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Das Grafenschloss—eigentlich war es eine Burg—lag frei auf der HOehe; uralte Foehren und Eichen ragten mit ihren Wipfeln aus der Tiefe; und Ueber ihnen und den WAeldem und Wiesen, die sich unterhalb des Berges ausbreiteten, lag der Sonnenglanz des Fruehlings. Drinnen aber waltete Trauer; denn das einzige Soehnlein des Grafen war von unerklaerlichem Siechtum befallen; und die vornehmsten Aerzte, die herbeigerufen wurden, vermochten den Ursprung des Uebels nicht zu erkennen.
Im verhangenen Gemache lag der Knabe schlafend mit blutlosem Antlitz. Zwei Frauen sassen je zu einer Seite des Bettes, mit dem gespannten Blick der Sorge ihn betrachtend; die eine alt, in der Kleidung einer vornehmeren Dienerin, die andere, unverkennbar die Dame des Hauses, fast jung noch, aber die Spuren vergangenen Leides in dem blassen, guetevollen Angesicht.
In den schoensten Tagen ihrer Jugend hatte der Graf um sie, das wenig begueterte Fraeulein, geworben; aber da schon nichts mehr fehlte als das ausgesprochene Wort, hatte er sich abgewandt. Eine reiche, schoene Dame, die dem armen Fraeulein dem stattlichen Gemahl und dessen Herrschaft neidete, hatte den leichtbluetigen Mann in ihrem Liebesnetz verstrickt; und waehrend diese als Herrin in das Grafenschloss einzog, blieb die Verlassene in dem Witwenstuebchen ihrer Mutter.
Aber das Glueck der jungen Graefin hatte keinen Bestand. Als sie nach Jahresfrist dem kleinen Kuno das Leben gegeben, wurde sie von einem boesen Kindbettfieber hingerafft; und als wiederum ein Jahr vorbei war, da wusste der Graf fuer sein verwaistes Soehnlein keine bessere Mutterhand als die, welche er einst verschmaeht hatte. Und sie mit ihrem stillen Herzen vergab ihm alle Kraenkung und wurde jetzt sein Weib.
So sass sie nun sorgend und wachend bei dem Kind ihrer einstigen Nebenbuhlerin.
“Er schlaeft jetzt ruhig", sagte die Alte; “Frau Graefin sollten auch ein wenig ruhen.”
“Nicht doch, Amme", erwiderte die sanfte Frau; “ich bedarf's noch nicht; ich sitze hier ja gut in meinem weichen Sessel.”
“Aber die vielen Naechte durch! Es ist doch nimmer ein Schlaf, wenn der Mensch nicht aus den Kleidern kommt.” Und nach einer Weile setzte sie hinzu: “Es hat nicht immer solche Stiefmuetter gegeben hier im Schloss.”
“Du musst mich nicht so loben, Amme!”
“Kennt Ihr denn nicht die Geschichte von dem Spiegel des Cyprianus?” sagte wiederum die Alte; und als die Graefin es verneinte, fuhr sie fort: “So will ich sie Euch erzaehlen; es hilft die Gedanken zerstreuen. Und seht nur, wie das Kind schlaeft, der Atem geht ganz ruhig aus dem kleinen Mund! —Nehmt noch dies Kissen unterm Kreuz, und nun die Fuesschen auf den Schemel hier!—Und nun wartet ein Weilchen, dass ich mich recht besinne.”
Dann, als die Graefin sich in die Kissen gesetzt und ihr freundlich zugenickt hatte, begann die erfahrene Dienerin des Hauses ihre Erzaehlung:
“Vor ueber hundert Jahren hat einmal eine Graefin in diesem Schloss gelebt; die ist von allen Leuten nur die gute Graefin genannt worden. Der Name hat auch rechtgehabt; denn sie ist demuetig in ihrem Herzen gewesen und hat die Armen und Niedrigen nicht gering geachtet. Aber eine frohe Graefin ist sie nicht gewesen. Wenn sie unten im Dorf hilfebringend in die Wohnungen der Kaethner gegangen, so hat sie mit Leid auf die Haeuflein der Kinder geblickt, die ihr oft den Eingang in die niedrigen Tueren versperrten, und dabei gedacht: 'Was gaebst du nicht hin um ein einziges solcher pausbaeckiger Englein!' Denn schon zehn Jahre lebte sie mit ihrem Gemahl; aber ihre Ehe blieb ungesegnet; auch war ihr nicht, wie Euer Gnaden, ein mutterlos Kind vom Herrgott in den Arm gelegt, dem sie den Schatz ihrer Liebe haette schenken koennen. Der Graf, sonst ein gerechter Mann und der guten Graefin in Treue zugetan, hatte begonnen mitunter finster drein zu sehen, dass ihm der Erbe seiner grossen Herrschaft noch immer nicht geboren wurde.—Du lieber Gott!”—unterbrach sich die Erzaehlerin—“den Reichen fehlt's; und die Armen wuenschen oft vergebens, dass sie von ihrem Haeuflein ein Englein oder zwei im Himmel haetten, die droben fuer sie beten koennten.”
“Erzaehle weiter!” bat ihre Herrin; und die Alte fuhr fort:
Es ist in der letzten Zeit des grossen Krieges gewesen, und das Schloss hier noch oft von Feindes und Freundes Truppen ueberzogen worden, da hat es sich eines Tages begeben, dass ein alter Arzt, der mit den Schweden ins Land gekommen, bei einem Gefecht, dort hinten an dem Wald, von einer kaiserlichen Kugel verwundet worden, waehrend er des Ausgangs harrend bei seinen Theriatskasten Wache hielt. Der Mann, welcher Cyprianus geheissen, ist hier ins Schloss getragen und, obwohl die Herrschaft gut kaiserlich gewesen, von der guten Graefin mit grosser Hingebung gepflegt worden. Sie hat eine glueckliche Hand gehabt; doch ist viel Zeit darueber hingegangen. Der Friede ist schon geschlossen gewesen, als sie noch oft in dem kleinen Wuerzgaertlein hinter dem Schloss an der Seite des genesenden Greises auf und ab gewandelt ist und seinen Reden von den Kraeften und Geheimnissen der Natur gelauscht hat. Manchen Wink und manches Heilmittel aus den Kraeutern der Berge hat er ihr angegeben, das spaeter ihren Kranken zugute kommen konnte. Und so ist allmaehlich zwischen der schoenen Frau und dem alten weisen Meister eine gegenseitige dankbare Freundschaft entstanden.
Um diese Zeit ist auch der Graf, welcher seit einem Jahr in der Armee des Kaisers mit zu Feld gelegen, auf sein Schloss zurueckgekehrt. Als nun die erste Freude des Wiedersehens vorueber war, glaubte der Arzt mit seinen forschenden Augen den Zug eines stillen Kummers in dem Gesicht der guten Graefin zu erkennen; doch die Bescheidenheit des Alters hatte immer noch eine Frage darueber auf seinen Lippen zurueckgehalten. Als er aber eines Tages ein Weib von den schwarzen fahrenden Leuten, die derzeit unter ihrem Herzog Michel durch das ganze Reich zogen, aus ihrer Kammer schluepfen sah, da hat er abends beim Lustwandeln in dem Gaertlein ihre Hand genommen und ihr eindringlich zugeredet: “Ihr wisst, gnaedige Graefin, ich trage ein vaeterlich Herz zu Euch; so sagt mir auch, was liesset Ihr um Mittag, da Euer Herr sein Schlaefchen tat, die arge Heidin in Eure Kammer?”
Die gute Graefin erschrak; aber als sie in das milde Gesicht des Greises sah, da sprach sie: “Ich habe ein grosses Leid, Meister Cyprianus, und moechte wissen, ob noch eine Zeit kommt, wo es von mir genommen waere.”
“So oeffnet mir Euer Herz!” entgegnete er; “vielleicht, dass ich bessern Rat weiss als jene fahrenden Leute, die wohl den Betrug der Leichtglaeubigen, aber keineswegs die Zukunft verstehen!”
Auf diese Worte hat die Graefin dem alten Meister ihren Kummer vertraut, und wie sie durch ihre Kinderlosigkeit sogar das Herz ihres Gemahls zu verlieren fuerchte.
Sie gingen waehrenddessen an der Umfassungsmauer des Gaertleins entlang, und Cyprianus schaute ueber die unten liegenden Waelder hinaus, auf die schon der rote Abendschein sich legte. “Die Sonne scheidet", sprach er; “und wenn sie morgen emporsteigt, so muss sie mich auf der Reise nach meinem Heimatland sehen. Aber ich schulde Euch Leben und Gesundheit, und so will ich denn gebeten haben, wollet eine Dankesgabe, die ich durch sichere Hand aus der Heimat an Euch senden werde, nicht verschmaehen.”
“So muesst Ihr wirklich fort, Meister Cyprianus?” rief die trauemde Frau. “Da wird mein liebreichster Troester mich verlassen!”
“Klagt darueber nicht, Frau Graefin!” entgegnete er; “die Gabe, von der ich sprach, ist ein speculum, zu deutsch ein Spiegel, unter sondrer Kreuzung der Gestirne und in der heilbringendsten Zeit des Jahres gefertigt. Wollt ihn in Eure Kammer stellen und dort nach Frauen Art gebrauchen, so duerfte er Euch bald bessere Kunde bringen als die truegerischen Leute der Haide.—Man haelt mich", setzte der Greis geheimnisvoll laechelnd hinzu, “in meiner Heimat fuer nicht unkundig der Dinge der Natur.” Die Erzaehlerin unterbrach sich.—“Ihr wisst wohl, gnaedige Graefin, dass der Name Cyprianus spaeter im ganzen Norden als eines maechtigen Zauberers bekannt geworden ist. Die Buecher, die er geschrieben, hat man nach seinem Tod in dem unterirdischen Gewoelbe eines Schlosses an Ketten gelegt, weil man geglaubt hat, es seien boese, das Heil der Seele gefaehrdende Dinge darin enthalten. Aber die das getan, haben sich geirrt, oder sie sind selbst nicht reinen Herzens gewesen; denn—wie Cyprianus waehrend seines Aufenthalts in diesem Haus oft gesagt haben soll—'die Kraefte der Natur sind niemals boese in gerechter Hand.'“
Aber ich will in meiner Geschichte fortfahren.—Einige Monde spaeter, nachdem der Meister unter trostvollem Zuspruch an die beiden Ehegatten das Schloss verlassen hatte, hielt eines Tages ein Waegelchen mit einer grossen Holzkiste auf dem Hof; und da der Graf und seine Gemahlin, welche in der Nachmittagsstunde muessig am Fenster standen, von Neugierde getrieben hinabgegangen waren, war ihnen von dem Fuhrmann ein auf Pergament geschriebener Brief des Cyprianus ueberreicht. Die Kiste aber enthielt die bei seinem Abschied verheissene Dankesgabe. “Moege”—so lautete das Schreiben—“dieser Spiegel so viele Tage der Freude eurem Leben zulegen, als er mich Stunden heiligster Arbeit gekostet hat. Wollt aber nicht vergessen, das Letzte in allen Dingen steht allezeit in der Hand des unergruendlichen Gottes.—Nur eines ist zu verhueten. Niemals darf das Bild einer argen Tat in diesen Spiegel fallen; die heilsamen Kraefte, welche bei seiner Anfertigung mitgewirkt haben, wuerden sich sonst in ihr Widerspiel verkehren; insonders moechte den Kindern, so—das walte Gott!—euch bald umgeben werden, daraus eine toedliche Gefahr erwachsen, und nur eine Suehne, aus des Uebeltaeters eigenem Blut entsprossen, vermochte die Heilkraft des Spiegels wieder herzustellen. Allein die Guete eures Hauses ist so gross, dass solches nicht geschehen kann; und somit wollt in Hoffnung und Vertrauen diese Gabe aus der Hand eines dankbaren Freundes empfangen.”
Und wie der Meister es gewollt, in Hoffnung und Vertrauen empfingen die Ehegatten sein Geschenk. Als die Kiste in den Flur getragen und geoeffnet war, zeigte sich zuerst ein Gestell, kuenstlich in Bronze gearbeitet. Dann hob man den Spiegel heraus; ein hohes schmales Glas von einem wunderbar blaeulichen Lichtglanz. “Ist es nicht, mein Gemahl", rief die Graefin, die einen Blick hineingeworfen, “als liege die drinnen abgespiegelte Welt in sanftem Mondenschein?” Der Rahmen war von geschliffenem Stahl, in dessen tausenden Facetten der gefangene und gebrochene Lichtstrahl wie in farbigem Feuer blitzte.
Bald war das schoene Werk in dem Schlafgemach der Eheleute aufgestellt; und an jedem Morgen, waehrend die Dienerin ihr das blonde Haar straehlte oder die seidene Flechte in einen Knoten legte, sass die gute Graefin mit gefalteten Haenden vor dem Spiegel des Cyprianus und schaute andaechtig und voll Hoffnung in ihr eigenes liebes Antlitz. Wenn aber die Fruehsonne auf die Facetten des Rahmens leuchtete, dann sass das Bild der schoenen Frau wie in einem Kranz von Sternenfunken. Oft nach seinem ersten Gang durch Feld und Wald trat ihr Gemahl wieder in das Schlafgemach und lehnte schweigend hinter ihrem Stuhl; und wenn sie ihn dann im Spiegel sah, so meinte sie jedes Mal, dass seine Augen weniger finster blickten.
Eine geraume Zeit war vergangen, als die Graefin eines Morgens, da die Kammerzofe sie schon verlassen, im Voruebergehen noch einen Blick in den Spiegel tun wollte. Aber es schien ein Hauch auf dem Glas, so dass sie ihr Antlitz nicht deutlich zu sehen vermochte. Sie nahm ihr Schweisstuechlein und suchte es fortzuwischen; aber es half nicht; und sie sah nun wohl, dass es nicht ober-, sondem innerhalb des Glases war. Naeherte sie sich dem Spiegel, so trat ihr Antlitz klar daraus hervor; wenn sie aber weiter zuruecktrat, so schwamm es wie ein rosiger Duft zwischen ihr und ihrem Spiegelbild.—Sinnend steckte sie ihr Tuechlein ein und ging den Tag ueber schweigend und voll stiller Ahnung im Haus umher, so dass ihr Gemahl, der ihr im Korridor begegnete, ausrief: “Was laechelst du denn so selig, Herzensfrau?”—Sie schwieg noch immer und legte nur die Arme um seinen Hals und kuesste ihn.
Tag fuer Tag aber, wenn ihr Gemahl und die Dienerin sie verlassen, stand sie in der Einsamkeit vor dem Spiegel des guten Meisters, und mit jedem Morgen sah sie das Rosenwoelkchen deutlicher hinter dem Glas schwimmen.
So war der Mai gekommen, und von draussen aus dem Gaertlein wehte der Veilchenduft durchs offene Fenster; da trat die gute Graefin eines Morgens wieder vor den Spiegel. Kaum hatte sie hineingeblickt, da brach ein 'Ach!' des Entzueckens aus ihren Lippen, und ihre Haende fuhren nach dem Herzen; denn in der Fruehlingssonne, die hell in den Spiegel leuchtete, erkannte sie deutlich ein schlummerndes Kinderantlitz, das aus dem Rosenwoelkchen blickte. Mit verhaltenem Atem stand sie; sie konnte sich an dem Anblick nicht ersaettigen.
Da hoerte sie von draussen vor der Bruecke Hoernerschall, und sie entsann sich, es muesse ihr Gemahl sein, der von der Jagd zurueckkehrte. Sie schloss die Augen und blieb wartend stehen, bis er, gefolgt von seinem Hund, zu ihr ins Gemach trat. Dann umfing sie ihn mit beiden Armen, und in den Spiegel zeigend, sprach sie leise: “Dich gruesst der Erbe deines Hauses! ”—Nun hatte der gute Graf auch das kleine Antlitz in dem Rosenwoelkchen erkannt; aber, der Freudenblitz aus seinen Augen verschwand auf einmal, und die Graefin sah im Spiegel, wie er erblasste. “Siehst du es denn nicht?” fluesterte sie.
“Ich sehe es freilich, Herzensfrau", erwiderte er; “aber es erschreckt mich, dass das Kindlein weint.”
Sie kehrte sich zu ihm und wiegte das Haupt. “Du toerichter Mann", sprach sie, “es schlummert, es laechelt ja im Traum.”
Und so blieb es mit den beiden. Er ging in Sorge; sie aber ruestete heiteren Sinnes mit ihrer Schaffnerin die Wiege nebst den Daunenkissen und den kleinen zarten Gewaendern fuer den kuenftigen Erben des Hauses. Mitunter, wenn sie vor dem Spiegel stand, streckte sie wohl wie in traumhafter Sehnsucht ihre Arme nach dem Rosenwoelkchen aus, aber wenn dann ihre Finger an die kalte Spiegelflaeche stiessen, so liess sie die Arme wieder sinken und gedachte an ein Wort des Cyprianus: 'Es will alles seine Zeit.'
Und auch ihre Stunde kam. Das Woelkchen im Spiegel verschwand, und statt dessen lag ein rosiger Knabe auf dem weissen Leintuch ihres Bettes. Das gab grosse Freude im Schloss und drunten im Dorf, und als der gute Graf morgens durch seine lachenden Fluren ritt, da liess er dem wiehernden Goldfuchs die Zuegel schiessen und rief es jubelnd in den Sonnenschein hinaus: “Mir ist ein Sohn geboren!”
Nachdem die Graefin als Sechswoechnerin ihren Kirchgang gehalten, sah man sie wiederum an warmen Sommertagen in die Kaethnerhaeuser des Dorfes gehen; nur dass sie jetzt nicht mehr in Leid auf die Bauernkinder herabsah. Sie stand oft lange und bueckte sich zu ihnen und wies sie an in ihren Spielen; und wo sie einen recht kraeftigen Jungen sah, da dachte sie auch wohl: “Der Meine ist ihm doch noch ueber!”
Aber, wie Cyprianus geschrieben hatte, das Letzte ruht in der Hand des unerforschten Gottes.—Mit dem Herbst fiel ein boeses Fieber ueber das Dorf; die Menschen starben; doch ehe sie starben, lagen sie verschmachtend und hilfeflehend auf ihrem Lager. Und die gute Graefin liess nicht auf sich warten. Mit den Arkanen des alten Meisters ging sie in die Huetten; sie sass an den Betten der Kranken und wischte, wenn es zum Sterben ging, mit ihrem Tuechlein den letzten Schweiss von ihren Stirnen. Endlich aber, da der kleine Kuno die Haelfte seines ersten Jahres erreicht hatte, schritt der Tod, dem sie so manches Leben entrissen hatte, mit ihr selber nach dem Schloss hinauf; und nachdem ihre armen Wangen im Fieber wie zwei dunkle Rosen gebrannt hatten, streckte er sie weiss und kalt auf ihrem Lager aus. Da war alle Freude ausgetan. Der Graf ritt mit gesenktem Haupt durch seine Fluren und liess sein Ross die Wege, die es wollte, suchen. “Nun weiss ich, warum mein armes Knaeblein schon vor der Geburt hat weinen muessen", so sprach er immer wieder bei sich selbst; “denn Mutterlieb ist nur einmal auf der Welt.”
Einsam stand der kunstreiche Spiegel in dem Schlafgemach; und wie oft auch die Fruehsonne ihre Funken auf den Stahlkranz des Rahmens streute, das Bild der guten Graefin sass nicht mehr darin. “Trage ihn fort", sagte der Graf eines Morgens zu seinem alten Hausmeister; “das Blitzen tut meinen Augen weh!”—Der Hausmeister liess den Spiegel in ein entlegenes Gemach des oberen Stockwerkes bringen, das derzeit zur Aufbewahrung allerlei alten Gewaffens diente; und als die Diener, die ihn hinaufgetragen, sich entfernt hatten, holte der alte Mann ein schwarzes Bahrtuch vom Begraebnis der guten Graefin und verhing damit das Kunstwerk des Meisters Cyprianus, so dass kein Lichtstrahl fuerder es beruehren konnte.
Allein der Graf war noch jung; und als ein paar Jahre ins Land gegangen waren und der kraeftige Knabe anfing, in den weiten Korridoren des Schlosses umherzutoben, da dachte der Graf: “Es ziemte sich, dass du deinem Sohn eine neue Mutter suchtest, die ihn aufzoege in edler Sitte, wie es sich fuer deinen Erben ziemt.” Und weiter dachte er: “Am Hofe des Kaisers sind viel holde Frauen; es sollte schlimm kommen, so du nicht die rechte faendest.” Auch eine Stimme war in seinen Ohren, die sprach: “Eine Mutter fuer das Kind, ein Weib fuer dich; denn Frauenliebe ist ein suesser Trank!”
“Und so, als wieder einmal der Mai gekommen war, wurde das Reisezeug geruestet, und der Graf zog mit seinem Knaben, von stattlicher Dienerschaft begleitet, nach der grossen Stadt Wien.
“Lange blieben sie aus, und der alte Hausmeister ging in den hohen leeren Gemaechem umher und liess die Fenster aufsperren, damit das Geraete, das einst der guten Herrin gedient, in der eingeschlossenen Luft nicht zugrunde gehe. Endlich aber, da schon die Herbstfaeden ueber die Felder flogen, gelangten nacheinander viele Kisten mit kostbaren Teppichen, goldgepressten Ledertapeten und allerart modischen Dingen an, wie es von dem Gesinde dort nie zuvor gesehen war, und der Hausmeister erhielt Befehl, die grossen Gemaecher des Erdgeschosses fuer die neue Herrin zu bereiten.”
Die alte Erzaehlerin hielt einige Augenblicke inne; denn der kleine Kranke hatte im Schlaf das Deckbett abgestossen. Dann aber, als sie ihn sorgfaeltig wieder zugedeckt, und da der Knabe fort schlief, begann sie wieder:
“Ihr kennt sie, gnaedige Graefin; das lebensgrosse Frauenbild, das im Rittersaal oben neben dem Kamin haengt, soll ihr aehnliches Konterfei sein. Es ist ein Fuechschen mit goldroetlichem Haar, wie sie den Maennern, besonders den aelteren, so gefaehrlich sind. Ich habe sie mir oft drauf angesehen; wie sie den Kopf so leicht zurueckwirft, und wie der Mund so suess und hinterhaeltig laechelt und das goldfarbige Haar in freien Liebeslocken ueber den weissen Nacken weht, da haette vielleicht auch ein kuehleres Blut als das des guten Grafen nicht zu widerstehen vermocht.—Ich will nur das noch sagen, sie ist eine junge Wittib gewesen; und soll ein Kind aus dieser ersten Ehe, ein Toechterlein, bei den Verwandten ihres verstorbenen Gemahls in der Kaiserstadt zurueckgelassen haben. So viel ist gewiss, auf das Schloss hier ist diese Tochter nie gekommen.”
Nun aber! Endlich rasselten die Wagen in den Schlosshof; und das versammelte Gesinde sah staunend zu, wie der Graf und eine fremdredende Kammerjungfer der Dame aus dem Wagen halfen. Und als sie nun in ihrem mandelfarbenen Seidenkleid mit leichtem Kopfneigen die Treppe emporschritt, da hoerte ihr feines Ohr manch leis gerauntes Wort ueber die Schoenheit der neuen Herrin.
Erst als die Dame in der Tuer verschwunden war, kam aus dem nachfolgenden Gesindewagen der kleine Kuno hervorgeklettert. “Ei, Junker", rief eine rotwangige Magd ihm zu, “habt Ihr eine schoene Mutter jetzt!” Aber der Knabe runzelte die Stirn und sagte trotzig: “Es ist nicht meine Mutter!” Und der alte Hausmeister, der eben von der Begleitung der Herrschaft zurueckkam, sagte finster zu der Dirne: “Siehst du denn nicht, dass das der Sohn der guten Graefin ist!” Und dem Knaben zaertlich in die blauen Augen sehend, nahm er ihn auf seinen Arm und trug ihn in sein vaeterliches Haus.
Dort wartete denn von nun an die fremde Frau. Das Gesinde pries ihre Leutseligkeit, und die Armen im Dorf meinten bald, sie habe eine noch freigebigere Hand als die Verstorbene; nur auf die Kinder sehe sie gar nicht, und auch seine Not koenne man ihr so nicht klagen wie einst der guten Graefin.—Waehrend sie aber die meisten der Schlossbewohner mit ihrer Schoenheit bestrickte, hatte der Hausmeister nur kalte Blicke fuer sie; es missfiel ihm, dass sie auch an Werktagen, wie er sagte, 'geschmueckt wie eine Jesabel' einherging. Er traute den Liebkosungen nicht, womit sie zuweilen in seiner und des Grafen Gegenwart den kleinen Kuno ueberschuettete. Und auch den Knaben selbst gewann sie nicht damit; er hatte fuer sie nichts als ein schweigendes Anstarren; und wenn ihre Arme und Augen ihn losliessen, so rannte er hinaus ins Freie, holte seine kleine Armbrust und schoss nach einem Holzvogel, den der Hausmeister ihm geschnitzt hatte; oder er sass abends in der Stube seines alten Freundes und bilderte in einem grossen Buch von den Freuden des edlen Waidwerks. —Der gute Graf aber sah nichts als die Schoenheit seines Weibes. Wenn er in das Zimmer und ihr entgegen trat, so stand sie laechelnd, bis er sie umfing; hatte sie der Tuer den schoenen Nacken zugewandt, so hob sie wohl das Handspieglein, das ihr an goldner Kette vom Guertel herabhing, aus den Falten ihres Seidenrockes und nickte dem Eintretenden daraus entgegen.
Als aber das Fruehjahr wiederkam, da befiel den Knaben ein Fieber, das er sich im feuchten Moose des Waldes geholt hatte, und er lag in unruhigem Krankenschlummer in seinen Kissen. Neben dem Bett stand der Stuhl der guten Graefin mit der geschnitzten Lehne und dem blauen Samtpolster, auf dem sie so oft vor dem Spiegel des Meisters Cyprianus gesessen hatte, einst als in der Fruehlingsluft die Veilchenduefte zu ihr ins offene Fenster wehten. Jetzt bluehten draussen wieder einmal die Veilchen; aber der Stuhl stand leer. Die schoene Stiefmutter war zwar auch zugegen und sass neben dem Grafen zu Fuessen des kleinen Bettes; denn sie sah es wohl, wie der Vater um sein Kind sorgte, und wollte es an sich nicht fehlen lassen. Da rief der Knabe aus seinem Fieber: 'Mutter, Mutter!' und hob sich mit offenen Augen aus seinen Kissen. 'Hoerst du, mein Gemahl!' sagte die schoene Frau, 'unser Sohn verlangt nach mir!' Als sie aber auf stand und sich zu ihm neigte, da streckte das Kind an ihr vorbei seine Arme nach dem leeren Stuhl der guten Graefin.
Der Graf erblasste, und von dem Leid ploetzlicher Erinnerung bezwungen, fiel er neben dem Bett seines Sohnes in die Knie. Die stolze Frau trat zurueck, und indem sie heimlich die kleine Faust um ihren Guertel ballte, verliess sie das Gemach, um es nicht wieder zu betreten. Doch der Knabe wurde gesund auch ohne ihre Pflege.
Bald darauf, als draussen die Rosenknospen ausschlugen, genass die Graefin eines Soehnleins. Der Graf aber wusste nicht, weshalb es ihm so schwer aufs Herz fiel, als der kleine Kuno ihm mit dieser Nachricht entgegensprang. Zwar liess er auch jetzt sein Ross aus dem Stall fuehren, um mit seinen Gedanken in die Heide hinaus zu reiten; aber nicht, um sie jubelnd ueber Flur und See zu rufen. Als er eben im Buegel sass, hob der alte Hausmeister den kleinen Kuno zu ihm auf den Sattel und sagte: 'Vergesst den Sohn der guten Graefin nicht!' Der Vater schloss die Arme um sein Kind und ritt mit ihm Berg auf und ab, bis die Sonne hinabgesunken war; als sie aber bei der Heimkehr unter den Fenstem der Kapelle vorueber ritten, in der die graeflichen Grabgewoelbe waren, da liess er sein Ross langsamer gehen und raunte in das Ohr des Knaben: 'Vergiss ihrer nicht; denn Mutterliebe ist nur einmal der auf Welt!'—Als bei seinem Eintritt in das Zimmer der Woechnerin die Wartefrau den Neugeborenen in seine Arme legte, ueberfiel ihn aufs neue das Heimweh nach der Toten, und er wusste es ploetzlich, dass sie doch allein die Frau seines Herzens gewesen war; der Knabe, obwohl sein eigen Blut, war ihm wie fremd, weil er nicht auch aus ihrem Blut war.—Die Augen der Graefin, welche bald schoener als je aus ihren Wochen erstanden war, uebten fuerder keinen Zauber mehr auf ihn. Einsam ritt er durch die Felder; ein Wort des Meisters Cyprianus stand wie in dunkler Schrift vor seinen Augen: 'Rueckwaerts zu leben ist auch durch Gottes Hilfe nicht vergoennt!'
Indessen wuchsen die beiden Knaben zusammen auf, und bald zeigte sich eine grosse Liebe zwischen ihnen. Als der kleine Wolf erst mit ins Freie konnte, wurde Kuno sein Lehrer in allen Kuensten, die von den Knaben geuebt werden. Er liess ihn ueber Felsen und auf Baeume klettern, er schnitzte ihm die Bolzen fuer seine kleine Armbrust und schoss mit ihm nach der Scheibe oder wohl gar nach dem unerreichbaren Raubvogel, der ueber ihnen im Sonnenglanz revierte.
So war wieder einmal der Winter herangekommen, als eines abends ein Mann in der Uniform eines kaiserlichen Feldobristen mit seinem Diener in den Schlosshof geritten kam.—Hager hat er geheissen, und ein hagerer knochiger Mann soll es gewesen sein, mit eckiger Stim und kleinen grimmigen Augen; der struppige strohgelbe Bart—so heisst es—habe ihm wie Strahlen vom Kinn und von den Nasenfluegeln abgestanden. Er nannte sich einen Vetter von dem ersten Gemahl der Graefin und war, wie er sagte, nur auf Besuch gekommen; aber er blieb von einer Woche in die andere und wurde allmaehlich als ein staendiger Hausgenosse angesehen. —Der Graf hatte sich anfaenglich um den Besuch gar nicht gekuemmert; aber der Obrist zeigte sich bald als einen Meister des edlen Waidwerks, und als der erste Schnee gefallen war, zogen die beiden Maenner zusammen in das Tannendickicht, und von nun an hoerte man fast taeglich das Toben der Rueden und das 'Ho Ridoh' der Jaeger durch den stillen Wald. Da eines Nachmittags bei einer Sauhatz toente das Hifthorn des Obristen aus einem entlegenen Talgrund, wohin er ohne Gefolge mit dem Grafen sich verloren hatte; und als der Ruedenmann und die Jaeger, dem Ruf folgend, dort zusammentrafen, sahen sie das Wildschein verendet zwischen den Tannen liegen; daneben aber lag auch der Graf in seinem Blut. Der Obrist stand auf seinen Jagdspeer gelehnt, das Hifthorn in der Hand. 'Eure Saufedern taugen nichts', sagte er kurz, 'der Keiler hat sie abgeschlagen'; und als alle von Schreck gelaehmt dastanden, blitzte er sie mit seinen kleinen grimmen Augen an: 'Was steht ihr noch! Brecht Zweige zu einer Bahre und tragt euren Herrn ins Schloss!' Und die Leute taten, wie er befohlen hatte.
Der Graf aber ist nicht wieder mit dem Oberst auf die Jagd gezogen. Denn als der alte Hausmeister den Reitknecht nach einem Arzt entsenden wollte, damit die Wunde untersucht wuerde, erhielt er den Bescheid, der Arzt sei nimmer noetig, der Graf sei schon verschieden.
Und bald ruhte er im Grabgewoelbe bei seiner guten Graefin, und der kleine Kuno war ein vater-und mutterloses Kind. Der Obrist aber blieb nach wie vor im Schlosse, und die Graefin duldete es, dass unmerklich ein Stueck des Hausregiments nach dem andern in seine Hand ging. Das Gesinde murrte zwar, wenn er sie mit seiner scharfen Stimme anherrschte; aber sie wagten es gleichwohl nicht, sich dem grimmen Manne zu widersetzen.—Auch mit den beiden Knaben machte er sich zu schaffen. Eines Morgens, als Kuno in den Stall hinabkam, stand neben dem Rappen des Obersten ein kleines schwarzes Nordlandsross mit roter goldgestickter Schabracke. 'Das ist dein eigen', sagte der Oberst, der mit hineingetreten war, 'klettere hinauf, so zeig ich dir, wie ein Mann zu Pferde sitzen muss.' Bald sorgte er, dass auch der kleine Wolf ein Ross bekam, und nun lehrte er die beiden Reiten nach den Regeln der Kunst. Nicht lange, so sah man den hagern Obristen auf seinem hochbeinigen Rappen zwischen den beiden Knaben auf ihren kleinen Nordlandsrossen ueber die Felder reiten. Aber seltsame Reden waren es, die er dabei mit ihnen fuehrte. Wenn sie, wie es bei Kindern geschieht, einmal in Zank gerieten, so bueckte er sich von seinem hohen Rappen und fluesterte dem aeltem zu: 'Du bist der Herr; vom Hof kannst du den Burschen jagen!' und darauf zu dem juengern nach der andern Seite: 'Er will's dir zeigen, dass du auf seinem Grund und Boden reitest!' Aber dergleichen Worte bewirkten nur, dass die Knaben sogleich von ihrem Streite abliessen, ja wohl gar von ihren Rossen sprangen und sich weinend in die Arme fielen.
Der Obrist sah scharf; er hatte es wohl bemerkt, wie die Augen der schoenen Graefin, wenn sie den Stiefsohn mit ihrem eignen aus der Tuer gehen sah, von ploetzlicher Finsternis befallen wurden, und wie dann ihre Blicke dem Fortgehenden hastig und feindselig nachjagten.
An einem sonnigen Nachmittage stand er mit ihr in dem Wuerzgaertlein, wo einst die gute Graefin der Weisheit des Meisters Cyprianus gelauscht hatte. Als die stolze Frau ueber die Ringmauer auf die unten liegenden Waelder und Auen hinaussah, sagte er lauernd: 'Der Kuno tritt eine schoene Herrschaft an, wenn er zu seinen eigenen Jahren kommt.' Und als sie schwieg und nur mit finstern Augen in die Ferne starrte, setzte er hinzu: 'Euer Wolf ist ein zartes Pflaenzlein; aber der Kuno scheint fuers Regiment geboren; langlebig und handfest schaut er aus.'
In diesem Augenblicke kamen auf der Wiese, die in der Tiefe unterhalb des Gaertleins lag, die beiden Knaben auf ihren Rossen dahergeflogen. Sie ritten so dicht nebeneinander, dass die braunen Locken Kunos mit den blonden des kleinen Wolf zusammenwehten. Das Ross des letztern schuettelte die Maehne und wieherte laut in den Sonnenschein hinaus. Da erschrak die Mutter und stiess einen Schrei aus; aber Kuno schlang den Arm um seinen Bruder, und indem sie voruebertrabten, warf er einen stolzen leuchtenden Blick zu den Obenstehenden hinauf.
“Wie gefallen Euch diese Augen, schoene Graefin?” fragte der Oberst.
Sie stutzte und streifte mit einem unsichern Blick ueber ihn hin.
“Wie meint Ihr das?” fluesterte sie dann.
Er aber, die Hand am Kinn, erwiderte ebenso: “Rechnet auf mich, schoene Frau; der Oberst Hager ist Euer treuergebener Knecht.”
Da raunte sie, und er sah, wie ihr Antlitz totenbleich wurde: “Die Augen wuerden mir besser noch gefallen, wenn sie geschlossen waeren.”
“Und was gaebt Ihr drum, wenn Ihr sie in solcher Schoenheit erblicken koenntet?”
Sie legte einen Augenblick ihre weisse Hand in die seine; dann warf sie die glaenzenden Locken zurueck und schritt, ohne sich umzublicken, aus dem Gaertlein.
Als eine Stunde spaeter der kleine Kuno durch die Korridore des obem Stockwerks streifte, sah er den Obristen in einer Fensternische stehen. Der Knabe wollte vorueber; denn der Mann schaute so unheimlich drein. Aber er wurde angerufen: “Wohin rennst du, Junge?”
“Nach der alten Ruestkammer", sagte Kuno, “ich wollte meine Armbrust holen.”
“So gehe ich mit dir.” Und der Oberst schritt neben dem Knaben her bis zu dem entlegenen Gemache, wo noch immer mit dem schweren Bahrtuch verhangen unter allerlei Gewaffen der Spiegel des Cyprianus stand. Als sie eingetreten waren, schob der Oberst den Eisenriegel vor und stellte sich mit dem Ruecken gegen die Tuer. Da aber der Knabe die wilden Augen des Mannes sah, schrie er: “Hager, Hager, du willst mich toeten!”
“Du kannst nicht uebel raten", sagte der Oberst und griff nach ihm. Aber der Knabe sprang unter seinen Haenden fort und riss seine gespannte Armbrust von der Wand, die er tags vorher dorthin gehangen hatte. Er schoss, und den Eindruck seines Bolzens koennt Ihr noch heutzutage in dem schwarzen Eichengetaefel sehen; aber den Obristen traf er nicht.
Da warf er sich in die Knie und rief: “Lass mich leben; ich schenke dir mein kleines Nordlandsross und auch das schoene rote Sattelzeug!”
Der finstere Mann stand mit untergeschlagenen Armen vor ihm. “Dein Nordlandsross", erwiderte er, “laeuft mir noch lange nicht schnell genug.”
“Lieber Hager, lass mich leben!” rief der Knabe wieder; “wenn ich gross bin, will ich dir mein Schloss geben und alle schoenen Waelder, die dazu gehoeren!”
“Die will ich baelder noch bekommen", sagte der Oberst.
Da senkte der Knabe das Haupt und rief: “So ergebe ich mich in die Allbarmherzigkeit Gottes!”
“Das war das rechte Wort!” sagte der boese Mann. Aber der Knabe sprang noch einmal auf und flog an den Waenden des Gemaches entlang; der Oberst jagte ihn wie ein Wildpret. Als sie aber an den verhangenen Spiegel kamen, verwickelte der Knabe seine Fuesse in dem Bahrtuch, dass er jaehlings zu Boden stuerzte. Da war auch der boese Mann ueber ihm.-In demselben Augenblick—so wird erzaehlt—als dieser zum Faustschlage ausholte und der Knabe die kleinen Haende schuetzend ueber seinem Herzen kreuzte, stand der alte Hausmeister tief unten im hintersten Verschlage des Kellers, wo ein Knecht mit der Abzapfung eines Fasses Ingelheimer beschaeftigt war. “Hast du nichts gehoert, Casper?” rief er und setzte das Laempchen, das er in der Hand gehalten, auf das Fass.
Der Knecht schuettelte den Kopf. “Mir war", sagte der Alte, “als hoerte ich den Junker Kuno meinen Namen rufen.”
“Ihr irrt Euch, Meister", erwiderte der Knecht; “hier unten hoert sich nichts!”
Eine Weile stand es an; da rief der Alte wieder: “Um Gott, Casper, da hat es nochmals mich gerufen; das war ein Notschrei aus meines Junkers Kehle!”
Der Knecht fuhr in seiner Arbeit fort. “Ich hoere nur den roten Wein vom Fasse rinnen", sagte er.
Der Alte aber liess sich nicht beruhigen; er stieg in das Schloss hinauf; er ging von Tuer zu Tuer, erst in dem Erdgeschoss und dann droben in dem oberen Stockwerk. Als er die Tuer der entlegenen Ruestkammer oeffnete, da leuchtete ihm der Spiegel des Cyprianus entgegen, auf den die Abendsonne schien. “Wessen ruchlose Hand hat denn das herabgerissen?” murrte der Alte; als er aber das Bahrtuch vom Boden hob, sah er darunter den Leichnam des Knaben und sah die dunkeln Locken ueber den geschlossenen Augenlidern liegen.
Der alte Mann stuerzte in die Kniee und warf sich jammernd ueber ihn. Er loeste die Kleider und suchte an dem Koerper seines Lieblings nach der Spur des Todes. Aber er fand nichts als nur ueber dem Herzen einen dunkelroten Flecken. Lange blieb er noch finster und gruebelnd auf den Knien liegen. Dann huellte er den Knaben in das Bahrtuch, nahm ihn auf seine Arme und trug ihn in das Erdgeschoss hinab nach dem Zimmer der Graefin. Als er eintrat, sah er die stolze Frau todbleich und zitternd vor dem Obersten stehen, der, wie es schien, halb mit Gewalt ihre Hand erfasst hielt.
Da legte der Alte den Leichnam zwischen die beiden auf den Boden, und fest die Augen auf sie heftend, sprach er: “Der Erbherr Graf Kuno ist tot; Euer Soehnlein, Frau Graefin, ist jetzt der Erbe dieser Herrschaft.”
Es mochte ein Monat nach dem Begraebnis des jungen Erbherrn sein, da lehnte die Graefin eines Nachmittags an dem Gelaender eines kleinen Soellers, der ueber der Tiefe schwebend von ihrem Zimmer den Austritt in die freie Luft gestattete. Der kleine Wolf stand neben ihr und betrachtete eine Schar von Voegeln, welche in den Wipfeln der von unten heraufragenden Foehren und Eichen mit lautem Geschrei ihr Wesen trieben.
“Sieh nur!” sagte die Graefin. “Sie beschreien den Kauz; dort sitzt er neben dem Astloch in der Eiche.” Und sie wies mit dem Finger vor sich hin.
Des Knaben Augen folgten mit Begierde. “Ich seh ihn schon, Mutter", sagte er; “das ist der Totenvogel; er schrie vor meinem Fenster, als der arme Kuno starb.”
“Hol deine Armbrust und schiess ihn!” sagte die Mutter.
Der Knabe sprang aus dem Zimmer, die Treppen hinab und in den Stall. Dort lag die Armbrust neben seinem kleinen Ross. Aber die Sehne war zerrissen; er hatte sie lange nicht gebraucht; denn Kuno war nicht mehr da, der ihm die Bolzen schnitzte und den Holzvogel auf die Stange steckte.—Da lief er in das Schloss zurueck. Er entsann sich, dass der Bruder seine Armbrust oben in der Ruestkammer aufzuhaengen pflegte. Als er dort in dem entlegenen Teile des Schlosses angekommen war und sich mit Muehe durch die schwere Eichentuer gedraengt hatte, leuchtete ihm der Spiegel des Cyprianus mit seinem blaeulichen Schein entgegen. Die Stahlfacetten des Rahmens blitzten im letzten Strahl der Abendsonne. Der Knabe hatte das noch nie gesehen; denn wenn er auch einmal mit dem Bruder hierher gekommen, so war doch das Kunstwerk stets mit dem schweren Bahrtuch verhangen gewesen. Jetzt stand er davor und besah staunend sein eigenes Bild in diesem Glanze; er schien die Armbrust ganz vergessen zu haben.— Es musste indessen ausser ihm selbst noch etwas in dem Spiegel sein, das seinen ganzen Sinn gefangen nahm; denn er kniete nieder und legte die Stirn an das Glas, um so nahe als moeglich hineinzuschauen.
Ploetzlich aber griff er mit beiden Haenden nach dem Herzen. Dann sprang er mit einem Wehschrei in die Hoehe. “Hilfe!” schrie er, “Hilfe!” und noch einmal mit durchdringendem Zeter: “Hilfe!” Da hoerte es die Mutter unten auf dem Soeller; und in Todesangst irrte sie von Gang zu Gang, von Tuer zu Tuer. “Wolf! Wo bist du, Wolf?” rief sie; “so gib doch Antwort!” Und endlich kam sie in die rechte Tuer. Da lag ihr Kind, sich im Todeskampfe auf dem Boden windend.
Sie warf sich ueber ihn. “Wolf! Wolf! Was ist geschehen?”
Der Knabe regte die verblassten Lippen. “Es hat mir einen Schlag aufs Herz getan", stammelte er.
“Wer, wer tat es?” fluesterte die Mutter. “Wolf, sprich nur ein einziges Wort noch; wer hat das getan?”
Der Knabe wies mit erhobenem Finger in den Spiegel.—Und das sterbende Kind in ihren Armen haltend, blickte sie vorgebeugt in das Glas des Cyprianus. Aber waehrend des Schauens trat das Entsetzen in ihr Angesicht, und ihr lichtblaues Auge wurde steinern wie ein Diamant. Denn bei dem Abendschein, der durch die trueben Fenster brach, sah sie im tiefsten Grunde wie zusammengeballten Nebel die Gestalt eines Kindes; wie trauernd kauerte es am Boden und schien zu schlafen. Sie warf einen scheuen Blick hinter sich in das Zimmer; aber dort lag nur die Daemmerung in den Winkeln. Wieder, als ob es sie bannte, blickte sie mit gespannten Augen in den Spiegel, und noch immer war es dort.—Da fuehlte sie den Kopf des kleinen Wolf ihren Armen entgleiten, und in demselben Augenblicke sah sie einen leichten Rauch gegen das Spiegelglas ziehen. Wie ein Hauch lief es darueber hin. Dann wurde das Glas wieder klar; aber hinter demselben zog es wie ein graues Woelkchen in die Tiefe; und jetzt ploetzlich sah sie dort im Grunde des Spiegels zwei kleine Nebelgestalten, die sich umschlungen hielten.
Mit einem Schrei sprang die Graefin empor; ihr Sohn lag regungslos mit wachsbleichem Antlitz; die offenstehenden blauen Lippen verkuendeten den Tod.—Sie riss das seidene Wams von seiner Brust; da sah sie den dunkelroten Fleck auf seinem Herzen, den sie kurz zuvor auf der Brust des kleinen Kuno gesehen hatte. “Hager, Hager!” schrie sie—denn das Geheimnis des Spiegels war ihr unbekannt—“das ist deine Faust! Der war dir auch im Wege; aber noch bist du nicht der Herr im Schloss; und ich schwoer's, du sollst es nimmer werden!”
Sie ging hinab; sie suchte ihn; aber der Oberst war eben zur Jagd auf ein benachbartes Schloss geritten und hatte auf den morgenden Tag seine Rueckkunft angesagt.
Der ploetzliche Tod auch des letzten Grafensohnes verbreitete einen dumpfen Schrecken unter dem Gesinde. Auf Treppen und Gaengen standen sie und raunten miteinander, und wenn die Graefin nahte, stahlen sie sich scheu von dannen. Es wurde Nacht. Der Leichnam des kleinen Wolf war hinabgetragen und lag ausgestreckt auf seinem Bettchen in der Kammer. Aber der Graefin liess es bei dem Toten keine Ruh. Im hellen Mondenschein, waehrend alles schlief, stieg sie hinauf nach der Ruestkammer. Dort stand sie vor dem Spiegel, der in blauem Schimmer leuchtete, blickte mit starren Augen hinein und wand die Haende umeinander. Dann wieder, als jage sie ein ploetzliches Grausen, stuerzte sie aus dem Gemach und rannte durch die Gaenge, bis sie die Tuer ihres Schlafgemachs erreicht und hinter sich ins Schloss geworfen hatte.— So verging die Nacht.
Als am andern Morgen der Hausmeister in das Zimmer der Graefin treten wollte, hoerte er hart und heftig drinnen reden. Er erkannte die Stimme des Obristen, der eben zurueckgekehrt war; und bald antwortete die Graefin in gleicher Weise. Es waren Worte toedlichen Hasses, die der Alte hoerte. Kopfschuettelnd trat er von der Tuer zurueck. “Das sind die Gerichte Gottes!” sprach er und stieg ein paar Treppen hoeher nach der Platte des runden Turmes hinauf; denn ihm war, als muesse er Gottes freie Luft schoepfen.
Er lehnte sich ueber die Bruestung und blickte in den sonnigen Morgen hinaus. “Wie schoen die Waelder gruenen!” sprach er vor sich hin. “Und sie sind alle tot! Die gute Graefin und der Graf, mein Junker Kuno und nun auch der kleine Wolf!”—Da hoerte er unten auf dem Hofe ein Pferd aus dem Stalle ziehen; nicht lange darauf, so donnerte der Galoppschlag ueber die Zugbruecke; dann weniger hoerbar draussen auf dem Wege, und drueberhin aus den Kronen der alten Eichen, die zur Seite standen, flogen die Raben kraechzend in die Luft.
In demselben Augenblicke kam von unten herauf ein Geschrei der Weiber; und als der Alte hinabgestiegen war, drang es von allen Seiten auf ihn ein, die Graefin liege erschlagen in ihrem Blute.—“Wo ist der Oberst?” fragte der Hausmeister. “Fort ist er!” rief der Reitknecht, der vom Hofe heraufkam, “mitsamt seinem hochbeinigen Rappen.”
Rasch wurde die Verfolgung von dem Alten angeordnet; aber am andern Morgen kamen alle auf schaumbedeckten Rossen unverrichteter Sache wieder heim. —“So lasst uns denn die Toten begraben", sprach er, “und einen Boten senden an den neuen Herrn dieser schoenen Gueter!”
“Und so geschah es", schloss die Erzaehlerin ihren Bericht—“die Herrschaft kam an einen Vorfahren Eures Gemahls, welcher der Naechste war dem Blute nach. Der alte Hausmeister soll noch lange nach seinem Antritt dort unten in dem Torhaeuschen gewohnt haben, ein treuer Waechter an der Gruft seiner geliebten Herrschaft.”
“Das ist eine entsetzliche Geschichte!” sagte die Graefin, als die Amme schwieg. “Aber hast du nicht gehoert, wie der erste Gemahl jener ungluecklichen Frau geheissen hat?”
“Freilich", erwiderte die Alte, “ihr Witwenname steht auf dem Rahmen des Bildes.” Und hierauf nannte sie eines der ersten Adelsgeschlechter.
“Seltsam!” sagte die Graefin, “so ist sie meine Urahne!”
Die Alte schuettelte den Kopf. “Unmoeglich", sagte sie, “Ihr, Frau Graefin, aus dem Blut jener boesen Frau?”
“Es ist voellig gewiss, Amme; jene Tochter, die in Wien zurueckblieb, wurde die Frau eines meiner Vorfahren.”—Das Gespraech wurde durch den Eintritt des Arztes unterbrochen. Der Knabe lag nach wie vor in todaehnlichem Schlummer und erwachte auch nicht, als die Hand des Arztes an seinen kleinen Gliedern nach der Spur des Lebens forschte.
“Nicht wahr, er wird genesen?” sagte die Graefin, indem sie angstvoll in das verschlossene Gesicht des Arztes blickte.
“Die Frage ist zu viel fuer einen Menschen", erwiderte dieser; “aber Frau Graefin muessen schlafen; das ist ganz notwendig.” Und als sie Gegenvorstellungen machte, fuhr er fort: “Es wird sich bis morgen mit dem Kranken nichts ereignen, ich hafte dafuer; die Amme kann die Krankenwache halten.”
Endlich war sie ueberredet und begab sich in ihr Schlafgemach, da der Arzt erklaert hatte, das Haus nicht verlassen zu wollen, bis er dessen gewiss sei.
Als die Alte mit diesem allein war, fragte sie: “Seid Ihr dessen sicher, dass Frau Graefin ruhig schlafen mag?”
“Fuer die angegebene Zeit, ja.
“Und dann, Herr Doktor?”
“Dann, wenn Eure Herrschaft geschlafen hat, so moegt Ihr sie vorbereiten; denn der Knabe muss sterben.”
Die Alte blickte mit festen Augen auf den Arzt. “Ist das ganz gewiss?” fragte sie.
“Ganz gewiss, Amme; es muesste denn ein Wunder geschehen. “-Der Arzt hatte sich entfernt, und statt der Graefin teilte jetzt eine junge Magd die Krankenwache mit der Alten. Diese stuetzte den Kopf auf den Rand des Bettes und betrachtete das bleiche Antlitz des kleinen Kuno, in das der Tod schon seine scharfen Zuege grub. “Ein Wunder!” murmelte sie ein paar Mal; “ein Wunder!”
Da regte der Knabe sich auf seinem Kissen. “Ich will mit den Kindern spielen!” fluesterte er.
Die Alte riss die Augen auf. “Mit was fuer Kindern?” fragte sie leise.
Und der Knabe sagte ebenso im Schlaf: “Mit den Spiegelkindern, Amme!”
Sie schrie fast auf. “Unglueckskind, so hast du in den Spiegel des Cyprianus gesehen!—Aber der soll ja in der Sakristei stehen; und die Sakristei ist ja vermauert!” Sie sann einen Augenblick; dann sagte sie zu dem Maedchen: “Hol mir den Vincenz, Ursel!”
Vincenz, der Reitknecht, kam.—“Bist du neulich bei dem Bau in der Kapelle gewesen?” fragte die Alte.
“Ich bin jeden Tag dort.”
“Ist die Sakristei auch eingerissen?”
“Das geschah schon vor vierzehn Tagen.”
“Hast du einen Spiegel dort gesehen?”
Er besann sich. “Nun freilich, es steht dort einer im Winkel; der Rahmen scheint von Stahl; aber der Rost hat ihn zerfressen.”
Die Alte gab ihm einen grossen Teppich. “Verhaenge den Spiegel sorgsam!” sagte sie; “dann lass ihn hierher ins Ziinmer tragen. Aber leise, damit der Knabe nicht erwacht.”
Vincenz ging; und bald wurde von ihm und einem Arbeiter ein hohes, mit dem Teppich verhangenes Geraet in das Zimmer getragen.
“Ist das der Spiegel, Vincenz?” fragte die Amme; und als er es bejaht hatte, fuhr sie fort: “Stellt ihn zu Fuessen des Bettes, so dass der kleine Kuno hineinblicken kann, sobald der Teppich fortgenommen ist.”
Nachdem der Spiegel aufgestellt war und die Traeger sich entfernt hatten, setzte die Alte sich wieder an die Seite des Bettes. “Ein Wunder muss geschehen!” sprach sie vor sich hin. Dann sass sie mit geschlossenen Augen wie ein steinern Bild; unsichtbar aber kaempften in ihr Furcht und Hoffnung. Sie harrte auf die Rueckkunft der Graefin; aber wie lang musste sie noch warten, bis der Schlaf die ganz verwachte Frau verlassen haben wuerde.
Da tat sich die Tuer auf, und die Graefin trat herein. “Es hat mich nicht schlafen lassen, Amme", sagte sie; “verzeih es mir! Du bist so treu und gut, und verstaendiger wohl als ich; und doch ist mir, ich duerfte das Bett des Kindes nicht verlassen.”
Die alte Frau antwortete nicht darauf. “Sagt mir noch einmal, Frau Graefin", sagte sie, und das Herz schlug ihr so gewaltig, dass sie die Worte kaum herausbrachte, “seid Ihr dessen ganz gewiss, dass jene boese Frau Eure Urahne gewesen ist?”
“Ich bin dessen ganz gewiss. Aber weshalb fragst du, Amme?”
Die Alte stand auf; und mit fester Hand riss sie den Teppich von dem Spiegel.
Die Graefin schrie laut auf. “Mein Kind, mein Kind! Das ist der Spiegel des Cyprianus!”—Als sie aber einen Blick in den sanften Schein des Glases geworfen hatte, so sah sie darin den kleinen Kuno mit offenen Augen auf seinem Kissen liegen; sie sah ihn laecheln, und wie ein Hauch flog das Rot der Gesundheit auf seine Wangen. Sie wandte sich um; da sass er schon aufrecht, frisch und bluehend.
“Die Kinder, die Kinder!” rief er mit heller, klingender Stimme und streckte die Anne nach dem Spiegel aus.
“Wo sind sie?” fragte die Graefin.
“Dort, dort!” rief die Alte. “Seht nur, sie laecheln, sie nicken, ach' und sie haben Fluegel; zwei Englein sind es!”
“Was sprecht Ihr?” sagte die Graefin; “ich sehe sie ja nicht.”
“Dort, dort!” rief wieder der kleine Kuno.—“Ach!” setzte er traurig hinzu, “nun sind sie fortgeflogen.”
Da sank die alte Amme auf den Stuhl zurueck. “Unser Kuno ist gerettet!” rief sie und brach in lautes Schluchzen aus. “Eure Liebe hat das getan und hat den Fluch hinweggenommen von dem Werk des alten Meisters!”
Die Graefin aber stand und blickte selig laechelnd in den Spiegel. Auf seiner Flaeche schwamm wie Duft ein Rosenwoelkchen, und deutlich schimmerte ein schlummerndes Kinderantlitz daraus hervor. “Wolf soll es heissen, wenn's ein Knabe ist; Wolf und Kuno!” fluesterte sie leise. “Und lass uns beten, Amme, dass sie gluecklicher werden als die, so einstens ihre Namen trugen!”