihnen so gefällt, beendet. Eine jede nähere Forschung könnte einem so eminenten Meister wie ihm als ein Widerspruch vorkommen ...

Das Leichenbegängnis fand ohne Pomp in aller Stille in Grey-l'Abbaye statt.

Die nächsten zehn Tage benützte ich, die Angelegenheiten dieser seltsamen Doppelgestalt, dieses Mörders und Opfers in einer Person, dieses Klotz-Lerne zu ordnen.

In den ungefähr viereinhalb Jahren hatte dieses Doppelwesen nicht die kleinste testamentarische Zeile verfügt. Das bewies mir, daß ihm der Tod trotz aller Ankündigungen durchaus überraschend gekommen war. In jedem Fall war ich doch zweifellos rechtzeitig enterbt worden. Und so fand ich in einem Geheimfach des Schreibtisches richtig jenes Testament von meinem Onkel, das mir in jenem Brief angekündigt worden war. Ich war also der Universalerbe.

Aber Klotz-Lerne hatte das Gut mit reichlichen Hypotheken belastet und schwere Schulden gemacht. Im ersten Augenblick dachte ich daran, einen Prozeß anzustrengen; aber das wär doch zu absurd gewesen. Nein, nein, nein, nein, das war schlechterdings unmöglich. Ich mußte fein still sein, sonst war ich selber am Ende noch sehr übel in die ganze Sache verwickelt worden.

Alles in allem sollte immer noch ein Nutzen für mich abfallen. Und ich war zu einer Zeit fest entschlossen, Fonval ganz fortzugeben, da es mir doch nur eine Stätte scheußlichster Erinnerungen sein würde.

Ich sah alle alten Papiere nach. Die des wirklichen Lerne atmeten durchaus seine medizinische Rechtschaffenheit und die Reinheit seiner Untersuchungen auf dem Gebiete der Pfropfkunst. Die des Klotz-Lerne, die leicht an der verwandelten, oft gotischen Schrift zu erkennen waren, die zeugten von einer Angst und einem Verbrechergeist, daß ich sie verbrannte ... so konnte dies alles nie mehr etwa gegen einen gewissen Nicolas Vermont aufstehen, der sechs Monate lang auf Fonval lebte. Aus demselben Grunde stöberte ich den ganzen Park und die ganzen Nebengebäude durch.

Dies getan, verschenkte ich die Tiere an die Dorfbewohner, und Barbara wurde entlassen.

Dann bestellte ich Arbeiter. Man verlud alle Familienstücke, während Emma ihre eigenen Sachen packte — zur Hälfte in ihren Hoffnungen betrogen, zur Hälfte voller Freude auf Paris.

Nach dem Tode Klotz-Lernes — ich sehnte mich nach der großen Welt, dem Komfort des Reichtums in aller Freiheit — hatte ich einem meiner Freunde geschrieben und ihn gebeten, er möchte mir eine Wohnung mieten, die etwas geräumiger als mein Junggesellenheim sein und für ein Liebespärchen taugen müsse. Seine Antwort entzückte uns. Er hatte eine Wohnung in der Avenue Victor Hugo gefunden, grad wie nach Maß für uns gemacht und nach all unsern Wünschen möbliert. Eine sorgfältig ausgewählte Dienerschaft erwartete uns ...

Alles fertig. Alle Sachen, auch die vielen der Emma, expediert. Eines Morgens hatte Herr Pallud, der Notar in Grey, eine letzte Unterredung mit mir zwecks Verkauf des Gutes. — Emma hielt es nicht länger mehr aus hier. — Wir setzten unsere Abreise auf denselbigen Abend fest. Per Automobil. Übernachten in Nanthel. Um den ändern Tag schon in Paris zu sein.

Und die Stunde kam, zu der ich Fonval auf immer verlassen sollte.

Ich lief noch einmal durch die leeren Zimmer des Schlosses und durch den kahlen Park. Als ob der Herbst in beiden zugleich seinen Einzug gehalten hätte ...

Durch die verlassenen Zimmer trippelte immer noch das alte Parfüm, beschwörend, sentimental. Ein bißchen schimmelig ... aber süß! ... An den Wänden überall die Blößen, die einst Bilder und Spiegel zudeckten, vor denen einst Truhen und Laden gebückt oder aufrecht standen: An solchen Stellen ist die sonst sehr schadhafte Tapete noch wie neu, bunt, licht, das blüht dann wie Blumen aus Gräbern ... — Manch ausgeräumt Zimmer erscheint plötzlich schmaler, ein anderes weiter, und beides ohne rechten Sinn. Ich schritt noch einmal durch die Zimmer im Souterrain hin und sah noch einmal zu den Mansardenfenstern und Dachluken hinaus. Ich ließ es mir nicht nehmen, noch ein letztes über all die Tummelplätze meiner Jugend zu wandeln ... ach, meine Jugend! Die allein bewohnte Fonval, das fühlt ich wohl. Was hier auch für Dramen gespielt hatten, das Zimmer Doniphans war meines, und Emmas Zimmer war das meiner Tante, und das blieb so und blieb ... Tat ich wirklich recht, Fonval versteigern zu lassen?

Dieser Zweifel begleitete mich überallhin im Park. Die Weide wurde wieder zur Wiese, der Pavillon des Minotaurus neu zum Briareus. Ich umschritt den ganzen Park. Der Himmel war sehr niedrig und wie graue Watte. Winterlich Licht war. Die Statuen froren ...

Vom Park ins Schloß. Vom Schloß in den Park.

Nein, nein. Nicht länger. Nun hieß es fort, fort, fort. Und Fonval dem Efeu und den Spinnen preisgeben.

Vor der Remise wartet Emma. Ganz zur Reise eingemummelt. Und ungeduldig. Ich tu die Türflügel auf. Das Automobil steht neben dem Gig, im Hintergrund des Verschlags. Ich hab's seit dem Unfall nicht wiedergesehen, ja ich erinnere mich nicht einmal, daß ich selber es hier hereingeschoben hätte. Offenbar hatten mir die Gehilfen, wenn auch nicht allzugern, den Gefallen getan.

Trotz meiner Nachlässigkeit fing der Motor sofort sehr artig zu brummen an. Ich fuhr bis zur halbkreisförmigen Esplanade heraus und schloß dann mit gemischten Gefühlen das ächzende große Tor. Schluß der schrecklichen Affäre Klotz, aber, gnad mir der Himmel, Schluß auch der Jahre meiner Jugend ... Mir war, als könnt ich meine Jugend verlängern, indem ich Fonval nicht hergäbe:

— Wir halten in Grey beim Notar an, sagte ich zur Emma. Ich verkaufe nicht. Ich vermiete nur.

Wir fuhren ab. Ich nahm den Weg rechts. Die Felswände wurden niedriger und niedriger. Emma plapperte. Das Automobil rumrumte vorerst lustig dahin. Und dennoch tat mir's leid, daß ich es so vernachlässigt hatte. Da — mit einem Ruck hielt's an. Und da und da und da — das wiederholte sich. Der Gang der Maschine war bald nichts weiter mehr als ein Vorstürzen, Hineilen, Verlangsamen, Stehenbleiben. Und das immerzu.

Ich sagte doch schon, daß der Wagen durchaus automatisch war. Alle Pedale und Hebel auf ein Minimum reduziert. Eine solche Maschine hat einen Nachteil: sie verlangt, daß sie vor der Ausreise vollkommen intakt ist — einmal auf dem Weg, hat man keinen andern Einfluß mehr auf sie als die Regulierung der Geschwindigkeit ...

Ich würde anhalten und absteigen müssen. Das ärgerte mich.

Wie aber der Wagen weiterhin so ruckweise lief, mußte ich wider Willen lächeln. Denn dies alles gemahnte mich seltsam genug an meine Spaziergänge mit Klotz-Lerne ... genauso pflegte mein Pseudo-Onkel fortwährend stehenzubleiben und wieder weiterzurennen. Ich hoffte, daß das eine vorübergehende Indisposition des Mechanismus sei ... daß es beispielsweise am Öl läge ... und horchte lieber gespannt auf das Brummen des Motors, um herauszuhören, welche Funktion etwa defekt wäre. Aber das Ungleiche des Laufes wurde von Anhalten zu Anhalten immer auffälliger ... einmal blieben wir fast eine Sekunde still stehen. Mein ungereimter Vergleich von vorhin wurde immer treffender, und das belustigte mich: »Ganz und gar wie jene Kanaille von einem Professor«, sagte ich mir, »das ist in der Tat amüsant!«

— Was ist denn los? sagte meine Freundin, du machst mit einemmal so ein ängstliches Gesicht ...

— Ich? ... Ach nein?

Seltsam: Diese Frage machte mich besorgt. Ich dachte, ich hätte die ganze Zeit das kaltblütigste Gesicht von der Welt gemacht. Aus welchem Grunde sollte ich denn ängstlich dreinschaun? Ich war ärgerlich — ganz einfach ärgerlich. Fragte mich da fort und fort, was für ein Organ in diesem »mächtigen Korpus«, wie sich der Professor ausgedrückt hatte, wohl krank sei, und war, da ich nichts fand, im Begriff anzuhalten und ... ich war einfach ärgerlich, das war alles! Ganz umsonst horchte und horchte ich immerzu auf die Detonationen, das Gerassel und all die dumpfen Stöße ... und hörte doch nichts Auffälliges, das mir die Schadhaftigkeit eines der Räder, Gelenke oder Kurbeln verraten hätte.

— Ich möchte wetten, daß da etwas eingerostet oder verdreckt ist! schrie ich. Weiß der Teufel. —

Da sagte Emma:

— Sieh doch, Nicolas! Muß sich das Dings da bewegen?

— Ja! Ich hab's doch gesagt! Da siehst du's!

Sie hatte auf das Acceleratorpedal hingezeigt, das sich ganz von selber bewegte, und das blödsinnige Gehüpf des Wagens stimmte genau mit den Pedalbewegungen überein. Das war also die Havarie! ... — Ich sah's genau an: solang etwas wie ein unsichtbarer Fuß auf das Pedal drückte, stoppte das Automobil. Ich wollte schon absteigen, da raste der Wagen von neuem auf und davon. Das Pedal nämlich war in diesem Augenblick zurückgeschnellt.

Ich wurde von einer quälenden Unruhe befallen. Gewiß: Nichts ist ärgerlicher als ein havarierter Wagen. Aber ich konnte mich nicht erinnern, daß ich mich jemals bei einer Panne so über die Maßen aufgeregt hätte ...

Plötzlich kreischte die Hupe ganz von selbst...

Ich fühlte den unwiderstehlichen Drang, irgend etwas zu reden.

Das Stummsein verdoppelte nur meine Angst.

— Da muß alles ganz und gar nicht in Ordnung sein, sagte ich und sagte es aber so harmlos als möglich. Wir werden nicht vor Nacht ankommen. Armes Emmachen.

— Wär's nicht besser, du gingst sofort an die Reparatur?

— Nein. Ich will lieber weiter ... Wenn man anhält ... da weiß man nie, ob man überhaupt wieder in Flug kommt ... dazu haben wir immer noch Zeit ... Vielleicht auch geht's jetzt ...

Aber die Hupe überschrie mich. Und plötzlich krampften sich mir die Hände am Steuer: das Geschrei der Hupe wurde leiser; aber wurde singend, wurde Rhythmus und Stimmfall ... wie eine Melodie ... (vielleicht hörte ich's nur ...) — Erst war's, wie wenn ein Sänger seine Stimme probiert — und dann intonierte der kupferne Schlund frisch, fromm, fröhlich, frei:

»Rumfideldum fideldum.«

Bei dieser Melodie argwöhnte ich plötzlich das Schlimmste. Etwas ganz Phantastisches, Mysteriöses — ja, immer noch! Ich starb schier vor Schrecken. Ich wollte das Gas abstellen — der Gashebel widerstand. Das Pedal versagte. Die Bremse weigerte sich. Eine höhere unerschütterliche Kraft war da statt meiner am Werk. Ich ließ das Steuer los und arbeitete mit beiden Armen an der Bremse. Ohne das geringste Resultat. Nur die Hupe, die gluckgluckte und gurgelte, als ob sie mich auslachen wollte, und schwieg dann endlich still. Emma lachte und sagte:

— Was für eine komische Trompete!

Mir war alle Lust zu lachen längst vergangen. Ich hatte absonderliche Einfälle...

Diese metallische Maschine, die ganz ohne Holz, Kautschuk und Haut war, also gar keine Fragmente von ehemaligen lebenden Wesen an sich hatte, war die nicht »ein belebter Körper, der niemals gelebt hatte«? Dieser automatische Mechanismus, der war doch ein Leib, mit allen Reflexen ausgestattet und nur total ohne Intelligenz? War das Automobil darum nicht, nach jener Theorie in jenem Notizbuch, wirklich das einzige Wesen, das eine Seele restlos in sich aufnehmen konnte (und von dem der Professor einst behauptete, daß es so ein Wesen nicht gäbe...)?

Im Augenblick seines angeblichen Todes hatte sich Klotz-Lerne — sowie einst in jenen Pappelbaum — in dieses Vehikel versetzt. Doch war er seit Wochen schon sehr zerstreut gewesen und hatte vielleicht, tödliche Inkonsequenz!, nicht bedacht, daß da doch seine Seele vollständig — mit Stumpf und »Stiel« — in den Rezipienten gleiten würde, sein menschlicher Leib dann also nur noch ein Kadaver wäre, in den er kraft seiner eigenen Entdeckung nicht wieder zurückgelangen könne.

Oder ... Klotz-Lerne hatte aus Verzweiflung eine Art Selbstmord begangen, indem er aus der Haut meines Onkels in die Hülle meiner Maschine fuhr? ...

Oder aber ... er wollte das Neue Tier werden, das er einst grotesk genug beschworen, das Tier der Zukunft, die Krone der Schöpfung, das Wesen, das durch die immerwährende Austausch- und Ersatzmöglichkeit seiner Organe die Unsterblichkeit errang?

Und dann ... nein, nein, ich glaubte es nicht, noch konnte ich es nicht für möglich halten. Da war nur eine Ähnlichkeit in ein paar Allüren zwischen dem Professor und der Maschine — eine Gehörstäuschung und ein Schadhaftwerden des Hebels — dieses bißchen bewies das Ungeheuere noch lange nicht. Meine Angst wollte ein entscheidenderes Unterpfand.

Und es wurde mir. Auf der Stelle wurde es mir.

Wir waren an der Waldgrenze angekommen. An jenem Punkt, da der verstorbene Wahnsinnige stets sein unerschütterliches »Bis hierher und nicht weiter« rief. Ich begriff, daß die Maschine hier bocksteif halten würde und warnte Emma:

— Paß auf — lehn dich zurück.

Trotzdem hielt das Automobil so plötzlich an, daß wir beide eine tiefe, tiefe Verbeugung machten.

— Was ist denn los? sagte Emma.

— Nichts. Ruhig, ruhig, nur ruhig...

Frei herausgesagt, war ich in größter Verlegenheit. Was nun? Absteigen war viel zu gefährlich gewesen. Auf dem Rücken des Klotz- Automobils waren wir wenigstens unerreichbar für ihn. Ich hatte keine Lust, mich von dem Ungetüm überfahren zu lassen ... Da machte ich noch einmal den Versuch, das Vehikel vorwärts zu steuern. Jawohl! Nichts, nichts, nichts gehorchte mir. Ich konnte anstellen, was ich wollte ...

Da, plötzlich, steuerte das Steuer von allein, alle Hebel und Pedale rührten sich, und mit einer eleganten Kurve drehte der Wagen um und wollte nach Fonval zurück. Sowie ich ihn aber meinerseits wendete, um die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, ging er keinen Schritt weiter.

Emma meinte, ich solle nun aber endlich absteigen und die »Panne« heilen.

Aber mein Schrecken war seit einigen Sekunden zu Wut geworden ...

Die Hupe gackerte.

— Wer zuletzt gackert, gackert am besten! murmelte ich.

— Was ist denn los? Ja, was ist denn los? sprach meine Reisegefährtin.

Ich hörte nicht auf sie. Ich langte aus dem Werkzeugkasten einen eisernen Pneumatikmontierhebel heraus und schlug auf den widerspenstigen Wagen ein.

Es war großartig. Ich prügelte. Das schwere Gefährt gebärdete sich wie unsinnig. Es tanzte, schlug aus, stampfte, stand auf. Es wollte uns richtig aus dem Sattel heben.

— Klammer dich an! schrie ich meiner Freundin zu.

Und ich prügelte. Der Motor brummte, die Hupe heulte vor Schmerz und Wut. Meine Hiebe hagelten nur so hernieder. Die Tracht Schläge ... es war ein fabelhafter, es war ein Heidenlärm im Gehölz.

Plötzlich ein Schrei wie von einem Elefanten. Und das Mastodon bäumte sich, tat zwei, drei Lançaden und raste dahin — als ob alles kaputtgehen müßte!

Ich war nicht mehr Herr der Situation. Gott gnad uns! Der Achtzigpferdige flog nur so. Wo nehmen wir den Atem her?... Zuweilen ein Hupenton — durch Mark und Bein gehend! ... Wir fahren wie der Blitz durch Grey-l'Abbaye. Über Hühner, Hunde ... immer zu ... Blut spritzt bis zu meinen Brillen auf. Wir fahren so schnell, daß mir das Notarschild des Herrn Pallud wie ein Streifen Gold erscheint. Außerhalb des Dorfes fängt die Staatsstraße an. Platanen stehen Spalier. Wir hindurch. Durch. Und da — was mir zum allererstenmal an meiner Maschine auffiel — wurde das Auto wie müde. Verlangsamte sich ... Und ließ sich lenken ...

Ich mußte das Ungetüm noch öfter prügeln, bis es uns endlich nach Nanthel brachte. Wir kamen erst spät, aber ohne jeden weitern Unfall an. Nur als wir einmal über einen Rinnstein fuhren, schrie der kupferne Mund weh auf. Und ich sah, daß durch das Hindernis die Feder des rechten Vorderrads gebrochen war. Bei meiner Ankunft im Hof des Hotels wollte ich eine neue Feder anbringen lassen — vergeblich. Die Hupe schrie so sehr, daß ich auf die Reparatur verzichtete. Sie war übrigens auch nicht mehr nötig, da ich beschlossen hatte, von hier aus mit der Eisenbahn weiterzufahren und das widerspenstige Tier verladen zu lassen. Alles andere wollte ich der Zukunft überlassen. Für den Augenblick brachte ich den Wagen in die Garage ... und machte mich so schnell als möglich davon, da ich wußte: hinter mir blitzten die runden Augen der Lampen unheimlich her.

Und mir fiel plötzlich eine Stelle aus jener wissenschaftlichen Abhandlung ein, die mir damals sofort aufgefallen war ... und ich war nicht wenig erschrocken, daß sie mir nun etwas wie eine Erklärung des Wunderlichen abgab und mir noch manche zukünftige unheimliche Unannehmlichkeit voraussagte:

»Man kann sehr wohl annehmen, daß zwischen den lebenden Wesen und toter Materie ein Bindeglied besteht — grad so wie zwischen Tier und Pflanze.«

Das Hotel schien luxuriös eingerichtet. — Ein Lift beförderte mich in die Höhe, und man führte mich in unser Zimmer.

Meine Partnerin war mir vorausgeeilt. Sie, die so lange eingeklostert war, sah mit Gier die Straße und den Verkehr und die Schauläden, die da drunten erstrahlten. Sie konnte sich gar nicht davon trennen, das Leben anzuschauen, und lief, noch ganz in ihrer Reisevermummung, von einem Fenster zum andern und riß die Vorhänge auf. Sie nahm nicht die geringste Rücksicht auf mich, die Welt fesselte sie anscheinend viel mehr als meine Person. Mein seltsames Benehmen auf dem Automobil kam da wohl noch hinzu — das mußte ihr doch einigermaßen aufgefallen sein. Und da ich dafür kein Wort der Erklärung zu ihr hatte, hielt sie mich wohl für äußerst extravagant und vielleicht auch noch nicht ganz von meinem Wahnsinn geheilt.

Beim Diner an einem kleinen intimen Tisch und bei Licht, das so heimlich wie die Beleuchtung in meinem Boudoir war, mitten unter befrackten Herrn und dekolletierten Damen — war sie von einer deplacierten Üppigkeit. Sie fixierte diese, betrachtete von oben bis unten jene, jetzt voller Bewunderung, jetzt mit viel Spott, lobte dies ganz laut und mokierte sich über jenes nicht viel leiser ... und wollte mit aller Welt plappern.

Ich schaffte sie fort, sobald ich nur konnte. Aber sie wollte Leben sehen, unter Leuten sein ... ich mußte sie »ausführen«.

Theater oder Varieté. Aber nur das Varieté war geöffnet. An diesem Abend waren da nach Pariser Muster Entscheidungsringkämpfe.

Der kleine Raum war überbesetzt mit Ladenschwengel, Studenten und Straßendirnen. Eine Riesenwolke Rauch lagerte über der Menge ... von billigstem Tabak.

Emma tat sich chic in ihrer Loge. Ein grobsinnlicher Gossenhauer, von einem erbarmungslosen Orchester gespielt, brachte sie in Ekstase. Und da sie sich absolut keinen Zwang antat, richteten sich bald 300 Augenpaare auf ihren Fächer und ihre Hutfedern, die im Takt schwangen. Emma lächelte und nahm die Parade dieser 300 Augenpaare ab.

Die Ringkämpfe begeisterten sie. Noch mehr aber die Ringkämpfer. Diese menschlichen Bestien, deren Köpfe nur Kiefern und gar keine Stirnen haben, machten sie toll.

Ein tätowierter Koloß bekam den ersten Preis. Er war ein »Kind« der Stadt, und die Bürger brachten ihm eine Ovation dar. Er bekam den Namen »der Löwe von Nanthel, der Champion der Ardennen«. Emma war aufgesprungen und applaudierte und schrie: »Bravo! Bravo!« so laut und so beharrlich, daß sie die Heiterkeit des ganzen Saales erregte. Der Champion warf ihr eine Kußhand zu. Ich wurde rot vor Scham.

Wir kehrten ins Hotel zurück. Wir zankten uns. Zankten uns so sehr, daß wir zur Nacht »brav« waren ... »keusch«.

Unser Zimmer lag grad überm Hoteltor. Bis zum Morgen ratterten da Automobile. Ich träumte Schreckliches und Blödsinniges.

Als ich erwachte, lag ich ... allein im Bett.

Stumpfsinnig vermutete ich meine Freundin da, wo auch der Präsident von Frankreich zu Fuß hingeht ... aber ihr Platz im Bett war längst erkaltet, und das brachte mich auf die Beine.

Ich klingelte dem Kellner. Der kam und brachte mir diesen Brief, den ich mir aufgehoben hab, den karierten Bogen, den ich mit einer Stecknadel nun auf dieses weiße Manuskriptpapier hefte, mit all seinen Klecksen und Ordenssternen:


Liber Nigola,

Endschuldich wen ich dich weh dhu aber es Isd beser das wir Uns drenen. ich draf gesdern meinen I. libhaber den Man wegen desen ich mir mid Leoni gezangt hab Alzid wieder. Das isd der hibsche Bengl der gesdern Siger vom ringen war. Ich geh wider zu ihn, weil mir die brusd nach ihn jugd. Ich wierde ihm auch nie verlassen haben nur weil lern mich so schmelich vill Geld Fersprochen hatte. Und dann hätte ich dich doch nur ungliglich gemachd und dann hätte ich dich doch nur bettrogen denn siehmal du bisd doch nur 2 X auf der Höhe Gewessen, das einemal wie dich der stier bei die Hörner Hatte, das anermal wie du plezlich aus mein Zimer gestürmd bisd. daß ibrige war nichd der rede Wert. Ich muß einen richdigen tichdigen man haben. du kanst nichts davor und so hofe ich das ich dich auch nichd weh dhu.

leb Wol fir imer

Emma Bourdichet.*


* Bei der ersten gemeinsamen Lektüre des Doktor Lerne schienen uns die Orthographie und besonders der Stil dieses Schreibens in einem auffälligen Gegensatz zu der gewöhnlichen Ausdrucksweise von Frl. Bourdichet. Ihre Ausdrucksweise scheint denn doch immer noch ein ziemliches gebildeter als dieser Stil. (Siehe Kap. VII, da merkt man den Unterschied.) Gilbert stürzte sich ohne weiters auf diese Ungleichheit, um zu behaupten, es sei überhaupt alles nur ein Ulk Cardaillacs und hier und dadurch gäbe er sich freiwillig zu erkennen. Man antwortete ihm, er soll einen Augenblick alle Ehrlichkeit Cardaillacs voraussetzen; in diesem Fall rühre der Brief direkt von Frl. Bourdichet her, all ihre Reden aber, die sonst im Verlauf der Erzählung angeführt sind, seien freieste Wiedergabe. Seien von Herrn Vermont aus dem Gedächtnis zitiert, und da Herr Vermont kein Romanschreiber von Beruf ist, so hätte er sich eben viel mehr an den Sinn als an die Worte gehalten. (Siehe: wie Herr Vermont einzelne Sätze mit ungleich mehr Farbe und Leben wiedergibt als jenes lange Kap. VII! Wie um so wahrheitsgetreuer er ist, je kürzer die Reden sind. — Diese Bemerkungen hätten vollauf genügt, die Behauptung Gilberts zu widerlegen. Ein Experiment aber, das Marlotte machte, zerstörte dann jedweden Zweifel von Grund auf. Marlotte bat einige Demimondänen um ein paar Liebesbriefchen und war starr, als er ersah, daß diese Mädchen, deren Ausdruckweise durch den häufigen Verkehr mit wohlerzogenen gebildeten Männern so niedlich ist, fast alle so wie schmutzige Weibsbilder und Trampeltiere schreiben. (Anm. d. H.)


Vor einem so kategorischen Inhalt — noch in einer so barbarischen vernichtenden Sprache — hatte ich mich nur zu beugen. Das Urteil war gefällt. Revision? Wir waren einander aus demselbigen Antrieb zugetan gewesen. Ich hatte nur die Liebe mit so einem bezaubernd schönen Weibe geliebt. Was weiter?

Und ich besaß Energie und Weisheit genug, alle Gedanken über den Vorfall auf morgen zu verschieben. Ich war doch sonst wohl ein wenig schwach geworden ... Erkundigte mich also nach dem nächsten Zug, der nach Paris ginge, und bestellte einen Mechaniker, der mir meinen Achtzigpferdigen, oder wenn man lieber will: das Ding Klotz-Automobil, expedieren helfen sollte.

Der bestellte Mann kam sehr bald. Und wir gingen zusammen nach der Garage.

Der Wagen war verschwunden.

Sollte ich das Verschwinden Emmas und das Verschwinden meines Wagens in einen gewissen Zusammenhang bringen? Hm ... Der Direktor vom Hotel glaubte sofort an Diebe und lief nach der Polizei. Und kam zurück und sagte: es wäre in einem Vorstadtgäßchen ein Automobil mit der Nummer 234-XY gefunden worden. Von den Gaunern natürlich im Stich gelassen. Wegen Ölmangel und so. Das Reservoir wär ganz ausgetrocknet gewesen.

»Das muß wahr sein!« dachte ich mir. »Klotz hat retten wollen. Und hat aber nicht mit dem Öl gerechnet. Daher!...«

Ich behielt aber das Wahre hinter dem Falschen fein für mich und befahl dem Mechaniker, mir den Wagen, ganz so wie er war, nach der Bahn zu schieben ... Aber zu schieben!

— Versprechen Sie es mir! drang ich in ihn. »Es ist sehr wichtig ... Mein Zug geht ab, ich muß mich eilen ... Schnell! Aber das muß ich Ihnen noch einmal sagen: Tun Sie mir bloß kein Öl drauf!


16. Kapitel

Der Hexenkünstler kratzt endgültig ab

Da war ich nun in der Wohnung in der Avenue Victor Hugo, in dem Heim, das ich für Emma gemietet hatte. Ich nur mit meinen seltsamen Erinnerungen bin hier ... Sie wollte ja ihre berauschende Schönheit lieber jenem Herrn Alcide darbringen ... Reden wir nicht mehr davon.

Februaranfang ist's. Das Feuer schnalzt hinter mir. Seit meiner Wiederankunft in Paris bin ich müßig und lese nichts ... schreib nur an jedem Abend und jedem Morgen auf diesem runden Tisch hier die Erzählung meiner sonderbaren Abenteuer ...

Bin ich am Schluß?

Das Automobil Klotz ist da. Ist drunten. In der Remise in einer Abteilung, die ich eigens dafür habe bauen lassen. Der Mechaniker hat trotz meines Befehls Öl eingefüllt, und mein neuer Chauffeur hatte unsägliche Mühe, den Wagen bis hieher zu schaffen. Es war uns unmöglich, den Hahn aufzubringen, um das Reservoir auslaufen zu lassen. Dann fing der Wagen an, seine Nachfolgerin, eine Zwanzigpferdige — allerletztes Modell —, zu demolieren ... Was soll ich mit diesem verfluchten Klotz anfangen? Ihn verkaufen? Andere Menschen solcher Bosheit aussetzen? — Ein Verbrechen wär's. Ihn zerstören? Den Professor in seiner letzten Transformation endigen? — Das wär Mord. So hab ich ihn denn eingeschlossen. Das Abteil hat hohe Eichenwände, die schwere Tür ist unter Schloß und Riegel.

Aber das Neue Tier schrie und sang jede Nacht, drohend und schmerzlich, und die Nachbarschaft beklagte sich. Da ließ ich, in meinem Beisein, die fatale Hupe abmontieren. Wir schraubten unter unendlicher Mühe die Schrauben ab und bemerkten, wie die Windungen sozusagen mit dem Wagen verwachsen waren. Wir mußten sie herausreißen, und dazu erschauerte die Maschine am ganzen Leib. Etwas wie eine gelbe Flüssigkeit, die nach Benzin roch, sickerte aus der Wunde und tröpfelte aus dem amputierten Stück. Ich sah: das Metall war durch das Leben, das sich seiner bemächtigt hatte, zu etwas wie einem Organ geworden. Daher meine vergeblichen Versuche, eine neue Felge anzubringen ... denn eine solche Operation gehörte von nun an in das Gebiet der Okulierkunst und war eine genauso verwünschte Sache als die Verpflanzung eines Holzreises auf eine Menschenhand.

Trotzdem ich ihm aber nun die Stimme genommen hatte, schwieg der Kerl nicht. Und war noch eine Woche hin der Ruhestörer, indem er sich immer mit aller Wucht gegen die Tür warf. Auf einmal still. Seit einem Monat ungefähr. Ich denke, daß entweder das Benzin oder das Ölreservoir leer geworden ist. Louis aber trug ich strengstens auf, sich gar nicht um die Sachen zu kümmern und den Stall des wilden Tieres nicht zu betreten.

Wir haben Ruh jetzt. Aber Klotz ist immer noch da........ ......................................................... .........................................................

Louis dämmte die philosophischen Betrachtungen, die soeben meiner Feder entfliehen wollten. Louis kam hereingestürzt und sagte mir mit entsetztem Blick:

— Gnädiger Herr! Gnädiger Herr! Der gnädige Herr möchten den Achtzigpferdigen sehen kommen!...

Ich fragte nicht lang und folgte ihm schnell.

Wie wir die Treppe hinuntergehen, gesteht er mir, er hätte sich erlaubt, die Remise zu öffnen, weil es seit einiger Zeit schon da ziemlich übel herausrieche. Und wirklich war schon die Luft im Hof erbrechenerregend. Louis rief hochtragisch aus:

— Nun sage der gnädige Herr selber, was für ein schreckliches Parfüm das ist! — Und führte mich in den Verschlag.

Der Wagen sah aus — rein nicht wiederzuerkennen.

Eingesunken. In sich zusammengesunken. Mit ganz verbogenen Rädern. Als ob er aus Wachs modelliert gewesen wäre, und das Wachs war halb geschmolzen. So sah's aus ... Das Steuer war, als ob's aus Kautschuk wäre. Die Lampen sahen müde und mit so gebrochenem Blick wie Tote. Ich sah verdächtige Flecke, wie Geschwüre, als ob das Aluminium angefressen, das Eisen von innen heraus fortgebeizt worden wäre. Die porös gewordenen Stahlteile schwärten, das Kupfer war wie schwammig. Kurz — ein rotgelber und ein grünlicher Aussatz allenthalben, aber nicht Rost und nicht Grünspan. Auf dem Boden faulte Dünger in einer sirupähnlichen scheußlichen goldkäferfarbenen irisierenden Pfütze. Seltsame chemische Vorgänge machten, daß dieses metallische faulende Fleisch von Zeit zu Zeit etwas wie Blasen warf — und im Innern des Mechanismus entstanden fortwährend Blähungen. Plötzlich senkte sich etwas und fiel ein — so klatschend wie Kuhmist — und wurde ein namenloser Brei ... und stank so sehr auf, daß es mich zurückwarf. Ich vermeinte im Zurückweichen leibhaftige Würmer an der Arbeit zu sehen ...

— Eine nette Ware! erklärte der Mechaniker.

Ich versuchte ihn glauben zu machen, daß durch Erschütterung zuweilen Metall sich auflöst und dann solche molekulare Modifikationen entstehen. Er schien meinen Behauptungen mit ziemlichem Zweifel zu begegnen, und ich, der ich die schier unglaubliche Wahrheit wußte, ich war gezwungen, sie für mich noch einmal durchzukauen — so oder ähnlich wie man eine Summe zum zweiten oder drittenmal addiert ...

Klotz ist tot. Das Automobil ist tot. Der Erfinder starb durch seine eigene Erfindung. An der schönen Theorie, daß ein Mechanismus zu beseelen sei und durch weise Auswechslung unsterblich und unendlich würde. Das Leben verleihen, heißt den Tod schenken. Ohne Tod ist kein Leben ...

Und das wurde ich noch gewahr: Das unheimliche Wesen war nicht durch Mangel an Benzin, durch Verblutung oder Austrocknung gestorben. Nein: denn die Reservoire standen noch halb voll. Die Seele war's, die den Leib gemordet hatte, jene verderbliche menschliche Seele hatte so schnell den viel gesünderen Leib abgenutzt und verbraucht ...

Ich hab angeordnet, daß man den Pack Schmutz und Fäulnis sogleich fortschafft. Der Kanal, die Kloake soll Klotzens Grab sein. Er ist tot! Tot ist er! Ich bin befreit! Er ist unbarmherzig tot ... kurz, er ist tot. Sein Gesicht ist bei den Abgeschiedenen — er soll mir nie wieder schaden können!

Hahaha — hihi! Mein alter Otto ... mobil! Tot! Das — Stinkvieh!

Ich soll, darf wieder glücklich werden. Noch bin ich's nicht. — Oh! Nicht wegen Emma! Mjah — das alberne Frauenzimmer hat »mich weh« getan. Aber das wird vergehn. Ein Kummer, der sich trösten läßt, der ist schon getröstet. — Mein Unglück kommt aus der Erinnerung. Was ich sah und litt, das plagt mich immer noch: der Narr, Nelly, die Operation, der Minotaurus, Ich-Jupiter und all die andern Greuel! ... Ich hab Angst vor Augen, die mich fixieren, ich senk den Blick vor jedem Schlüsselloch ... Daher kommt mein Leid. Und dann seh ich ein Grausiges voraus ...

Wenn das alles nicht zu Ende war? Wenn Klotzens Tod nicht der Schluß meiner Erzählung wär? Wenn ... wenn...

Er selber ist mir schnuppe. Er existiert nicht mehr. Und wollte er mich je in der Maske Lernes oder aus einem Automobil hervor necken, wüßt ich: Es ist ein Traum oder eine Halluzination meiner geschwächten Augen. Er ist tot! Um ihn kümmere ich mich nicht im geringsten mehr, hab ich gesagt.

Aber die drei Gehilfen beunruhigen mich. Wo sind sie? Was treiben sie? Das ist die Frage. Sie haben das Rezept der Operation, sie können's ausbeuten ... Klotz-Lerne hatte trotz seiner Niederlage mehrere Menschen angetroffen, die seine teuflische Operation aushalten und die Seele eines andern dafür eintauschen wollten. Die drei Deutschen vermehren jeden Tag die Menge jener Elenden, die nach Geld, Jugend oder Gesundheit lüstern sind. Die Welt weiß nichts davon: doch gehen Männer und Frauen um, die nicht sie selber sind ...

Ich trau dem Schein nicht mehr ... Die Gesichter sind mir, als ob's nur Masken wären. Vielleicht hätt ich das auch schon früher gewahr werden können. Aber es gibt Menschen, deren Züge eine Seele reflektieren, die ihrer eigenen entgegen ist. Andere, tugendhafte und reine, verraten heimliche Laster und Leidenschaften. Haben sie heute ihre Seele von gestern?

Manchmal, wenn ich mich mit einem Menschen unterhalte, ist ein fremdes Licht in seinen Augen, hat er einen Gedanken, der nicht er selber ist. Er wird widerrufen, sowie er's ausgesprochen hat, und er wird zuallererst darüber erstaunt sein, daß er so etwas denken konnte.

Ich kenne Leute, die ihre Meinung von heut auf morgen wechseln. Das ist unlogisch.

Oft bemächtigt sich etwas meiner, treibt mich etwas brutal gegen mich selber an, regt mir die Sinne und die Kräfte auf, daß ich Sträfliches tu oder Bedauerliches rede — das sind die Momente der Ohrfeigen und der Lieblingsflüche.

Ich weiß, ich weiß: So ergeht's jedem von jeher, so Unbegreifliches fällt einen immer wieder an. Aber die Ursache ist mir dunkel und unerfindlich geworden. Man nennt's Aufregung, Wut, Unbesonnenheit, so wie man Lebensart oder Wohlanständigkeit, Berechnung, Verstellung oder Diplomatie als das Resultat jäher Enthüllungen bezeichnet, wie ich sie oft an meinesgleichen bemerkt, und die, sagt man, nur ein Verstoß gegen jene großen Eigenschaften oder eine Revolte gegen sie seien ...

Die Wissenschaft eines Hexenmeisters wär demnach nichts als eine Aufhetzung?

Es ist klar, mein geistiger Zustand will, daß man ihn pflege. Er ist leidend von Fonval her. Seit ich wieder in Paris bin, weiß ich, es ist nötig, die Erinnerung an Fonval auszulöschen ... Und deshalb zeichne ich all die Begebnisse auf. Nicht — um Gottes willen! — nicht aus Ehrgeiz, ein Buch zu schreiben, sondern in der Hoffnung: daß sie, je mehr sie auf dem Papier ständen, desto mehr aus meinem Gedächtnis ausgetilgt seien.

Noch gelang mir's nicht. Ich bin noch weit davon. Im Gegenteil, ich erlebte das alles nur noch intensiver, indem ich's schrieb. Und oft bin ich wie verhext und schreibe ein Wort oder einen Satz ganz gegen meine Intention hin.

Ich hab den Zweck verfehlt. Ich muß den Alp anders vergessen, bis auf die kleinsten Kleinigkeiten ... unterdrücken ... Es könnten in der Umgebung von Fonval allzu intelligente Tiere geboren werden. Ich muß Jo, Europa und Athor zurückkaufen und sie schlachten lassen. Fonval und alle Möbel verkaufen. Leben! Leben durch mich selber! Ob's lächerlich oder dumm scheint, ob's noch so extravagant aussieht, was verschlägt das? Aber ich will aus mir, aus mir und nur aus mir und, großer Gott im Himmel!, frei von allen Erinnerungen leben!

Diese Greuel sollen — ich schwör's! — zum letztenmal durch mein Gehirn spuken. Ich schrieb sie nur, um sie feierlich zu Zeugen aufzurufen.

Und du, verräterisches Manuskript — da du immer gegen mich aufstehen würdest, wenn ich einst behaupten wollte: dies alles ist nie gewesen — deshalb ins Feuer mit dir! Doktor Lerne: ins Feuer! ins Feuer! ins Feuer!


ENDE/h3>

Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
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