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Johanna Spyri
Heidi kann brauchen, was es gelernt hat
Inhalt
Reisezurustungen
Ein Gast auf der Alm
Eine Vergeltung
Der Winter im Dorfli
Der Winter dauert fort
Die fernen Freunde regen sich
Wie es auf der Alp weitergeht
Es geschieht, was keiner erwartet hat
Es wird Abschied genommen, aber auf Wiedersehen
Der freundliche Herr Doktor, der den Entscheid gegeben hatte, das das Kind Heidi wieder in seine Heimat zuruckgebracht werden sollte, ging eben durch die breite Strase dem Hause Sesemann zu. Es war ein sonniger Septembermorgen, so licht und lieblich, das man hatte denken konnen, alle Menschen musten sich daruber freuen. Aber der Herr Doktor schaute auf die weisen Steine zu seinen Fusen, so das er den blauen Himmel uber sich nicht einmal bemerken konnte. Es lag eine Traurigkeit auf seinem Gesichte, die man vorher nie da gesehen hatte, und seine Haare waren viel grauer geworden seit dem Fruhjahr. Der Doktor hatte eine einzige Tochter gehabt, mit der er seit dem Tode seiner Frau sehr nahe zusammen gelebt hatte und die seine ganze Freude gewesen war. Vor einigen Monaten war ihm das bluhende Madchen durch den Tod entrissen worden. Seither sah man den Herrn Doktor nie mehr so recht frohlich, wie er vorher fast immer gewesen war.
Auf den Zug an der Hausglocke offnete Sebastian mit groser Zuvorkommenheit die Eingangstur und machte gleich alle Bewegungen eines ergebenen Dieners; denn der Herr Doktor war nicht nur der erste Freund des Hausherrn und dessen Tochterchen, durch seine Freundlichkeit hatte er sich, wie uberall, die samtlichen Hausbewohner zu guten Freunden gemacht.
“Alles beim alten, Sebastian?” fragte der Herr Doktor wie gewohnt mit freundlicher Stimme und ging die Treppe hinauf, gefolgt von Sebastian, der nicht aufhorte, allerlei Zeichen der Ergebenheit zu machen, obschon der Herr Doktor sie eigentlich nicht sehen konnte, denn er kehrte dem Nachfolgenden den Rucken.
“Gut, das du kommst, Doktor", rief Herr Sesemann dem Eintretenden entgegen. “Wir mussen durchaus noch einmal die Schweizerreise besprechen, ich mus von dir horen, ob du unter allen Umstanden bei deinem Ausspruche bleibst, auch nachdem nun bei Klarchen entschieden ein besserer Zustand eingetreten ist.”
“Mein lieber Sesemann, wie kommst du mir denn vor?” entgegnete der Angekommene, indem er sich zu seinem Freunde hinsetzte. “Ich mochte wirklich wunschen, das deine Mutter hier ware; mit der wird alles gleich klar und einfach und kommt ins rechte Geleise. Mit dir aber ist ja kein Fertigwerden. Du lassest mich heute zum dritten Male zu dir kommen, damit ich dir immer noch einmal dasselbe sage.—
“Ja, du hast recht, die Sache mus dich ungeduldig machen, aber du must doch begreifen, lieber Freund”—und Herr Sesemann legte seine Hand wie bittend auf die Schulter seines Freundes—, “es wird mir gar zu schwer, dem Kinde zu versagen, was ich ihm so bestimmt versprochen hatte und worauf es sich nun monatelang Tag und Nacht gefreut hat. Auch diese letzte schlimme Zeit hat das Kind so geduldig ertragen, immer in der Hoffnung, das die Schweizerreise nahe sei und das es seine Freundin Heidi auf der Alp besuchen konne; und nun soll ich dem guten Kinde, das ja sonst schon so vieles entbehren mus, die langgenahrte Hoffnung mit einemmal wieder durchstreichen—das ist mir fast nicht moglich.”
“Sesemann, das mus sein", sagte sehr bestimmt der Herr Doktor, und als sein Freund stillschweigend und niedergeschlagen dasas, fuhr er nach einer Weile fort: “Bedenke doch, wie die Sache steht. Klara hat seit Jahren keinen so schlimmen Sommer gehabt, wie dieser letzte war. Von einer so grosen Reise kann keine Rede sein, ohne das wir die schlimmsten Folgen zu befurchten hatten. Dazu sind wir nun in den September eingetreten, da kann es ja noch schon sein oben auf der Alp, es kann aber auch schon sehr kuhl werden. Die Tage sind nicht mehr lang, und oben bleiben und da die Nachte zubringen kann Klara doch nun gar nicht. So hatte sie kaum ein paar Stunden oben zu verweilen. Der Weg von Bad Ragaz dort hinauf mus ja schon mehrere Stunden dauern, denn zur Alp hinauf mus sie entschieden im Sessel getragen werden. Kurz, Sesemann, es kann nicht sein! Aber ich will mit dir hineingehen und mit Klara reden, sie ist ja ein vernunftiges Madchen, ich will ihr meinen Plan mitteilen. Im kommenden Mai soll sie erst nach Ragaz hinkommen; dort soll eine langere Badekur unternommen werden, so lange, bis es hubsch warm wird oben auf der Alp. Dann kann sie dort von Zeit zu Zeit hinaufgetragen werden, da wird sie diese Bergpartien erfrischt und gestarkt, wie sie dann sein wird, ganz anders geniesen, als es jetzt geschahe. Du begreifst auch, Sesemann, wenn wir noch eine leise Hoffnung fur den Zustand deines Kindes aufrechterhalten wollen, so haben wir die auserste Schonung und die sorgfaltigste Behandlung zu beobachten.”
Herr Sesemann, der bis dahin schweigend und mit dem Ausdrucke trauriger Ergebung zugehort hatte, fuhr jetzt auf einmal empor:
“Doktor", rief er aus, “sag es mir ehrlich: Hast du wirklich noch Hoffnung auf eine Anderung dieses Zustandes?”
Der Herr Doktor zuckte die Achseln. “Wenig", sagte er halblaut. “Aber komm, denk einmal einen Augenblick an mich, lieber Freund! Hast du nicht ein liebes Kind, das nach dir verlangt und sich auf deine Heimkehr freut, wenn du weg bist? Nie must du in ein verodetes Haus zuruckkehren und dich allein an deinen Tisch hinsetzen. Und dein Kind hat's auch gut daheim. Mus es auch vieles entbehren, was andere geniesen konnen, so ist es in manch anderem auch vor vielen bevorzugt. Nein, Sesemann, ihr seid nicht so sehr zu beklagen, ihr habt es doch recht gut, so zusammenzusein; denk an mein einsames Haus!”
Herr Sesemann war aufgestanden und ging nun mit grosen Schritten im Zimmer auf und ab, wie er immer zu tun pflegte, wenn ihn irgendeine Sache stark beschaftigte. Auf einmal stand er vor seinem Freunde still und klopfte ihm auf die Schulter.
“Doktor, ich habe einen Gedanken: Ich kann dich nicht so sehen, du bist ja gar nicht mehr der alte. Du must ein wenig aus dir heraus, und weist du, wie? Du sollst die Reise unternehmen und das Kind Heidi auf seiner Alp besuchen in unser aller Namen.”
Der Herr Doktor war sehr uberrascht von dem Vorschlage und wollte sich dagegen wehren, aber Herr Sesemann lies ihm keine Zeit. Er war so erfreut und erfullt von seiner neuen Idee, das er den Freund unter den Arm faste und nach dem Zimmer seines Tochterchens hinuberzog. Der gute Herr Doktor war fur die kranke Klara immer eine erfreuliche Erscheinung, denn er hatte sie von jeher mit einer grosen Freundlichkeit behandelt und ihr jedesmal, wenn er kam, etwas Lustiges und Erheiterndes zu erzahlen gewust. Warum er das jetzt nicht mehr konnte, wuste sie wohl und hatte so gern ihn wieder froh gemacht. Sie streckte ihm gleich die Hand entgegen, und er setzte sich zu ihr hin. Herr Sesemann ruckte seinen Stuhl auch heran, und indem er Klara bei der Hand faste, fing er an von der Schweizerreise zu reden und wie er sich selbst darauf gefreut hatte. Uber den Hauptpunkt aber, das sie nun unmoglich mehr stattfinden konnte, glitt er eilig hinweg, denn er furchtete sich ein wenig vor den kommenden Tranen. Dann ging er schnell auf den neuen Gedanken uber und machte Klara darauf aufmerksam, wie wohltatig es fur ihren guten Freund ware, wenn er diese Erholungsreise unternehmen wurde.
Die Tranen waren wirklich aufgestiegen und schwammen in den blauen Augen, wie sehr sich auch Klara Muhe gab, sie niederzudrucken, denn sie wuste, wie ungern der Papa sie weinen sah. Aber es war auch hart, das nun alles aus sein sollte, und den ganzen Sommer hindurch war die Aussicht auf die Reise zum Heidi ihre einzige Freude und ihr Trost gewesen in all den langen, einsamen Stunden, die sie durchlebt hatte. Aber Klara war nicht gewohnt zu markten, sie wuste recht gut, das der Papa ihr nur versagte, was zum Bosen fuhren wurde und darum nicht sein durfte. Sie schluckte ihre Tranen hinunter und wandte sich nun der einzigen Hoffnung zu, die ihr blieb. Sie nahm die Hand ihres guten Freundes und streichelte sie und bat flehentlich:
“O bitte, Herr Doktor, nicht wahr, Sie gehen zum Heidi, und dann kommen Sie, um mir alles zu erzahlen, wie es ist dort oben und was das Heidi macht und der Grosvater und der Peter und die Geisen, ich kenne sie alle so gut! Und dann nehmen Sie mit, was ich dem Heidi schicken will, ich habe schon alles ausgedacht und auch etwas fur die Grosmutter. Bitte, Herr Doktor, tun Sie's doch; ich will auch gewis unterdessen Fischtran nehmen, soviel Sie nur wollen.”
Ob dieses Versprechen der Sache den Ausschlag gab, kann man nicht wissen, aber es ist anzunehmen, denn der Herr Doktor lachelte und sagte: “Dann mus ich ja wohl gehen, Klarchen, so wirst du uns einmal rund und fest, wie wir dich haben wollen, Papa und ich. Und wann mus ich denn reisen, hast du das schon bestimmt?”
“Am liebsten gleich morgen fruh, Herr Doktor", entgegnete Klara.
“Ja, sie hat recht", fiel hier der Vater ein; “die Sonne scheint, der Himmel ist blau, es ist keine Zeit zu verlieren, fur jeden solchen Tag ist es schade, den du noch nicht auf der Alp geniesen kannst.”
Der Herr Doktor muste ein wenig lachen: “Nachstens wirst du mir vorwerfen, das ich noch da bin, Sesemann; so mus ich wohl machen, das ich fortkomme.”
Aber Klara hielt den Aufstehenden fest; erst muste sie ihm ja noch alle Auftrage an das Heidi ubergeben und ihm noch so vieles anempfehlen, das er recht betrachten und ihr dann davon erzahlen sollte. Die Sendung an das Heidi konnte ihm erst spater zugeschickt werden, denn Fraulein Rottenmeier muste erst alles verpacken helfen; sie war aber eben auf einer ihrer Wanderungen durch die Stadt begriffen, von denen sie nicht so schnell zuruckkehrte.
Der Herr Doktor versprach, alles genau auszurichten, die Reise, wenn nicht am Morgen fruh, so doch womoglich noch im Laufe des folgenden Tages anzutreten und dann bei seiner Heimkehr getreulich Bericht zu erstatten uber alles, was er gesehen und erlebt haben wurde.
Die Diener eines Hauses haben oft eine merkwurdige Gabe, die Dinge zu erfassen, die im Hause ihrer Herren vor sich gehen, lange bevor diese dazu kommen, ihnen Mitteilung davon zu machen. Sebastian und Tinette musten diese Gabe in hohem Grade besitzen, denn eben, als der Herr Doktor, von Sebastian begleitet, die Treppe hinunterging, trat Tinette ins Zimmer der Klara ein, die nach dem Madchen geschellt hatte.
“Holen Sie diese Schachtel voll ganz frischer, weicher Kuchen, wie wir sie zum Kaffee haben, Tinette", sagte Klara und deutete auf die Schachtel hin, die schon lange bereitgestanden hatte. Tinette erfaste das bezeichnete Ding an einer Ecke und lies es verachtlich an ihrer Hand baumeln. Unter der Ture sagte sie schnippisch:
“Es ist wohl der Muhe wert.”
Als der Sebastian unten mit gewohnter Hoflichkeit die Ture aufgemacht hatte, sagte er mit einem Buckling:
“Wenn der Herr Doktor wollten so freundlich sein und dem Mamsellchen auch einen Grus vom Sebastian bestellen.”
“Ah, sieh da, Sebastian", sagte der Herr Doktor freundlich; “so wissen Sie denn auch schon, das ich reise?”
Sebastian muste ein wenig husten.
“Ich bin... ich habe... ich weis selbst nicht mehr recht... ach ja, jetzt erinnere ich mich: Ich bin eben zufallig durch das Eszimmer gegangen, da habe ich den Namen des Mamsellchens aussprechen gehort, und wie es so geht, man hangt dann so einen Gedanken an den anderen an und so... und in der Weise...”
“Jawohl, jawohl", lachelte der Herr Doktor, “und je mehr Gedanken einer hat, je mehr wird er inne. Auf Wiedersehen, Sebastian, der Grus wird bestellt.”
Jetzt wollte der Herr Doktor gerade durch die offene Haustur enteilen, aber er traf auf ein Hindernis: Der starke Wind hatte Fraulein Rottenmeier verhindert, ihre Wanderung weiter fortzusetzen; eben war sie zuruckgekehrt und wollte ihrerseits durch die offene Tur eintreten. Der Wind hatte ihr weites Tuch, in das sie sich gehullt hatte, aber dergestalt aufgeblaht, das es gerade so anzusehen war, als habe sie die Segel aufgespannt. Der Herr Doktor wich augenblicklich zuruck. Aber gegen diesen Mann hatte Fraulein Rottenmeier von jeher eine besondere Anerkennung und Zuvorkommenheit an den Tag gelegt. Auch sie wich mit ausgesuchter Hoflichkeit zuruck, und eine Weile standen die beiden mit rucksichtsvoller Gebarde da und machten einander gegenseitig Platz. Jetzt aber kam ein so starker Windstos, das Fraulein Rottenmeier auf einmal mit vollen Segeln gegen den Doktor heranflog. Er konnte eben noch ausweichen; die Dame aber wurde noch ein gutes Stuck uber ihn hinausgetrieben, so das sie wieder zuruckkehren muste, um nun den Freund des Hauses mit Anstand zu begrusen. Der gewalttatige Vorgang hatte sie ein wenig verstimmt, aber der Herr Doktor hatte eine Art und Weise, die ihr gekrauseltes Gemut bald glattete und eine sanfte Stimmung daruber verbreitete. Er teilte ihr seinen Reiseplan mit und bat sie in der einnehmendsten Weise, ihm die Sendung an das Heidi so zu verpacken, wie nur sie zu packen verstehe. Dann empfahl sich der Herr Doktor.
Klara erwartete, das sie erst einige Kampfe mit Fraulein Rottenmeier zu bestehen haben wurde, bevor diese ihre Zustimmung zum Absenden all der Gegenstande geben werde, die Klara fur das Heidi bestimmt hatte. Aber diesmal hatte sie sich getauscht: Fraulein Rottenmeier war ausnehmend gut gelaunt. Sogleich raumte sie alles weg, was auf dem grosen Tische lag, um die Dinge alle, die Klara zusammengebracht hatte, darauf auszubreiten und dann vor ihren Augen die Sendung zu verpacken. Es war keine leichte Arbeit, denn die Gegenstande, die da zusammengerollt werden sollten, waren vielgestaltig. Erst kam der kleine dicke Mantel mit der Kapuze, den Klara fur das Heidi ausgesonnen hatte, damit es im kommenden Winter die Grosmutter besuchen konnte, wann es wollte, und nicht warten muste, bis der Grosvater kommen konnte und es dann in den Sack eingewickelt werden muste, damit es nicht erfriere. Dann kam ein dickes, warmes Tuch fur die alte Grosmutter, damit sie sich darin einhulle und nicht frieren musse, wenn der Wind wieder so schaurig um die Hutte klappern wurde. Dann kam die grose Schachtel mit den Kuchen; die war auch fur die Grosmutter bestimmt, das sie zu ihrem Kaffee auch einmal etwas anderes als ein Brotchen zu essen habe. Jetzt folgte eine ungeheure Wurst; die hatte Klara ursprunglich fur den Peter bestimmt, weil er doch nie etwas anderes als Kase und Brot bekam. Aber sie hatte sich jetzt anders besonnen, denn sie furchtete, der Peter konnte vor Freuden die ganze Wurst auf einmal aufessen. Darum sollte die Mutter Brigitte diese bekommen und erst fur sich und die Grosmutter einen guten Teil davon nehmen und dem Peter den seinigen in verschiedenen Lieferungen abgeben. Jetzt kam noch ein Sackchen Tabak; der war fur den Grosvater, der ja so gern ein Pfeifchen rauchte, wenn er am Abend vor der Hutte sas. Zuletzt kam noch eine Anzahl geheimnisvoller Sackchen, Packchen und Schachtelchen, welche Klara mit besonderer Freude zusammengekramt hatte, denn da sollte das Heidi allerhand Uberraschungen finden, die ihm grose Freude machen wurden. Endlich war das Werk beendet, und ein stattlicher Ballen lag reisefertig an der Erde. Fraulein Rottenmeier schaute darauf nieder, in tiefsinnige Betrachtungen uber die Kunst zu packen versunken. Klara ihrerseits warf Blicke froher Erwartung darauf hin, denn sie sah das Heidi vor sich, wie es vor Uberraschung in die Hohe springen und aufjauchzen wurde, wenn das ungeheure Paket bei ihm anlangte.
Jetzt trat Sebastian herein und hob mit einem starken Schwung den Ballen auf seine Schulter, um ihn unverzuglich nach dem Hause des Herrn Doktors zu spedieren.
Das Fruhrot gluhte uber den Bergen, und ein frischer Morgenwind rauschte durch die Tannen und wogte die alten Aste machtig hin und her. Das Heidi schlug seine Augen auf, der Ton hatte es erweckt. Dieses Rauschen packte das Heidi immer im Innersten seines Wesens und zog es mit Gewalt hinaus unter die Tannen. Es schos von seinem Lager auf und hatte kaum Zeit, sich fertigzumachen; das muste aber doch sein, denn Heidi wuste nun recht gut, das man immer sauber und ordentlich aussehen mus. Jetzt kam es von dem Leiterchen herunter; des Grosvaters Lager war schon leer; es sprang hinaus. Drausen vor der Tur stand der Grosvater und schaute den Himmel nach allen Seiten hin an, wie er jeden Morgen tat, um zu sehen, wie der Tag werden wollte.
Es zogen rosige Wolkchen oben hin, und mehr und mehr blaute der Himmel, und druben flos es wie lauter Gold uber die Hohen und das Weideland, denn eben kam droben die Sonne uber die hohen Felsen heraufgestiegen.
“O wie schon! O wie schon! Guten Tag, Grosvater", rief das Heidi heranspringend.
“So, sind deine Augen auch schon hell?” gab der Grosvater zuruck, dem Heidi die Hand zum Morgengrus hinhaltend.
Jetzt lief das Heidi unter die Tannen und hupfte vor Freuden uber das Tosen und Sausen da droben unter den wogenden Asten herum, und bei jedem neuen Windstos und lauten Wipfelbrausen jauchzte es auf vor Wonne und sprang noch ein wenig hoher.
Unterdessen war der Grosvater zum Stalle hingegangen und hatte dem Schwanli und Barli die Milch abgenommen; dann hatte er beide schon geputzt und gewaschen zur Bergreise und brachte sie nun auf den Platz heraus. Als das Heidi seine Freunde erblickte, kam es herangesprungen und faste sie beide um den Hals, begruste sie zartlich, und sie meckerten frohlich und zutraulich, und jede von den Geisen wollte dem Heidi mehr Zuneigung beweisen und druckte ihren Kopf noch immer naher an seine Schultern heran, so das es zwischen den zweien fast zerdruckt wurde. Aber das Heidi hatte keine Furcht, und wenn das lebhafte Barli gar zu arg bohrte und drangte mit seinem Kopfe, dann sagte das Heidi: “Nein, Barli, du stost ja wie der grose Turk", und augenblicklich zog Barli seinen Kopf zuruck und stellte sich ganz anstandig hin, und das Schwanli hatte auch schon seinen Kopf in die Hohe gereckt und machte eine vornehme Gebarde, so das man deutlich sehen konnte, es dachte bei sich: Das soll mir denn keiner nachsagen, das ich mich benehme wie der Turk. Denn das schneeweise Schwanli war noch ein wenig vornehmer als das braune Barli.
Jetzt horte man von unten herauf die Pfiffe des Peter ertonen, und bald kamen sie heraufgesprungen, die lustigen Geisen alle, voran der flinke Distelfink in hohen Sprungen. Gleich war das Heidi wieder mitten in dem Rudel drin, und vor lauter sturmischen Begrusungen wurde es hin-und hergeschoben, und dann schob es wieder ein wenig, denn es wollte zu dem schuchternen Schneehoppli vordringen, das ja von den groseren immer wieder weggedrangt wurde, wenn es dem Heidi entgegenstrebte.
Nun kam der Peter heran und tat einen letzten, furchterlichen Pfiff, der sollte die Geisen aufscheuchen und der Weide zujagen, denn er wollte Platz bekommen, um dem Heidi etwas zu sagen. Die Geisen sprangen ein wenig auseinander auf den Pfiff hin; so konnte der Peter vorrucken und sich nun vor das Heidi hinstellen.
“Du kannst einmal wieder mitkommen heut", war seine etwas storrige Anrede.
“Nein, das kann ich nicht, Peter", entgegnete das Heidi. “Jeden Augenblick konnen sie jetzt von Frankfurt kommen, und dann mus ich daheim sein.”
“Das hast du schon manchmal gesagt", brummte der Peter.
“Es gilt aber immer noch, und es gilt, bis sie kommen", gab das Heidi zuruck. “Oder meinst du etwa, ich musse nicht daheim sein, wenn sie von Frankfurt zu mir kommen? Meinst du etwa so etwas, Peter?”
“Sie konnen zum Ohi kommen", versetzte der Peter knurrend.
Jetzt ertonte von der Hutte her die kraftige Stimme des Grosvaters: “Warum geht's nicht vorwarts mit der Armee? Fehlt's am Feldmarschall oder an den Truppen?”
Augenblicklich machte der Peter kehrum, schwang seine Rute in der Luft, das sie sauste und alle Geisen, die den Ton wohl kannten, auf und davon rannten, der Peter hinter ihnen drein, alle miteinander in vollem Trabe den Berg hinan.
Seit das Heidi wieder daheim beim Grosvater war, kam ihm hier und da etwas in den Sinn, woran es vorher nicht gedacht hatte. So machte es jetzt alle Morgen mit groser Anstrengung sein Bett zurecht und strich so lange daran herum, bis es ganz glatt aussah. Dann lief es in der Hutte hin und her, stellte jeden Stuhl an seinen Ort, und was etwa da und dort herumlag oder—hing, das kramte es alles in den Schrank hinein. Dann holte es einen Lappen herbei, kletterte auf einen Stuhl hinauf und rieb so lange mit seinem Lappen auf dem Tische herum, bis dieser ganz blank war. Wenn dann der Grosvater wieder hereinkam, schaute er wohlgefallig um sich und sagte etwa: “Bei uns ist's jetzt immer wie Sonntag, das Heidi ist nicht vergebens in der Fremde gewesen.”
Auch heute hatte Heidi, nachdem der Peter fortgetrabt war und es mit dem Grosvater gefruhstuckt hatte, sich gleich an seine Geschafte gemacht, aber es wurde fast nicht fertig damit. Drausen war es heut morgen gar so schon, und alle Augenblicke geschah wieder etwas, was das Kind in seiner Tatigkeit unterbrach. Jetzt kam durch das offene Fenster ein Sonnenstrahl so lustig hereingeschossen, und es war geradezu, als riefe er: “Komm heraus, Heidi, komm heraus!” Da konnte es nicht mehr drinnen bleiben, es rannte hinaus. Da lag der funkelnde Sonnenschein um die ganze Hutte herum, und auf allen Bergen glanzte er und weit, weit das Tal hinunter, und der Boden dort am Abhang sah so goldig und trocken aus, es muste ein wenig darauf niedersetzen und umherschauen. Dann kam ihm auf einmal in den Sinn, das das Dreibeinstuhlchen noch mitten in der Hutte stand und der Tisch noch nicht geputzt war vom Morgenessen. Nun sprang es schnell auf und lief in die Hutte zuruck. Aber es wahrte gar nicht lange, so sauste es drausen so machtig durch die Tannen, das es dem Heidi in alle Glieder fuhr, es muste schon wieder hinaus und ein wenig mithupfen, wenn alle Zweige da droben hin und her wogten und rollten. Der Grosvater hatte einstweilen hinten im Schopf allerlei Arbeit zu verrichten; er trat von Zeit zu Zeit unter die Tur hinaus und schaute lachelnd Heidis Sprungen zu. Eben war er wieder zuruckgetreten, als mit einemmal das Heidi laut aufschrie:
“Grosvater, Grosvater! Komm, komm!”
Er trat rasch wieder heraus, fast erschrocken, was mit dem Kinde sei. Da sah er, wie dieses dem Abhange zulief, laut schreiend: “Sie kommen, sie kommen! Und voran der Herr Doktor!”
Das Heidi sturzte seinem alten Freunde entgegen. Dieser streckte grusend die Hand aus. Wie das Kind ihn erreicht hatte, umfaste es zartlich den ausgestreckten Arm und rief in voller Herzensfreude: “Guten Tag, Herr Doktor! Und ich danke auch noch vieltausendmal!”
“Grus Gott, Heidi! Und wofur dankst du denn schon?” fragte freundlich lachelnd der Herr Doktor.
“Das ich wieder heim konnte zum Grosvater", erklarte ihm das Kind.
Dem Herrn Doktor ging's wie ein Sonnenschein uber das Gesicht. Diesen Empfang auf der Alp hatte er nicht erwartet. Im Gefuhl seiner Einsamkeit war er unter tiefsinnigen Gedanken den Berg hinaufgestiegen und hatte noch nicht einmal gesehen, wie schon es um ihn her war und das es immer schoner wurde. Er hatte angenommen, das Kind Heidi werde ihn kaum mehr kennen; es hatte ihn so wenig gesehen, und er kam sich vor wie einer, der kommt, den Leuten eine Enttauschung zu bereiten, und den sie darum nicht ansehen mogen, weil er ja die erwarteten Freunde nicht mitbrachte. Statt dessen leuchtete dem Heidi die helle Freude aus den Augen, und voller Dank und Liebe hielt es immer noch den Arm seines guten Freundes fest.
Mit vaterlicher Zartlichkeit nahm der Herr Doktor das Kind bei der Hand. “Komm, Heidi", sagte er in freundlichster Weise, “fuhre mich nun zu deinem Grosvater und zeige mir, wo du daheim bist.”
Aber das Heidi blieb noch stehen und schaute verwundert den Berg hinunter.
“Wo sind denn Klara und die Grosmama?” fragte es jetzt.
“Ja, nun mus ich dir's sagen, was dir leid tun wird wie mir auch", erwiderte der Herr Doktor. “Sieh, Heidi, ich komme allein. Klara war recht krank und konnte nicht mehr reisen, und so kam auch die Grosmama nicht mit. Aber dann im Fruhjahr, wenn die Tage wieder warm und schon lang werden, dann kommen sie ganz sicher.”
Das Heidi stand sehr betroffen da; es konnte gar nicht fassen, das es nun alles, was es so sicher vor sich gesehen hatte, auf einmal gar nicht mehr sehen sollte. Regungslos stand es eine Weile wie verwirrt von dem Unerwarteten. Schweigend stand der Herr Doktor vor ihm, und ringsum war alles still, nur hoch oben horte man den Wind durch die Tannen sausen. Da fiel es dem Heidi auf einmal wieder ein, warum es heruntergelaufen sei und das der Herr Doktor ja gekommen sei. Es schaute zu ihm auf. Da lag etwas so Trauriges in den Augen, die zu ihm niederschauten, wie es noch gar nicht gesehen hatte. So war es nie gewesen, wenn der Herr Doktor in Frankfurt es angeblickt hatte. Das ging dem Heidi zu Herzen; es konnte nicht sehen, das jemand traurig war, und nun gar der gute Herr Doktor. Gewis war er so, weil Klara und die Grosmama nicht hatten mitkommen konnen. Es suchte schnell nach einem Trost und fand ihn.
“Oh, es wahrt gewis nicht lange, bis es wieder Fruhling wird, und dann kommen sie ja bestimmt", trostete das Heidi. “Bei uns wahrt es gar nie lange, und dann konnen sie ja viel langer dableiben, das will die Klara gewis noch lieber. Und jetzt wollen wir zum Grosvater hinauf.” Hand in Hand mit dem guten Freunde stieg es nun zu der Hutte hinan. Es war dem Heidi so sehr daran gelegen, den Herrn Doktor wieder froh zu machen, das es ihn noch einmal zu uberzeugen anfing, es wahre so wenig lange auf der Alm, bis die langen, warmen Sommertage wiederkommen, das man es kaum merke, und dabei wurde das Heidi selbst so uberzeugt von seinem Trost, das es oben dem Grosvater ganz frohlich entgegenrief:
“Sie sind noch nicht da, aber es wahrt gar nicht lange, so kommen sie auch.”
Fur den Grosvater war der Herr Doktor kein Fremder, das Kind hatte ja so viel von ihm gesprochen. Der Alte streckte seinem Gaste die Hand entgegen und bewillkommte ihn mit Herzlichkeit. Dann setzten sich die Manner auf die Bank an der Hutte. Auch fur das Heidi wurde da noch ein Platzchen gemacht, und der Herr Doktor winkte ihm freundlich, das es neben ihm sitzen solle. Nun fing er an zu erzahlen, wie Herr Sesemann ihn ermuntert habe, die Reise zu machen, und wie er auch selbst gefunden, es mochte gut fur ihn sein, da er sich seit langem nicht mehr recht frisch und rustig fuhle. Dem Heidi sagte er dann ins Ohr, es werde bald noch etwas den Berg heraufkommen, das aus Frankfurt mit hergereist sei und ihm eine viel grosere Freude machen werde als der alte Doktor. Das Heidi war sehr gespannt darauf zu erfahren, was das sein konne. Der Grosvater ermunterte den Herrn Doktor sehr, die schonen Herbsttage noch auf der Alm zuzubringen oder wenigstens an jedem schonen Tage heraufzukommen, denn hier oben zu bleiben, dazu konnte ihn der Almohi nicht einladen, da war ja keine Gelegenheit, den Herrn zu logieren. Er riet aber seinem Gaste, nicht bis nach Ragaz zuruckzukehren, sondern unten im Dorfli ein Zimmer zu beziehen, das er im dortigen Wirthause in einer einfachen, aber ganz ordentlichen Art finden werde. So konnte der Herr Doktor jeden Morgen nach der Alm heraufkommen, was ihm wohltun muste, meinte der Ohi, auch wurde er dann gern den Herrn noch auf allerlei Punkte fuhren, weiter hinauf in die Berge, wo es ihm gefallen sollte. Diesem gefiel der ganze Vorschlag sehr wohl, und es wurde festgesetzt, das er ausgefuhrt werden sollte.
Unterdessen war die Sonne in den Mittag gekommen; der Wind hatte sich schon lange gelegt, und die Tannen waren ganz still geworden. Die Luft war fur die Hohe noch mild und lieblich und sauselte erfrischende Kuhle um die sonnenbeschienene Bank.
Jetzt stand der Almohi auf und ging in die Hutte hinein, kam aber gleich wieder und brachte einen Tisch heraus, den er vor die Bank hinstellte.
“So, Heidi, nun hol herbei, was wir zum Essen brauchen", sagte er. “Der Herr mus nun vorlieb nehmen; ist unsere Kuche auch einfach, so ist das Eszimmer doch anstandig.”
“Das meine ich auch", erwiderte der Herr Doktor, indem er auf das sonnenbeleuchtete Tal hinunterschaute, “und die Einladung nehme ich an, hier oben mus es schmecken.”
Das Heidi lief nun hin und her wie ein Wiesel und brachte herbei, was es nur drinnen im Schranke finden konnte, denn das es den Herrn Doktor bewirten durfte, war ihm eine ungeheure Freude. Der Grosvater bereitete unterdessen das Mahl und trat nun heraus mit dem dampfenden Milchkruge und dem goldig glanzenden Kasebraten. Dann schnitt er schone, durchsichtige Schnitten von dem rosigen Fleisch herunter, das er hier oben an der reinen Luft getrocknet hatte. Dem Herrn Doktor schmeckte sein Mittagsmahl so gut wie das ganze Jahr durch noch kein einziges Mal.
“Ja, ja, hierhin mus unsere Klara kommen", sagte er jetzt. “Da wird sie zu ganz neuen Kraften gelangen, und wenn sie eine Zeitlang ist wie ich heute, so wird sie rund und fest werden, wie sie in ihrem Leben noch nie war.”
Jetzt kam von unten herauf einer angestiegen, der hatte einen grosen Ballen auf dem Rucken. Wie er oben bei der Hutte ankam, warf er seine Last auf den Boden hin und zog ein paar gute Zuge von der frischen Almluft ein.
“Ah, da kommt, was mit mir von Frankfurt hergereist ist", sagte der Herr Doktor aufstehend, und das Heidi mit sich ziehend, trat er an den Ballen hin und fing an, ihn aufzulosen. Als die erste schwere Hulle weg war, sagte er: “So, Kind, nun fahr weiter fort und hol dir deine Schatze selbst heraus.”
Das Heidi tat so, und wie nun alles auseinanderrollte, schaute es mit grosen, verwunderten Augen auf die Dinge hin. Erst als der Herr Doktor wieder herzutrat und von der grosen Schachtel den Deckel weghob, dem Heidi bedeutend: “Sieh, was die Grosmutter zum Kaffee bekommt", da schrie es auf vor Freuden: “Oh! Oh! Jetzt kann die Grosmutter einmal schone Kuchen essen!” und sprang rings um die Schachtel herum und wollte gleich alles zusammenpacken und zur Grosmutter hinuntereilen. Aber der Grosvater sagte, gegen Abend wollten sie dann miteinander den Herrn Doktor begleiten und die Sachen mitnehmen. Jetzt fand das Heidi auch das schone Sackchen Tabak und brachte es schnell dem Grosvater heruber. Das gefiel ihm sehr wohl. Er fullte gleich sein Pfeifchen damit, und die beiden Manner sprachen nun, auf der Bank sitzend und grose Rauchwolken von sich blasend, uber allerhand Dinge, wahrend das Heidi hin und her sprang von einem seiner Schatze zum andern. Auf einmal kam es wieder zu der Bank zuruck, stellte sich vor den Gast hin, und sowie die erste Pause im Gesprach entstand, sagte es sehr bestimmt:
“Nein, das andere hat mir nicht mehr Freude gemacht als der alte Herr Doktor.”
Die beiden Manner musten ein wenig lachen, und der Herr Doktor sagte, das hatte er nicht gedacht.
Als die Sonne halb hinter die Berge hinabsteigen wollte, stand der Gast auf, um seine Ruckreise nach dem Dorfli anzutreten und dort Quartier zu nehmen. Der Grosvater packte die Kuchenschachtel, die grose Wurst und das Tuch unter seinen Arm, der Herr Doktor nahm das Heidi an die Hand, und so wanderten sie den Berg hinunter bis zur Geisenpeter-Hutte. Hier muste das Heidi Abschied nehmen. Es sollte drinnen bei der Grosmutter warten, bis es wieder abgeholt wurde vom Grosvater, welcher seinen Gast nach dem Dorfli hinunter geleiten wollte. Als der Herr Doktor dem Heidi die Hand zum Abschied bot, fragte es: “Wollen Sie etwa gern morgen mit den Geisen auf die Weide hinaufgehen?”, denn das war das Schonste, was es kannte.
“Es bleibt dabei, Heidi", erwiderte er, “wir gehen zusammen.”
Nun gingen die Manner weiter, und das Heidi trat bei der Grosmutter ein. Erst schleppte es mit Anstrengung die Kuchenschachtel mit, dann muste es wieder hinaus, um die Wurst zu holen, denn der Grosvater hatte alles vor der Tur niedergelegt. Nachher muste es erst noch einmal hinaus, das grose Tuch zu holen. Es brachte alles so nahe an die Grosmutter heran als nur moglich, damit sie recht alles beruhren konne und wisse, was es sei. Das Tuch legte es ihr auf die Knie.
“Es ist alles aus Frankfurt, von der Klara und der Grosmama", berichtete es der hocherstaunten Grosmutter und der verwunderten Brigitte, der die Uberraschung so in die Glieder gefahren war, das sie unbeweglich zugeschaut hatte, wie das Heidi mit der grosten Anstrengung die schweren Gegenstande hereingeschleppt und nun alles vor ihren Augen ausgebreitet hatte.
“Aber gelt, Grosmutter, die Kuchen freuen dich furchtbar stark? Sieh nur, wie weich sie sind!” rief das Heidi immer wieder, und die Grosmutter bestatigte: “Ja, ja, gewis, Heidi, was sind das auch fur gute Leute!” Dann strich sie wieder mit der Hand uber das warme, weiche Tuch und sagte: “Aber das ist etwas Herrliches fur den kalten Winter! Das ist etwas so Prachtiges, das ich nie geglaubt hatte, ich konnte in meinem Leben dazu kommen.”
Das Heidi aber muste sich sehr verwundern, das die Grosmutter an dem grauen Tuch noch mehr Freude haben konnte als an den Kuchen. Die Brigitte stand immer noch vor der Wurst, die auf dem Tische lag, und schaute sie fast mit Verehrung an. In ihrem ganzen Leben hatte sie nie eine solche Riesenwurst gesehen, und diese sollte sie nun selbst besitzen und einmal sogar anschneiden; das kam ihr unglaublich vor. Sie schuttelte den Kopf und sagte zaghaft: “Man wird doch noch den Ohi fragen mussen, wie das gemeint sei.”
Aber das Heidi sagte ganz ohne Zweifel:
“Das ist zum Essen gemeint und gar nicht anders.”
Jetzt kam der Peter hereingestolpert: “Der Almohi kommt hinter mir drein, das Heidi soll...”; er konnte nicht mehr weiter. Seine Blicke waren auf den Tisch gefallen, wo die Wurst lag, und der Anblick hatte ihn so uberwaltigt, das er kein Wort mehr fand. Aber das Heidi hatte schon gemerkt, was kommen sollte, und gab schnell der Grosmutter die Hand. Der Almohi ging zwar jetzt nie mehr an der Hutte vorbei, ohne schnell hereinzutreten und die Grosmutter zu grusen, und sie freute sich auch immer, wenn sie seinen Schritt horte, denn er hatte jedesmal ein ermunterndes Wort fur sie; aber heute war es spat geworden fur das Heidi, das alle Morgen mit der Sonne drausen war. Der Grosvater aber sagte: “Das Kind mus seinen Schlaf haben", und dabei blieb er. So rief er durch die offene Tur der Grosmutter nur eine gute Nacht zu und nahm das heranspringende Heidi bei der Hand, und unter dem flimmernden Sternenhimmel hin wanderten die beiden ihrer friedlichen Hutte zu.
Am anderen Morgen in der Fruhe stieg der Herr Doktor vom Dorfli den Berg hinan in der Gesellschaft des Peter und seiner Geisen. Der freundliche Herr versuchte ein paarmal mit dem Geisbuben ein Gesprach anzuknupfen, aber es gelang ihm nicht, kaum das er als Antwort auf einleitende Fragen unbestimmte, einsilbige Worte zu horen bekam. Der Peter lies sich nicht so leicht in ein Gesprach ein. So wanderte die ganze schweigende Gesellschaft bis hinauf zur Almhutte, wo schon erwartend das Heidi stand mit seinen beiden Geisen, alle drei munter und frohlich wie der fruhe Sonnenschein auf allen Hohen.
“Kommst mit?” fragte der Peter, denn als Frage oder als Aufforderung sprach er jeden Morgen diesen Gedanken aus.
“Freilich, naturlich, wenn der Herr Doktor mitkommt", gab das Heidi zuruck.
Der Peter sah den Herrn ein wenig von der Seite an.
Jetzt trat der Grosvater hinzu, das Mittagsbrotsackchen in der Hand. Erst gruste er den Herrn mit aller Ehrerbietung, dann trat er zum Peter hin und hing ihm das Sackchen um.
Es war schwerer als sonst, denn der Ohi hatte ein schones Stuck von dem rotlichen Fleische hineingelegt. Er hatte gedacht, vielleicht gefalle es dem Herrn droben auf der Weide und er nehme dann gern sein Mittagsmahl gleich dort mit den Kindern ein. Der Peter lachelte fast von einem Ohr bis zum andern, denn er ahnte, das da drinnen etwas Ungewohnliches versteckt sei.
Nun wurde die Bergfahrt angetreten. Das Heidi wurde ganz von seinen Geisen umringt, jede wollte zunachst bei ihm sein, und eine schob die andere immer ein wenig seitwarts. So wurde es eine Zeitlang mitten in dem Rudel mit fortgeschoben. Aber jetzt stand es still und sagte ermahnend: “Nun must ihr artig vorauslaufen, aber dann nicht immer wiederkommen und mich drangen und stosen. Ich mus jetzt ein wenig mit dem Herrn Doktor gehen.” Dann klopfte es dem Schneehoppli, das sich immer am nachsten zu ihm hielt, zartlich auf den Rucken und ermahnte es noch besonders, nun recht folgsam zu sein. Dann arbeitete es sich aus dem Rudel heraus und ging nun neben dem Herrn Doktor her, der es gleich bei der Hand faste und festhielt. Er muste jetzt nicht mit Muhe nach einem Gesprach suchen wie vorher, denn das Heidi fing gleich an und hatte ihm so viel zu erzahlen von den Geisen und ihren merkwurdigen Einfallen und von den Blumen oben und den Felsen und Vogeln, das die Zeit unvermerkt dahinging und sie ganz unerwartet oben auf der Weide anlangten. Der Peter hatte im Hinaufgehen ofters seitwarts auf den Herrn Doktor Blicke geworfen, die diesem einen rechten Schrecken hatten beibringen konnen; er sah sie aber glucklicherweise nicht.
Oben angelangt, fuhrte das Heidi seinen guten Freund gleich auf die schonste Stelle, wohin es immer ging und sich auf den Boden setzte und umherschaute, denn da gefiel es ihm am besten. Es tat, wie es gewohnt war, und der Herr Doktor lies sich gleich auch neben Heidi auf den sonnigen Weideboden nieder. Ringsum leuchtete der goldene Herbsttag uber die Hohen und das weite grune Tal. Von den unteren Alpen tonten uberall die Herdenglocken herauf, so lieblich und wohltuend, als ob sie weit und breit den Frieden einlauteten. Auf dem grosen Schneefelde druben blitzten funkelnd und flimmernd goldene Sonnenstrahlen hin und her, und der graue Falknis hob seine Felsenturme in alter Majestat hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf. Der Morgenwind wehte leise und wonnig uber die Alp und bewegte nur sachte die letzten blauen Glockenblumchen, die noch ubriggeblieben waren von der grosen Schar des Sommers und nun noch wohlig ihre Kopfchen im warmen Sonnenscheine wiegten. Obenhin flog der grose Raubvogel in weiten Bogen umher, aber er krachzte heute nicht. Mit ausgebreiteten Flugeln schwamm er ruhig durch die Blaue und lies sich's wohl sein. Das Heidi guckte dahin und dorthin. Die lustig nickenden Blumen, der blaue Himmel, der frohliche Sonnenschein, der vergnugte Vogel in den Luften, alles war so schon, so schon! Heidis Augen funkelten vor Wonne. Nun schaute es nach seinem Freunde, ob er auch alles recht sehe, was so schon war. Der Herr Doktor hatte bis jetzt still und gedankenvoll um sich geblickt. Wie er nun den freudeglanzenden Augen des Kindes begegnete, sagte er:
“Ja, Heidi, es konnte schon sein hier, aber was meinst du? Wenn einer ein trauriges Herz hierher brachte, wie muste er es wohl machen, das er an all dem Schonen sich freuen konnte?”
“Oh, oh!” rief das Heidi ganz frohlich aus. “Hier hat man gar nie ein trauriges Herz, nur in Frankfurt.”
Der Herr Doktor lachelte ein wenig, aber das ging schnell voruber. Dann sagte er wieder: “Und wenn einer kame und alles Traurige aus Frankfurt mit hier heraufbrachte, Heidi; weist du da auch noch etwas, das ihm helfen konnte?”
“Man mus nur alles dem lieben Gott sagen, wenn man gar nicht mehr weis, was machen", sagte das Heidi ganz zuversichtlich.
“Ja, das ist schon ein guter Gedanke, Kind", bemerkte der Herr Doktor. “Wenn es aber von ihm selbst kommt, was so ganz traurig und elend macht, was kann man da dem lieben Gott sagen?”
Das Heidi muste nachdenken, was dann zu machen sei; es war aber ganz zuversichtlich, das man fur alle Traurigkeit eine Hilfe vom lieben Gott erhalten konne. Es suchte seine Antwort in seinen eigenen Erlebnissen.
“Dann mus man warten", sagte es nach einer Weile mit Sicherheit, “und nur immer denken: jetzt weis der liebe Gott schon etwas Freudiges, das dann nachher aus dem anderen kommt, man mus nur noch ein wenig still sein und nicht fortlaufen. Dann kommt auf einmal alles so, das man ganz gut sehen kann, der liebe Gott hatte die ganze Zeit nur etwas Gutes im Sinn gehabt; aber weil man das vorher noch nicht so sehen kann, sondern immer nur das furchtbar Traurige, so denkt man, es bleibe dann immer so.”
“Das ist ein schoner Glaube, den must du festhalten, Heidi", sagte der Herr Doktor. Eine Weile schaute er schweigend auf die machtigen Felsenberge hinuber und in das sonnenleuchtende grune Tal hinab, dann sagte er wieder:
“Siehst du, Heidi, es konnte einer hier sitzen, der einen grosen Schatten auf den Augen hatte, so das er das Schone gar nicht aufnehmen konnte, das ihn hier umgibt. Dann mochte doch wohl das Herz traurig werden hier, doppelt traurig, wo es so schon sein konnte. Kannst du das verstehen?”
Jetzt schos dem Heidi etwas Schmerzliches in sein frohes Herz. Der grose Schatten auf den Augen brachte ihm die Grosmutter in Erinnerung, die ja nie mehr die helle Sonne und all das Schone hier oben sehen konnte. Das war ein Leid in Heidis Herzen, das immer neu erwachte, sobald die Sache ihm wieder ins Bewustsein kam. Es schwieg eine Weile ganz still, denn das Weh hatte es so mitten in die Freude hineingetroffen. Dann sagte es ernsthaft:
“Ja, das kann ich schon verstehen. Aber ich weis etwas: Dann mus man die Lieder der Grosmutter sagen, die machen einem wieder ein wenig helle und manchmal so hell, das man ganz frohlich wird. Das hat die Grosmutter gesagt.”
“Welche Lieder, Heidi?” fragte der Herr Doktor.
“Ich kann nur das von der Sonne und dem schonen Garten und noch von dem andern langen die Verse, die der Grosmutter lieb sind, denn die mus ich immer dreimal lesen", erwiderte das Heidi.
“So sag mir einmal diese Verse, die mochte ich auch horen", und der Herr Doktor setzte sich zurecht, um aufmerksam zuzuhoren.
Heidi legte seine Hande ineinander und besann sich noch ein Weilchen:
“Soll ich dort anfangen, wo die Grosmutter sagt, das einem wieder eine Zuversicht ins Herz kommt?”
Der Herr Doktor nickte bejahend.
Jetzt begann Heidi:
“Ihn, ihn las tun und walten,
Er ist ein weiser Furst
Und wird es so gestalten,
Das du dich wundern wirst,
Wenn er, wie ihm gebuhret,
Mit wunderbarem Rat
Das Werk hinausgefuhret,
Das dich bekummert hat.
Er wird zwar eine Weile
Mit seinem Trost verziehn
Und tun an seinem Teile,
Als hatt' in seinem Sinn
Er deiner sich begeben,
Als sollt'st du fur und fur
In Angst und Noten schweben,
Als fragt' er nichts nach dir.
Wird's aber sich begeben,
Das du ihm treu verbleibst,
So wird er dich erheben,
Da du's am mind'sten glaubst.
Er wird dein Herz erlosen
Von der so schweren Last,
Die du zu keinem Bosen
Bisher getragen hast.”
Heidi hielt plotzlich inne, es war nicht sicher, das der Herr Doktor auch noch zuhore. Er hatte die Hand uber seine Augen gebreitet und sas unbeweglich da. Es dachte, er sei vielleicht ein wenig eingeschlafen; wenn er dann wieder erwachte und noch mehr Verse horen wollte, wurde er es schon sagen. Jetzt war alles still. Der Herr Doktor sagte nichts, aber er schlief doch nicht. Er war in eine langst vergangene Zeit zuruckversetzt. Da stand er als ein kleiner Junge neben dem Sessel seiner lieben Mutter; die hatte ihren Arm um seinen Hals gelegt und sagte ihm das Lied vor, das er eben von Heidi horte und das er so lange nicht mehr vernommen hatte. Jetzt horte er die Stimme seiner Mutter wieder und sah ihre guten Augen so liebevoll auf ihm ruhen, und als die Worte des Liedes verklungen waren, horte er die freundliche Stimme noch andere Worte zu ihm sprechen. Die muste er gern horen und ihnen weit nachgehen in seinen Gedanken, denn noch lange Zeit sas er so da, das Gesicht in seine Hand gelegt, schweigend und regungslos. Als er sich endlich aufrichtete, sah er, wie das Heidi in Verwunderung nach ihm blickte. Er nahm die Hand des Kindes in die seinige.
“Heidi, dein Lied war schon", sagte er, und seine Stimme klang froher, als sie bis jetzt geklungen hatte. “Wir wollen wieder hierherkommen, dann sagst du mir's noch einmal.”
Wahrend dieser ganzen Zeit hatte der Peter genug zu tun gehabt, seinem Arger Luft zu machen. Da war das Heidi seit vielen Tagen nicht mit auf der Weide gewesen, und nun, da es endlich einmal wieder mit war, sas der alte Herr die ganze Zeit neben ihm, und der Peter konnte gar nicht an das Heidi herankommen. Das verdros ihn sehr stark. Er stellte sich in einiger Entfernung hinter dem ahnungslosen Herrn auf, so das dieser ihn nicht sehen konnte, und hier machte er erst eine grose Faust und schwang sie drohend in der Luft herum, und nach einiger Zeit machte er zwei Fauste, und je langer das Heidi neben dem Herrn sitzen blieb, je schrecklicher ballte der Peter seine Fauste und streckte sie immer hoher und drohender in die Luft hinauf hinter dem Rucken des Bedrohten.
Unterdessen war die Sonne dahin gekommen, wo sie steht, wenn man zu Mittag essen mus; das kannte der Peter genau. Auf einmal schrie er aus allen Kraften zu den zweien hinuber:
“Man mus essen!”
Heidi stand auf und wollte den Sack herbeiholen, damit der Herr Doktor auf dem Platze, wo er sas, sein Mittagsmahl abhalten konne. Aber er sagte, er habe keinen Hunger, er wunsche nur ein Glas Milch zu trinken, dann wolle er gern noch ein wenig auf der Alp umhergehen und etwas weiter hinaufsteigen. Da fand das Heidi, dann habe es auch keinen Hunger und wolle auch nur Milch trinken, und nachher wolle es den Herrn Doktor hinauffuhren zu den grosen, moosbedeckten Steinen hoch oben, wo der Distelfink einmal fast hinuntergesprungen ware und wo alle die wurzigen Krautlein wuchsen. Es lief zum Peter hinuber und erklarte ihm alles und das er nun erst eine Schale Milch vom Schwanli nehmen musse fur den Herrn Doktor und dann noch eine, die wolle es fur sich haben. Der Peter schaute erst eine Weile sehr erstaunt das Heidi an, dann fragte er:
“Wer mus haben, was im Sack ist?”
“Das kannst du haben, aber zuerst must du die Milch geben, und hurtig", war Heidis Antwort.
So rasch hatte der Peter in seinem Leben noch keine Tat vollendet, als er nun diese fertigbrachte, denn er sah immer den Sack vor sich und wuste noch nicht, wie das aussah, was drinnen war und ihm gehorte. Sobald druben die beiden ruhig ihre Milch tranken, offnete der Peter den Sack und tat einen Blick hinein. Als er das wundervolle Stuck Fleisch gewahr wurde, da schuttelte es den ganzen Peter vor Freude, und er tat noch einen Blick hinein, um sich zu versichern, das es auch wahr sei. Dann fuhr er mit der Hand in den Sack hinein, um die erwunschte Gabe zum Genus herauszuholen. Aber auf einmal zog er die Hand wieder zuruck, als ob er nicht zugreifen durfe. Es war dem Peter in den Sinn gekommen, wie er dort hinter dem Herrn gestanden und gegen ihn gefaustet hatte, und nun schenkte ihm derselbe Herr sein ganzes unvergleichliches Mittagsessen. Jetzt reute den Peter seine Tat, denn es war ihm gerade so, wie wenn sie ihn verhinderte, sein schones Geschenk herauszunehmen und sich daran zu erlaben. Auf einmal sprang er in die Hohe und lief zuruck auf die Stelle hin, wo er gestanden hatte. Da streckte er seine beiden Hande ganz flach in die Luft hinauf, zum Zeichen, das das Fausten nicht mehr gelte, und so blieb er eine gute Weile stehen, bis er das Gefuhl hatte, die Sache sei nun wieder ausgeglichen. Dann kam er in grosen Sprungen zu dem Sack zuruck, und nun, da das gute Gewissen hergestellt war, konnte er mit vollem Vergnugen in sein ungewohnlich leckeres Mittagsmahl beisen.
Der Herr Doktor und das Heidi waren lange miteinander herumgewandert und hatten sich sehr gut unterhalten. Jetzt aber fand der Herr, es sei Zeit fur ihn zuruckzukehren, und meinte, das Kind wolle nun auch gern noch ein wenig bei seinen Geisen bleiben. Aber das kam dem Heidi nicht in den Sinn, denn dann muste ja der Herr Doktor mutterseelenallein die ganze Alp hinuntergehen. Bis zur Hutte vom Grosvater wollte es ihn durchaus begleiten und auch noch ein Stuck daruber hinaus. Es ging immer Hand in Hand mit seinem guten Freunde und hatte auf dem ganzen Wege ihm noch genug zu erzahlen und ihm alle Stellen zu zeigen, wo die Geisen am liebsten weideten und wo es im Sommer am meisten von den glanzenden gelben Weideroschen und vom roten Tausendguldenkraut und noch anderen Blumen gebe. Die wuste es nun alle zu benennen, denn der Grosvater hatte ihm den Sommer durch alle ihre Namen beigebracht, so, wie er sie kannte. Aber zuletzt sagte der Herr Doktor, nun musse es zuruckkehren. Sie nahmen Abschied, und der Herr ging den Berg hinunter, doch kehrte er sich von Zeit zu Zeit noch einmal um. Dann sah er, wie das Heidi immer noch auf derselben Stelle stand und ihm nachschaute und mit der Hand ihm nachwinkte. So hatte sein eigenes, liebes Tochterchen getan, wenn er von Hause fortging.
Es war ein klarer, sonniger Herbstmonat. Jeden Morgen kam der Herr Doktor zur Alp herauf, und dann ging es gleich weiter auf eine schone Wanderung. ofters zog er mit dem Almohi aus, hoch in die Felsenberge hinauf, wo die alten Wettertannen herunternickten und der grose Vogel in der Nahe hausen muste, denn da schwirrte er manchmal sausend und krachzend ganz nahe an den Kopfen der beiden Manner vorbei. Der Herr Doktor hatte ein groses Wohlgefallen an der Unterhaltung seines Begleiters, und er muste sich immer mehr verwundern, wie gut der Ohi alle Krautlein ringsherum auf seiner Alp kannte und wuste, wozu sie gut waren, und wieviel kostbare und gute Dinge er da droben uberall herauszufinden wuste; so in den harzigen Tannen und in den dunklen Fichtenbaumen mit den duftenden Nadeln, in dem gekrauselten Moos, das zwischen den alten Baumwurzeln emporspros, und in all den feinen Pflanzchen und unscheinbaren Blumchen, die noch ganz hoch oben dem kraftigen Alpenboden entsprangen.
Ebenso genau kannte der Alte auch das Wesen und Treiben aller Tiere da oben, der grosen und der kleinen, und er wuste dem Herrn Doktor ganz lustige Dinge von der Lebensweise dieser Bewohner der Felsenlocher, der Erdhohlen und auch der hohen Tannenwipfel zu erzahlen.
Dem Herrn Doktor verging die Zeit auf diesen Wanderungen, er wuste gar nicht, wie, und oftmals, wenn er am Abend dem Ohi herzlich die Hand zum Abschiede schuttelte, muste er von neuem sagen: “Guter Freund, von Ihnen gehe ich nie fort, ohne wieder etwas gelernt zu haben.”
An vielen Tagen aber, und gewohnlich an den allerschonsten, wunschte der Herr Doktor mit dem Heidi auszuziehen. Dann sasen die beiden ofter miteinander auf dem schonen Vorsprunge der Alp, wo sie am ersten Tage gesessen hatten, und das Heidi muste wieder seine Liederverse sagen und dem Herrn Doktor erzahlen, was es nur wuste. Dann sas der Peter ofter hinter ihnen an seinem Platze, aber er war jetzt ganz zahm und faustete nie mehr.
So ging der schone Septembermonat zu Ende. Da kam der Herr Doktor eines Morgens und sah nicht so frohlich aus, wie er sonst immer ausgesehen hatte. Er sagte, es sei sein letzter Tag, er musse nach Frankfurt zuruckkehren; das mache ihm grose Muhe, denn er habe die Alp so liebgewonnen, als ware sie seine Heimat. Dem Almohi tat die Nachricht sehr leid, denn auch er hatte sich uberaus gern mit dem Herrn Doktor unterhalten, und das Heidi hatte sich so daran gewohnt, alle Tage seinen liebevollen Freund zu sehen, das es gar nicht begreifen konnte, wie das nun mit einem Male ein Ende nehmen sollte. Es schaute fragend und ganz verwundert zu ihm auf. Aber es war wirklich so. Der Herr Doktor nahm Abschied vom Grosvater und fragte dann, ob das Heidi ihn noch ein wenig begleiten werde. Es ging an seiner Hand den Berg hinunter, aber es konnte immer noch nicht recht fassen, das er ganz fortgehe.
Nach einer Welle stand der Herr Doktor still und sagte, nun sei das Heidi weit genug gekommen, es musse zuruckkehren. Er fuhr ein paarmal zartlich mit seiner Hand uber das krause Haar des Kindes hin und sagte: “Nun mus ich fort, Heidi! Wenn ich dich nur mit mir nach Frankfurt nehmen und bei mir behalten konnte!”
Dem Heidi stand auf einmal ganz Frankfurt vor den Augen, die vielen, vielen Hauser und steinernen Strasen und auch Fraulein Rottenmeier und die Tinette, und es antwortete ein wenig zaghaft: “Ich wollte doch lieber, das Sie wieder zu uns kamen.”
“Nun ja, so wird's besser sein. So leb wohl, Heidi", sagte freundlich der Herr Doktor und hielt ihm die Hand hin. Das Kind legte die seinige hinein und schaute zu dem Scheidenden auf. Die guten Augen, die zu ihm niederblickten, fullten sich mit Wasser. Jetzt wandte sich der Herr Doktor rasch und eilte den Berg hinunter.
Das Heidi blieb stehen und ruhrte sich nicht. Die liebevollen Augen und das Wasser, das es darinnen gesehen hatte, arbeiteten stark in seinem Herzen. Auf einmal brach es in ein lautes Weinen aus, und mit aller Macht sturzte es dem Forteilenden nach und rief, von Schluchzen unterbrochen, aus allen Kraften:
“Herr Doktor! Herr Doktor!”
Er kehrte um und stand still.
Jetzt hatte ihn das Kind erreicht. Die Tranen stromten ihm die Wangen herunter, wahrend es herausschluchzte:
“Ich will gewis auf der Stelle mit nach Frankfurt kommen und will bei Ihnen bleiben, so lang Sie wollen, ich mus es nur noch geschwind dem Grosvater sagen.”
Der Herr Doktor streichelte beruhigend das erregte Kind.
“Nein, mein liebes Heidi", sagte er mit dem freundlichsten Tone, “nicht jetzt auf der Stelle; du must noch unter den Tannen bleiben, du konntest mir wieder krank werden. Aber komm, ich will dich etwas fragen: Wenn ich einmal krank und allein bin, willst du dann zu mir kommen und bei mir bleiben? Kann ich denken, das sich dann noch jemand um mich kummern und mich liebhaben will?”
“Ja, ja, dann will ich sicher kommen, noch am gleichen Tag, und Sie sind mir auch fast so lieb wie der Grosvater", versicherte das Heidi noch unter fortwahrendem Schluchzen.
Jetzt druckte ihm der Herr Doktor noch einmal die Hand, dann setzte er rasch seinen Weg fort. Das Heidi aber blieb auf derselben Stelle stehen und winkte fort und fort mit seiner Hand, solange es nur noch ein Punktchen von dem forteilenden Herrn entdecken konnte. Als dieser zum letztenmal sich umwandte und nach dem winkenden Heidi und der sonnigen Alp zuruckschaute, sagte er leise vor sich hin: “Dort oben ist's gut sein, da konnen Leib und Seele gesunden, und man wird wieder seines Lebens froh.”
Um die Almhutte lag der Schnee so hoch, das es anzusehen war, als standen die Fenster auf dem flachen Boden, denn weiter unten war von der ganzen Hutte gar nichts zu sehen, auch die Haustur war vollig verschwunden. Ware der Almohi noch oben gewesen, so hatte er dasselbe tun mussen, was der Peter taglich ausfuhren muste, weil es gewohnlich uber Nacht wieder geschneit hatte. Jeden Morgen muste dieser jetzt aus dem Fenster der Stube hinausspringen, und war es nicht sehr kalt, so das uber Nacht alles zusammengefroren war, so versank er dann so tief in dem weichen Schnee, das er mit Handen und Fusen und mit dem Kopf auf alle Seiten stosen und werfen und ausschlagen muste, bis er sich wieder herausgearbeitet hatte. Dann bot ihm die Mutter den grosen Besen aus dem Fenster, und mit diesem sties und scharrte der Peter nun den Schnee vor sich weg, bis er zur Tur kam. Dort hatte er dann eine grose Arbeit, denn da muste aller Schnee abgegraben werden, sonst fiel entweder, wenn er noch weich war und die Tur aufging, die ganze grose Masse in die Kuche hinein, oder er fror zu, und nun war man ganz vermauert drinnen, denn durch diesen Eisfelsen konnte man nicht dringen, und durch das kleine Fenster konnte nur der Peter hinausschlupfen. Fur diesen brachte dann die Zeit des Gefrierens viele Bequemlichkeiten mit sich. Wenn er ins Dorfli hinunter muste, offnete er nur das Fenster, kroch durch und kam drausen zu ebener Erde auf dem festen Schneefelde an. Dann schob ihm die Mutter den kleinen Schlitten durch das Fenster nach, und der Peter hatte sich nur daraufzusetzen und abzufahren, wie und wo er wollte, er kam jedenfalls hinunter, denn die ganze Alm um und um war dann nur ein groser, ununterbrochener Schlittweg.
Der Ohi war nicht auf der Alm den Winter; er hatte Wort gehalten. Sobald der erste Schnee gefallen war, hatte er Hutte und Stall abgeschlossen und war mit dem Heidi und den Geisen nach dem Dorfli hinuntergezogen. Dort stand in der Nahe der Kirche und des Pfarrhauses ein weitlaufiges Gemauer, das war in alter Zeit ein groses Herrenhaus gewesen, was man noch an vielen Stellen sehen konnte, obschon jetzt das Gebaude uberall ganz oder halb zerfallen war. Da hatte einmal ein tapferer Kriegsmann gewohnt; der war in spanische Dienste gegangen und hatte da viele tapfere Taten verrichtet und viele Reichtumer erbeutet. Dann war er heimgekommen nach dem Dorfli und hatte aus seiner Beute ein prachtiges Haus errichtet; darinnen wollte er nun wohnen. Aber es ging gar nicht lange, so konnte er es in dem stillen Dorfli nicht mehr aushalten vor Langweile, denn er hatte zu lange drausen in der larmvollen Welt gelebt. Er zog wieder hinaus und kam gar niemals mehr zuruck. Als man nach vielen, vielen Jahren sicher wuste, das er tot war, ubernahm ein ferner Verwandter unten im Tal das Haus, aber es war schon am Verfallen, und der neue Besitzer wollte es nicht mehr aufbauen. So zogen arme Leute in das Haus, die wenig dafur bezahlen musten, und wenn ein Stuck abfiel von dem Gebaude, so lies man es liegen. Seit jener Zeit waren nun wieder viele Jahre darubergegangen. Schon als der Ohi mit seinem jungen Buben Tobias hergekommen war, hatte er das verfallene Haus bezogen und darin gelebt. Seither hatte es meistens leer gestanden, denn wer nicht verstand, vorweg dem Verfalle ein wenig zu begegnen und die Locher und Lucken, wo sie entstanden, gleich irgendwie zu stopfen und zu flicken, der konnte da nicht bleiben. Der Winter droben im Dorfli war lang und kalt. Dann blies und wehte es von allen Seiten durch die Raume, das die Lichter ausloschten und die armen Leute vom Frost geschuttelt wurden. Aber der Ohi wuste sich zu helfen. Gleich nachdem er zu dem Entschlus gekommen war, den Winter im Dorfli zuzubringen, hatte er das alte Haus wieder ubernommen und war den Herbst durch ofter heruntergekommen, um darin alles so herzurichten, wie es ihm gefiel. Um die Mitte des Oktobermonats war er dann mit dem Heidi heruntergezogen.
Kam man von hinten an das Haus heran, so trat man gleich in einen offenen Raum ein, da war auf einer Seite die ganze Wand und auf der anderen die halbe eingefallen. Uber dieser war noch ein Bogenfenster zu sehen, aber das Glas war langst weg daraus, und dicker Efeu rankte sich darum und hoch hinauf bis zur Decke, die noch zur Halfte fest war. Die war schon gewolbt, und man konnte gut sehen, das war die Kapelle gewesen. Ohne Tur kam man weiter in eine grose Halle hinein, da waren hier und da noch schone Steinplatten auf dem Boden, und zwischendurch wuchs das Gras dicht empor. Da waren die Mauern auch alle halb weg und grose Stucke der Decke dazu, und hatten da nicht ein paar dicke Saulen noch ein festes Stuck der Decke getragen, so hatte man denken mussen, diese konne jeden Augenblick auf die Kopfe derer niederfallen, die darunter standen. Hier hatte der Ohi einen Bretterverschlag ringsum gemacht und den Boden dick mit Streu belegt, denn hier in der alten Halle sollten die Geisen logieren. Dann ging es durch allerlei Gange, immer halb offen, das einmal der Himmel hereinguckte und einmal wieder die Wiese und der Weg drausen. Aber zuvorderst, wo die schwere, eichene Tur noch fest in den Angeln hing, kam man in eine grose, weite Stube hinein, die war noch gut. Da waren noch die vier festen Wande mit dem dunkeln Holzgetafel ohne Lucken, und in der einen Ecke stand ein ungeheurer Ofen, der ging fast bis an die Decke hinauf, und auf die weisen Kacheln waren grose, blaue Bilder hingemalt. Da waren alte Turme darauf, mit hohen Baumen ringsum, und unter den Baumen ging ein Jager dahin mit seinen Hunden. Dann war wieder ein stiller See unter weitschattigen Eichen, und ein Fischer stand daran und hielt seine Rute weit in das Wasser hinaus. Um den ganzen Ofen herum ging eine Bank, so das man da gleich hinsetzen und die Bilder studieren konnte. Hier gefiel es dem Heidi sogleich. Sowie es mit dem Grosvater in die Stube eingetreten war, lief es auf den Ofen zu, setzte sich auf die Bank und fing an die Bilder zu betrachten. Aber wie es, auf der Bank weiter gleitend, bis hinter den Ofen gelangte, nahm eine neue Erscheinung seine ganze Aufmerksamkeit in Beschlag: In dem ziemlich grosen Raume zwischen dem Ofen und der Wand waren vier Bretter aufgestellt, so wie zu einem Apfelbehalter. Darinnen lagen aber nicht Apfel, da lag unverkennbar Heidis Bett, ganz so, wie es oben auf der Alm gewesen war: ein hohes Heulager mit dem Leintuch und dem Sack als Decke darauf. Das Heidi jauchzte auf:
“Oh, Grosvater, da ist meine Kammer, o wie schon! Aber wo must du schlafen?”
“Deine Kammer mus nahe beim Ofen sein, damit du nicht frierst", sagte der Grosvater, “die meine kannst du auch sehen.”
Das Heidi hupfte durch die weite Stube dem Grosvater nach, der auf der anderen Seite eine Tur aufmachte, die in einen kleinen Raum hineinfuhrte, da hatte der Grosvater sein Lager errichtet. Dann kam aber wieder eine Tur. Das Heidi machte sie geschwind auf und stand ganz verwundert still, denn da sah man in eine Art von Kuche hinein, die war so ungeheuer gros, wie es noch nie in seinem Leben eine gesehen hatte. Da war viel Arbeit fur den Grosvater gewesen, und es blieb auch noch immer viel zu tun ubrig, denn da waren Locher und weite Spalten in den Mauern auf allen Seiten, wo der Wind hereinpfiff, und doch waren schon so viele mit Holzbrettern vernagelt worden, das es aussah, als waren ringsum kleine Holzschranke in der Mauer angebracht. Auch die grose, uralte Tur hatte der Grosvater wieder mit vielen Drahten und Nageln festzumachen verstanden, so das man sie schliesen konnte, und das war gut, denn nachher ging es in lauter verfallenes Gemauer hinaus, wo dickes Gestrupp emporwuchs und Scharen von Kafern und Eidechsen ihre Wohnungen hatten.
Dem Heidi gefiel es wohl in der neuen Behausung, und schon am anderen Tage, als der Peter kam, um zu sehen, wie es in der neuen Wohnung zugehe, hatte es alle Winkel und Ecken so genau ausgeguckt, das es ganz daheim war und den Peter uberall herumfuhren konnte. Es lies ihm auch durchaus keine Ruhe, bis er ganz grundlich alle die merkwurdigen Dinge betrachtet hatte, die der neue Wohnsitz enthielt.
Das Heidi schlief vortrefflich in seinem Ofenwinkel, aber am Morgen meinte es doch immer, es sollte auf der Alp erwachen und es musse gleich die Huttentur aufmachen, um zu sehen, ob die Tannen darum nicht rauschten, weil der hohe, schwere Schnee darauf liege und die Aste niederdrucke. So muste es jeden Morgen zuerst lange hin und her schauen, bis es sich wieder besinnen konnte, wo es war, und jedesmal fuhlte es etwas auf seinem Herzen liegen, das es wurgte und druckte, wenn es sah, das es nicht daheim sei auf der Alp. Aber wenn es dann den Grosvater reden horte drausen mit dem Schwanli und dem Barli und dann die Geisen so laut und lustig meckerten, als wollten sie ihm zurufen: “Mach doch, das du einmal kommst, Heidi", dann merkte es, das es doch daheim war, und sprang frohlich aus seinem Bette und dann so schnell als moglich in den grosen Geisenstall hinaus. Aber am vierten Tage sagte das Heidi sorglich: “Heute mus ich gewis zur Grosmutter hinauf, sie kann nicht so lange allein sein.”
Aber der Grosvater war nicht einverstanden. “Heute nicht und morgen auch noch nicht", sagte er. “Die Alm hinauf liegt der Schnee klaftertief, und immer noch schneit es fort; kaum kann der feste Peter durchkommen. Ein Kleines wie du, Heidi, ware auf der Stelle eingeschneit und zugedeckt und nicht mehr zu finden. Wart noch ein wenig, bis es friert, dann kannst du bequem uber die Schneedecke hinaufspazieren.”
Das Warten machte zuerst dem Heidi ein wenig Kummer. Aber die Tage waren jetzt so angefullt von Arbeit, das immer einer unversehens dahin war und ein anderer kam. Jeden Morgen und jeden Nachmittag ging das Heidi jetzt in die Schule im Dorfli und lernte ganz eifrig, was da zu lernen war. Den Peter sah es aber fast nie in der Schule, denn meistens kam er nicht. Der Lehrer war ein milder Mann, der nur dann und wann sagte: “Es scheint mir, der Peter sei wieder nicht da. Die Schule tate ihm doch gut, aber es liegt auch gar viel Schnee dort hinauf, er wird wohl nicht durchkommen.” Aber gegen Abend, wenn die Schule aus war, kam der Peter meistens durch und machte seinen Besuch beim Heidi.
Nach einigen Tagen kam die Sonne wieder hervor und warf ihre Strahlen uber den weisen Boden hin, aber sie ging ganz fruh wieder hinter die Berge hinab, so als gefalle es ihr lange nicht so gut herunterzuschauen wie im Sommer, wenn alles grunte und bluhte. Aber am Abend kam der Mond ganz hell und gros herauf und leuchtete die ganze Nacht uber die weiten Schneefelder hin, und am anderen Morgen glitzerte und flimmerte die ganze Alp von oben bis unten wie ein Kristall. Als der Peter wie die Tage vorher aus seinem Fenster in den tiefen Schnee hinabspringen wollte, ging es ihm, wie er nicht erwartet hatte. Er nahm einen Satz hinaus, aber anstatt ins Weiche hinab zu kommen, schlug es ihn auf dem unerwartet harten Boden gleich um, und unversehens fuhr er ein gutes Stuck den Berg hinunter wie ein herrenloser Schlitten. Sehr verwundert kam er schlieslich wieder auf seine Fuse, und nun stampfte er mit aller Macht auf den Schneeboden, um sich zu versichern, das auch wirklich moglich sei, was ihm soeben begegnet war. Es war richtig: Wie er auch stampfte und einschlug mit den Absatzen, kaum konnte er ein kleines Eissplitterchen herausschlagen. Die ganze Alm war steinhart zugefroren. Das war dem Peter eben recht: Er wuste, das dieser Zustand der Dinge notig war, damit das Heidi einmal wieder da heraufkommen konnte. Schleunig kehrte er um, schluckte seine Milch hinunter, welche die Mutter eben auf den Tisch gestellt hatte, steckte sein Stucklein Brot in die Tasche und sagte eilig: “Ich mus in die Schule.”
“Ja, so geh und lern auch brav", sagte die Mutter beistimmend.
Der Peter kroch zum Fenster hinaus—denn nun war man eingesperrt um des Eisberges willen vor der Ture—, zog seinen kleinen Schlitten nach sich, setzte sich darauf und schos den Berg hinunter.
Es ging wie der Blitz, und als er beim Dorfli da ankam, wo es gleich weiter hinab gegen Maienfeld hin ging, fuhr der Peter weiter, denn es kam ihm so vor, als muste er sich und dem Schlitten Gewalt antun, wenn er auf einmal den Lauf einhalten wollte. So fuhr er zu, bis er ganz unten in der Ebene ankam und es von selbst nicht mehr weiterging. Dann stieg er ab und schaute sich um. Die Gewalt der Niederfahrt hatte ihn noch ziemlich uber Maienfeld hinausgejagt. Jetzt bedachte er, das er jedenfalls zu spat in die Schule kame, da sie schon lange begonnen hatte, er aber zum Hinaufsteigen fast eine Stunde brauchte. So konnte er sich alle Zeit lassen zur Ruckkehr. Das tat er denn auch und kam gerade oben im Dorfli wieder an, als das Heidi aus der Schule zuruckgekehrt war und sich mit dem Grosvater an den Mittagstisch setzte. Der Peter trat herein, und da er diesmal einen besonderen Gedanken mitzuteilen hatte, so lag ihm dieser obenauf, und er muste ihn gleich beim Eintreten loswerden.
“Es hat ihn", sagte der Peter, mitten in der Stube stillstehend.
“Wen? Wen? General! Das tont ziemlich kriegerisch", sagte der Ohi.
“Den Schnee", berichtete Peter.
“Oh! Oh! jetzt kann ich zur Grosmutter hinauf!” frohlockte das Heidi, das die Ausdrucksweise des Peter gleich verstanden hatte. “Aber warum bist du denn nicht in die Schule gekommen? Du konntest ja gut herunterschlittern", setzte es auf einmal vorwurfsvoll hinzu, denn dem Heidi kam es vor, das sei nicht in der Ordnung, so drausen zu bleiben, wenn man doch gut in die Schule gehen konnte.
“Bin zu weit gekommen mit dem Schlitten, war zu spat", gab der Peter zuruck.
“Das nennt man desertieren", sagte der Ohi, “und Leute, die das tun, nimmt man bei den Ohren, horst du?”
Der Peter ris erschrocken an seiner Kappe herum, denn vor keinem Menschen auf der Welt hatte er einen so grosen Respekt wie vor dem Almohi.
“Und dazu ein Anfuhrer, wie du einer bist, der mus sich doppelt schamen, so auszureisen", fuhr der Ohi fort. “Was meinst, wenn einmal deine Geisen eine da und die andere dort hinausliefen und sie wollten dir nicht mehr folgen und nicht tun, was gut ist fur sie, was wurdest du dann machen?”
“Sie hauen", entgegnete der Peter kundig.
“Und wenn einmal ein Bub so tate wie eine ungebardige Geis und er wurde ein wenig durchgehauen, was wurdest du dann sagen?”
“Geschieht ihm recht", war die Antwort.
“So, jetzt weist was, Geisenoberst: Wenn du noch einmal auf deinem Schlitten uber die Schule hinausfahrst zu einer Zeit, da du hinein solltest, so komm dann nachher zu mir und hol dir, was dir dafur gehort.”
Jetzt verstand der Peter den Zusammenhang der Rede und das er mit dem Buben gemeint sei, der fortlaufe wie eine ungebardige Geis. Er war ganz getroffen von dieser Ahnlichkeit und schaute ein wenig banglich in die Winkel hinein, ob so etwas zu entdecken sei, wie er es in solchen Fallen fur die Geisen gebrauchte.
Aber ermunternd sagte nun der Ohi: “Komm an den Tisch jetzt und halt mit, dann geht das Heidi mit dir. Am Abend bringst du's wieder heim, dann findest du dein Nachtessen hier.”
Diese unerwartete Wendung der Dinge war dem Peter hochst erfreulich. Sein Gesicht verzog sich nach allen Seiten vor Vergnugen. Er gehorchte unverzuglich und setzte sich neben das Heidi hin. Das Kind aber hatte schon genug und konnte gar nicht mehr schlucken vor Freude, das es zur Grosmutter gehen sollte. Es schob die grose Kartoffel und den Kasebraten, die noch auf seinem Teller lagen, dem Peter zu, der von der anderen Seite vom Ohi den Teller voll bekommen hatte, so das ein ganzer Wall vor ihm aufgerichtet stand, aber der Mut zum Angriff fehlte ihm nicht. Das Heidi rannte an den Schrank und holte sein Mantelchen von der Klara hervor. Jetzt konnte es, ganz warm eingepackt, mit der Kapuze uber dem Kopf, seine Reise machen. Es stellte sich nun neben den Peter hin, und sobald dieser sein letztes Stuck eingeschoben hatte, sagte es: “Jetzt komm!” Dann machten sie sich auf den Weg. Das Heidi hatte dem Peter sehr viel zu erzahlen vom Schwanli und Barli, das sie beide am ersten Tage in dem neuen Stall gar nicht hatten fressen wollen und das sie die Kopfe hatten hangen lassen den ganzen Tag und keinen Ton von sich gegeben hatten. Und es habe den Grosvater gefragt, warum sie so tun. Dann habe er gesagt: Sie tun so wie es in Frankfurt, denn sie seien noch nie von der Alm heruntergekommen ihr Leben lang. Und das Heidi setzte hinzu: “Du solltest nur einmal erfahren, wie das ist, Peter.”
Die beiden waren so fast oben angekommen, ohne das der Peter ein einziges Wort gesagt hatte, und es war auch, als ob ihn ein tiefer Gedanke beschaftigte, das er nicht einmal recht zuhoren konnte wie sonst. Als sie nun bei der Hutte angekommen waren, stand der Peter still und sagte ein wenig storrisch: “Dann will ich noch lieber in die Schule gehen, als beim Ohi holen, was er gesagt hat.”
Das Heidi war derselben Meinung und bestarkte den Peter ganz eifrig in seinem Vorsatz. Drinnen in der Stube sas die Mutter allein beim Flickwerk. Sie sagte, die Grosmutter musse die Tage im Bett bleiben, es sei zu kalt fur sie, und dann sei ihr auch sonst nicht recht. Das war dem Heidi etwas Neues; sonst sas die Grosmutter immer an ihrem Platz in der Ecke. Es rannte gleich zu ihr in die Kammer hinein. Sie lag ganz von dem grauen Tuche umwickelt in ihrem schmalen Bett mit der dunnen Decke.
“Gott Lob und Dank!” sagte die Grosmutter gleich, als sie das Heidi hereinspringen horte. Sie hatte schon den ganzen Herbst durch eine geheime Angst im Herzen gehabt, die sie noch immer verfolgte, besonders wenn das Heidi eine Zeitlang nicht kam. Der Peter hatte berichtet, wie ein fremder Herr aus Frankfurt gekommen sei und immer mit auf die Weide komme und mit dem Heidi reden wolle, und die Grosmutter meinte nicht anders, als der Herr sei gekommen, das Heidi wieder mit fortzunehmen. Wenn er auch nachher schon allein abreiste, so stieg die Angst doch immer wieder in ihr auf, es konnte irgendein Abgesandter von Frankfurt herkommen und das Kind wieder zuruckholen. Das Heidi sprang zu dem Bett der Kranken hin und fragte sorglich: “Bist du stark krank, Grosmutter?”
“Nein, nein, Kind", beruhigte die Alte, indem sie das Heidi liebevoll streichelte, “der Frost ist mir nur ein wenig in die Glieder gefahren.”
“Wirst du dann auf der Stelle gesund, wenn es wieder warm ist?” fragte eindringlich das Heidi weiter.
“Ja, ja, will's Gott, noch vorher, das ich wieder an mein Spinnrad kann. Ich meinte schon heute, ich wolle es probieren, morgen wird's dann schon wieder gehen", sagte die Grosmutter in zuversichtlicher Weise, denn sie hatte schon gemerkt, das das Kind erschrocken war.
Ihre Worte beruhigten das Heidi, dem es sehr angst gewesen war, denn krank im Bett hatte es die Grosmutter noch nie getroffen. Es betrachtete sie jetzt ein wenig verwundert, dann sagte es:
“In Frankfurt legen sie einen Schal an zum Spazierengehen. Hast du etwa gemeint, man musse ihn anlegen, wenn man ins Bett geht, Grosmutter?”
“Weist du, Heidi", entgegnete sie, “ich nehme den Schal so um im Bett, das ich nicht friere. Ich bin so froh daruber, die Decke ist ein wenig dunn.”
“Aber Grosmutter", fing das Heidi wieder an, “bei deinem Kopf geht es bergab, wo es ganz bergauf gehen sollte; so mus ein Bett nicht sein.”
“Ich weis schon, Kind, ich spure es auch wohl", und die Grosmutter suchte auf dem Kissen, das wie ein dunnes Brett unter ihrem Kopfe lag, einen besseren Platz zu gewinnen. “Siehst du, das Kissen war nie besonders dick, und jetzt habe ich so viele Jahre darauf geschlafen, das ich es ein wenig flachgelegen habe.”
“O hatt ich nur in Frankfurt die Klara gefragt, ob ich nicht mein Bett mitnehmen konne", sagte jetzt das Heidi. “Da hatte es drei grose, dicke Kissen aufeinander, das ich gar nicht schlafen konnte und immer weiter herunterrutschte, bis wo es flach war, und dann muste ich wieder hinauf, weil man dort so schlafen mus. Konntest du so schlafen, Grosmutter?”
“Ja freilich, das macht warm, und man bekommt den Atem so gut, wenn man so hoch liegen kann mit dem Kopf", sagte die Grosmutter, ein wenig muhsam ihren Kopf aufrichtend, so wie um eine hohere Stelle zu finden. “Aber wir wollen jetzt nicht von dem reden, ich habe ja dem lieben Gott fur so vieles zu danken, was andere Alte und Kranke nicht haben. Schon das gute Brotchen, das ich immer bekomme, und das schone, warme Tuch hier und das du so zu mir kommst, Heidi. Willst du mir auch wieder etwas lesen heute?”
Das Heidi lief hinaus und holte das alte Liederbuch herbei. Nun suchte es ein schones Lied nach dem andern, denn es kannte sie jetzt wohl, und es freute sich selbst, das alles wieder zu horen, es hatte ja seit vielen Tagen die Verse alle, die ihm lieb waren, nicht mehr gehort.
Die Grosmutter lag mit gefalteten Handen da, und auf ihrem Gesichte, das erst so bekummert ausgesehen hatte, lag jetzt ein so freudiges Lacheln, als ware ihr eben ein groses Gluck zuteil geworden.
Das Heidi hielt auf einmal inne.
“Grosmutter, bist du schon gesund geworden?” fragte es.
“Es ist mir wohl, Heidi, es ist mir wohl geworden daruber. Lies es noch fertig, willst du?”
Das Kind las sein Lied zu Ende, und als die letzten Worte kamen:
“Wird mein Auge dunkler, truber,
Dann erleuchte meinen Geist,
Das ich frohlich zieh' hinuber,
Wie man nach der Heimat reist",
da wiederholte sie die Grosmutter und dann noch einmal und noch einmal, und auf ihrem Gesicht lag jetzt eine grose freudige Erwartung. Dem Heidi wurde so wohl dabei. Der ganze sonnige Tag seiner Heimkehr stieg vor ihm auf, und voller Freude rief es aus: “Grosmutter, ich weis schon, wie es ist, wenn man nach der Heimat reist.” Sie antwortete nichts, aber sie hatte die Worte wohl vernommen, und der Ausdruck, der dem Heidi so wohl getan hatte, blieb auf ihrem Gesicht.
Nach einer Weile sagte das Kind wieder: “Jetzt wird's dunkel, Grosmutter, ich mus heim; aber ich bin so froh, das es dir jetzt wieder wohl ist.”
Die Grosmutter nahm die Hand des Kindes in die ihrige und hielt sie fest; dann sagte sie:
“Ja, ich bin auch wieder so froh; wenn ich auch noch liegen bleiben mus, so ist es mir doch wohl. Siehst du, das weis niemand, der es nicht erfahren hat, wie das ist, wenn man viele, viele Tage so ganz allein daliegt und hort kein Wort von einem andern Menschen und kann nichts sehen, nicht einen einzigen Sonnenstrahl. Dann kommen so schwere Gedanken uber einen, das man manchmal meint, es konne nie mehr Tag werden und man konne nicht mehr weiter. Aber wenn man dann einmal wieder die Worte hort, die du mir vorgelesen hast, so ist es, wie wenn einem ein Licht davon aufgehen wurde im Herzen, an dem man sich wieder freuen kann.”
Jetzt lies die Grosmutter die Hand des Kindes los, und nachdem es ihr gute Nacht gesagt, lief es in die Stube zuruck und zog den Peter eilig hinaus, denn es war unterdessen Nacht geworden. Aber drausen stand der Mond am Himmel und schien hell auf den weisen Schnee, das es war, als wolle der Tag schon wieder angehen. Der Peter zog seinen Schlitten zurecht, setzte sich vorn darauf, das Heidi hinter ihn, und fort schossen sie die Alm hinunter, nicht anders, als waren sie zwei Vogel, die durch die Lufte sausen.
Als spater das Heidi auf seinem schonen, hohen Heubette hinter dem Ofen lag, da kam ihm die Grosmutter wieder in den Sinn, wie sie so schlecht lag mit dem Kopfe, und dann muste es an alles denken, was sie gesagt hatte, und an das Licht, das ihr die Worte im Herzen anzunden. Und es dachte: Wenn die Grosmutter nur alle Tage die Worte horen konnte, dann wurde es ihr jeden Tag einmal wohl. Aber es wuste, nun konnte eine ganze Woche, oder vielleicht auch zwei, vergehen, ehe es wieder zu ihr hinauf durfte. Das kam dem Heidi so traurig vor, das es immer starker nachsinnen muste, was es nur machen konnte, das die Grosmutter die Worte jeden Tag zu horen bekame. Auf einmal fiel ihm die Hilfe ein, und es war so froh daruber, das es meinte, es konne gar nicht erwarten, das der Morgen wiederkomme und es seinen Plan ausfuhren konne. Auf einmal setzte das Heidi sich wieder ganz gerade auf in seinem Bett, denn vor lauter Nachdenken hatte es ja sein Nachtgebet noch nicht zum lieben Gott hinaufgeschickt, und das wollte es doch nie mehr vergessen.
Als es nun so recht von Herzen fur sich und den Grosvater und die Grosmutter gebetet hatte, fiel es auf einmal in sein weiches Heu zuruck und schlief ganz fest und friedlich bis zum hellen Morgen.
Am andern Tage kam der Peter gerade zur rechten Zeit in die Schule heruntergefahren. Sein Mittagessen hatte er in seinem Sack mitgebracht, denn da ging es so zu: Wenn um Mittag die Kinder im Dorfli nach Hause gingen, dann setzten sich die einzelnen Schuler, die weit weg wohnten, auf die Klassentische, stemmten die Fuse fest auf die Banke und breiteten auf den Knien die mitgebrachten Speisen aus, um so ihr Mittagsmahl zu halten. Bis um ein Uhr konnten sie sich daran vergnugen, dann fing die Schule wieder an. Hatte der Peter einmal einen solchen Schultag mitgemacht, dann ging er am Schlus zum Ohi hinuber und machte seinen Besuch beim Heidi.
Als er heute nach Schulschlus in die grose Stube beim Ohi eintrat, schos das Heidi gleich auf ihn zu, denn gerade auf ihn hatte es gewartet. “Peter, ich weis etwas", rief es ihm entgegen.
“Sag's", gab er zuruck.
“Jetzt must du lesen lernen", lautete die Nachricht.
“Hab's schon getan", war die Antwort.
“Ja, ja, Peter, so mein ich nicht", eiferte jetzt das Heidi. “Ich meine so, das du es nachher kannst.
“Kann nicht", bemerkte der Peter.
“Das glaubt dir jetzt kein Mensch mehr und ich auch nicht", sagte das Heidi sehr entschieden. “Die Grosmama in Frankfurt hat schon gewust, das es nicht wahr ist, und sie hat mir gesagt, ich soll es nicht glauben.”
Der Peter staunte uber diese Nachricht.
“Ich will dich schon lesen lehren, ich weis ganz gut, wie", fuhr das Heidi fort. “Du must es jetzt einmal erlernen, und dann must du alle Tage der Grosmutter ein Lied lesen oder zwei.”
“Das ist nichts", brummte der Peter.
Dieser hartnackige Widerstand gegen etwas, das gut und recht war und dem Heidi so sehr am Herzen lag, brachte es in Aufregung. Mit blitzenden Augen stellte es sich jetzt vor den Buben hin und sagte bedrohlich:
“Dann will ich dir schon sagen, was kommt, wenn du nie etwas lernen willst: Deine Mutter hat schon zweimal gesagt, du mussest auch nach Frankfurt, das du allerhand lernest, und ich weis schon, wo dort die Buben in die Schule gehen. Beim Ausfahren hat mir die Klara das furchtbar grose Haus gezeigt. Aber dort gehen sie nicht nur, wenn sie Buben sind, sondern immerfort, wenn sie schon ganz grose Herren sind, das habe ich selber gesehen. Und dann must du nicht meinen, das nur ein einziger Lehrer da ist wie bei uns, und ein so guter. Da gehen immer ganze Reihen, viele miteinander in das Haus hinein, und alle sehen ganz schwarz aus, wie wenn sie in die Kirche gingen, und haben so hohe schwarze Hute auf den Kopfen”—und das Heidi gab das Mas von den Huten an vom Boden auf.
Dem Peter fuhr ein Schauder den Rucken hinauf.
“Und dann must du dort hinein unter alle die Herren", fuhr das Heidi mit Eifer fort, “und wenn es dann an dich kommt, so kannst du gar nicht lesen und machst noch Fehler beim Buchstabieren. Dann kannst du nur sehen, wie dich die Herren ausspotten, das ist dann noch viel arger als die Tinette, und du solltest nur wissen, wie es ist, wenn diese spottet.”
“So will ich", sagte der Peter halb klaglich, halb argerlich.
Im Augenblick war das Heidi besanftigt. “So, das ist recht, dann wollen wir gleich anfangen", sagte es erfreut, und geschaftig zog es den Peter an den Tisch hin und holte das notige Werkzeug herbei.
In dem grosen Paket der Klara hatte sich auch ein Buchlein befunden, das dem Heidi wohlgefiel, und schon gestern nacht war es ihm in den Sinn gekommen, das konne es gut zu dem Unterricht fur den Peter gebrauchen, denn das war ein Abc-Buchlein mit Spruchen.
Jetzt sasen die beiden am Tisch, die Kopfe uber das kleine Buch gebeugt, und die Lehrstunde konnte beginnen.
Der Peter muste den ersten Spruch buchstabieren und dann wieder und dann noch einmal, denn das Heidi wollte die Sache sauber und gelaufig haben.
Endlich sagte es: “Du kannst's immer noch nicht, aber ich will dir ihn jetzt einmal hintereinander lesen; wenn du weist, wie's heisen mus, kannst du's dann besser zusammenbuchstabieren.” Und das Heidi las:
“Geht heut das A B C noch nicht,
Kommst morgen du vors Schulgericht.”
“Ich geh nicht", sagte der Peter storrisch.
“Wohin?” fragte das Heidi.
“Vor das Gericht", war die Antwort.
“So mach, das du einmal die drei Buchstaben kennst, dann must du ja nicht gehen", bewies ihm das Heidi.
Jetzt setzte der Peter noch einmal an und repetierte beharrlich die drei Buchstaben so lange fort, bis das Heidi sagte:
“Jetzt kannst du die drei.”
Da es aber nun bemerkt hatte, welch eine Wirkung der Spruch auf den Peter ausgeubt hatte, wollte es gleich noch ein wenig vorarbeiten fur die folgenden Lehrstunden.
“Wart, ich will dir jetzt noch die anderen Spruche lesen", fuhr es fort, “dann wirst du sehen, was alles noch kommen kann.”
Und es begann sehr klar und verstandlich zu lesen:
“D E F G mus fliesend sein,
Sonst kommt ein Ungluck hintendrein.
Vergessen H I K,
Das Ungluck ist schon da.
Wer am L M noch stottern kann,
Zahlt eine Bus und schamt sich dann.
Es gibt etwas, und wustest's du,
Du lerntest schnell N O P Q.
Stehst du noch an bei R S T,
Kommt etwas nach, das tut dir weh.”
Hier hielt das Heidi inne, denn der Peter war so mauschenstill, das es einmal sehen muste, was er mache. Alle die Drohungen und geheimen Schrecknisse hatten ihm so zugesetzt, das er kein Glied mehr bewegte und schreckensvoll das Heidi anstarrte.
Das ruhrte sogleich sein mitleidiges Herz, und trostend sagte es: “Du must dich nicht furchten, Peter; komm du jetzt nur jeden Abend zu mir, und wenn du dann lernst wie heut, so kennst du allemal zuletzt die Buchstaben, und dann kommt ja das andere nicht. Aber nun must du alle Tage kommen, nicht so, wie du in die Schule gehst; wenn es schon schneit, es tut dir ja nichts.”
Der Peter versprach, so zu tun, denn der erschreckende Eindruck hatte ihn ganz zahm und willig gemacht. Jetzt trat er seinen Heimweg an.
Der Peter befolgte Heidis Vorschrift punktlich, und jeden Abend wurden mit Eifer die folgenden Buchstaben einstudiert und der Spruch beherzigt.
Oft sas auch der Grosvater in der Stube und horte dem Exerzitium zu, indem er vergnuglich sein Pfeifchen rauchte, wahrend es ofter in seinen Mundwinkeln zuckte, so, als ob ihn von Zeit zu Zeit eine grose Heiterkeit ubernehmen wollte.
Nach der grosen Anstrengung wurde der Peter dann meistens aufgefordert, noch dazubleiben und beim Abendessen mitzuhalten, was ihn alsbald fur die ausgestandene Angst, die der heutige Spruch mit sich gebracht hatte, reichlich entschadigte.
So gingen die Wintertage dahin. Der Peter erschien regelmasig und machte wirklich Fortschritte mit seinen Buchstaben.
Mit den Spruchen hatte er aber taglich zu fechten. Man war jetzt beim U angelangt. Als das Heidi den Spruch las:
“Wer noch das U in V verdreht,
Kommt dahin, wo er nicht gern geht",
da knurrte der Peter: “Ja, wenn ich ginge!” Aber er lernte doch tuchtig zu, so, als stehe er unter dem Eindruck, es konnte ihn doch heimlich einer beim Kragen nehmen und dorthin bringen, wohin er nicht gern ginge.
Am folgenden Abend las das Heidi:
“Ist dir das W noch nicht bekannt,
Schau nach dem Rutlein an der Wand.”
Da guckte der Peter hin und sagte hohnisch: “Hat keins.”
“Ja, ja, aber weist du, was der Grosvater im Kasten hat?” fragte das Heidi. “Einen Stecken, fast so dick wie mein Arm, und wenn man ihn herausnimmt, so kann man nur sagen: >Schau nach dem Stecken an der Wand! Der Peter kannte den dicken Haselstock. Augenblicklich beugte er sich uber sein W und suchte es zu erfassen.
Am anderen Tage hies es:
“Willst du noch das X vergessen,
Kriegst du heute nix zu essen.”
Da schaute der Peter forschend zu dem Schrank hinuber, wo das Brot und der Kase darinlagen, und sagte argerlich: “Ich habe ja gar nicht gesagt, das ich das X vergessen wolle.”
“Es ist recht, wenn du das nicht vergessen willst, dann konnen wir auch gleich noch einen lernen", schlug das Heidi vor, “dann hast du morgen nur noch einen einzigen Buchstaben.”
Der Peter war nicht einverstanden. Aber schon las das Heidi:
“Machst du noch Halt beim Y,
Kommst du mit Hohn und Spott davon.”
Da stiegen vor Peters Augen alle die Herren in Frankfurt auf mit den hohen schwarzen Huten auf den Kopfen und Hohn und Spott in den Gesichtern. Augenblicklich warf er sich auf das Ypsilon und lies es nicht wieder los, bis er es so gut kannte, das er die Augen zutun konnte und doch noch wuste, wie es aussah.
Am Tag darauf kam der Peter schon ein wenig hoch beim Heidi an, denn da war ja nur noch ein einziger Buchstabe zu verarbeiten, und als ihm das Heidi gleich den Spruch las:
“Wer zogernd noch beim Z bleibt stehn,
Mus zu den Hottentotten gehn!”,
da hohnte der Peter: “Ja, wenn kein Mensch weis, wo die sind!”
“Freilich, Peter, das weis der Grosvater schon", versicherte das Heidi. “Wart nur, ich will ihn geschwind fragen, wo sie sind, er ist nur beim Herrn Pfarrer druben.” Und schon war das Heidi aufgesprungen und wollte zur Tur hinaus.
“Wart", schrie jetzt der Peter in voller Angst, denn schon sah er in seiner Einbildung den Almohi mitsamt dem Herrn Pfarrer daherkommen und wie ihn die zwei nun gleich anpacken und den Hottentotten ubersenden wurden, denn er hatte ja wirklich nicht mehr gewust, wie das Z hies. Sein Angstgeschrei lies das Heidi stillstehen.
“Was hast du denn?” fragte es verwundert.
“Nichts! Komm zuruck! Ich will lernen", sties der Peter mit Unterbrechungen hervor. Aber das Heidi hatte jetzt selbst gern gewust, wo die Hottentotten seien, und es wollte durchaus den Grosvater fragen. Der Peter schrie ihm aber so verzweifelt nach, das es nachgab und zuruckkam. Nun muste er aber auch etwas tun dafur. Nicht nur wurde das Z so manchmal wiederholt, das der Buchstabe fur alle Zeit in seinem Gedachtnis festsitzen muste, sondern das Heidi ging gleich noch zum Syllabieren uber, und an dem Abend lernte der Peter so viel, das er um einen ganzen Ruck vorwarts kam. So ging es weiter Tag fur Tag.
Der Schnee war wieder weich geworden, und daruberhin schneite es neuerdings einen Tag um den andern, so das das Heidi wohl drei Wochen lang gar nicht zur Grosmutter hinauf konnte. Um so eifriger war es in seiner Arbeit an dem Peter, das er es ersetzen konne beim Liederlesen. So kam eines Abends der Peter heim vom Heidi, trat in die Stube ein und sagte:
“Ich kann's!”
“Was kannst du, Peterli?” fragte erwartungsvoll die Mutter.
“Das Lesen", antwortete er.
“Ist auch das moglich! Hast du's gehort, Grosmutter?” rief die Brigitte aus.
Die Grosmutter hatte es gehort und muste sich auch sehr verwundern, wie das zugegangen sei.
“Ich mus jetzt ein Lied lesen, das Heidi hat's gesagt", berichtete der Peter weiter. Die Mutter holte hurtig das Buch herunter, und die Grosmutter freute sich, sie hatte so lange kein gutes Wort gehort. Der Peter setzte sich an den Tisch hin und begann zu lesen. Seine Mutter sas aufhorchend neben ihm; nach jedem Verse muste sie mit Bewunderung sagen: “Wer hatte es auch denken konnen!”
Auch die Grosmutter folgte mit Spannung einem Verse nach dem andern, sie sagte aber nichts dazu.
Am Tage nach diesem Ereignis traf es sich, das in der Schule in Peters Klasse eine Leseubung stattfand. Als die Reihe an den Peter kommen sollte, sagte der Lehrer:
“Peter, mus man dich wieder ubergehen, wie immer, oder willst du einmal wieder—ich will nicht sagen lesen, ich will sagen: versuchen, an einer Linie herumzustottern?”
Der Peter fing an und las hintereinander drei Linien, ohne abzusetzen.
Der Lehrer legte sein Buch weg. Mit stummem Erstaunen blickte er auf den Peter, so, als habe er desgleichen noch nie gesehen. Endlich sprach er: “Peter, an dir ist ein Wunder geschehen! Solange ich mit unbeschreiblicher Geduld an dir gearbeitet habe, warst du nicht imstande, auch nur das Buchstabieren richtig zu erfassen. Nun ich, obwohl ungern, die Arbeit an dir als nutzlos aufgegeben habe, geschieht es, das du erscheinst und hast nicht nur das Buchstabieren, sondern ein ordentliches, sogar deutliches Lesen erlernt. Woher konnen zu unserer Zeit denn noch solche Wunder kommen, Peter?”
“Vom Heidi", antwortete dieser.
Hochst verwundert schaute der Lehrer nach dem Heidi hin, das ganz harmlos auf seiner Bank sas, so das nichts Besonderes an ihm zu sehen war. Er fuhr fort:
“Ich habe uberhaupt eine Veranderung an dir bemerkt, Peter. Wahrend du fruher oftmals die ganze Woche, ja mehrere Wochen hintereinander in der Schule gefehlt hast, so bist du in der letzten Zeit nicht einen Tag ausgeblieben. Woher kann eine solche Umwandlung zum Guten in dich gekommen sein?”
“Vom Ohi", war die Antwort.
Mit immer groserem Erstaunen blickte der Lehrer vom Peter auf das Heidi und von diesem wieder auf den Peter zuruck.
“Wir wollen es noch einmal versuchen", sagte er dann behutsam, und noch einmal muste der Peter an drei Linien seine Kenntnisse erproben. Es war richtig, er hatte lesen gelernt.
Sobald die Schule zu Ende war, eilte der Lehrer zum Herrn Pfarrer hinuber, um ihm mitzuteilen, was vorgefallen war und in welcher erfreulichen Weise der Ohi und das Heidi in der Gemeinde wirkten.
Jeden Abend las jetzt der Peter daheim ein Lied vor. So weit gehorchte er dem Heidi, weiter aber nicht, ein zweites unternahm er nie; die Grosmutter forderte ihn aber auch nie dazu auf.
Die Mutter Brigitte muste sich noch taglich verwundern, das der Peter dieses Ziel erreicht hatte, und an manchen Abenden, wenn die Vorlesung vorbei war und der Vorleser in seinem Bett lag, muste sie wieder zur Grosmutter sagen:
“Man kann sich doch nicht genug freuen, das der Peterli das Lesen so schon erlernt hat. Jetzt kann man gar nicht wissen, was noch aus ihm werden kann.”
Da antwortete einmal die Grosmutter:
“Ja, es ist so gut fur ihn, das er etwas gelernt hat; aber ich will doch herzlich froh sein, wenn der liebe Gott nun bald den Fruhling schickt, das das Heidi auch wieder heraufkommen kann. Es ist doch, wie wenn es ganz andere Lieder lase. Es fehlt so manchmal etwas in den Versen, wenn sie der Peter liest, und ich mus es dann suchen, und dann komme ich nicht mehr nach mit den Gedanken, und der Eindruck kommt mir nicht ins Herz, wie wenn mir das Heidi die Worte liest.”
Das kam aber daher, weil der Peter sich beim Lesen ein wenig einrichtete, das er's nicht zu unbequem hatte. Wenn ein Wort kam, das gar zu lang war oder sonst schlimm aussah, so lies er es lieber ganz aus, denn er dachte, um drei oder vier Worte in einem Verse werde es der Grosmutter wohl gleich sein, es kommen ja dann noch viele. So kam es, das es fast keine Hauptworter mehr hatte in den Liedern, die der Peter vorlas.
Der Mai war gekommen. Von allen Hohen stromten die vollen Fruhlingsbache ins Tal herab. Ein warmer, lichter Sonnenschein lag auf der Alp. Sie war wieder grun geworden; der letzte Schnee war weggeschmolzen, und von den lockenden Sonnenstrahlen geweckt, guckten schon die ersten Blumchen mit ihren hellen Augen aus dem frischen Grase heraus. Droben rauschte der frohliche Fruhlingswind durch die Tannen und schuttelte ihnen die alten, dunkeln Nadeln fort, das die jungen, hellgrunen herauskommen und die Baume herrlich schmucken konnten. Hoch oben schwang wieder der alte Raubvogel seine Flugel in den blauen Luften, und rings um die Almhutte lag der goldene Sonnenschein warm am Boden und trocknete die letzten feuchten Stellen auf, das man wieder hinsetzen konnte, wo man nur wollte.
Das Heidi war wieder auf der Alp. Es sprang dahin und dorthin und wuste gar nicht, wo es am schonsten war. Jetzt muste es dem Winde lauschen, wie er tief und geheimnisvoll oben von den Felsen heruntersauste, immer naher und immer machtiger, und jetzt schos er in die Tannen und ruttelte und schuttelte sie, und es war, als jauchze er vor Vergnugen, und das Heidi muste auch aufjauchzen und wurde dabei hin und her geblasen wie ein Blattlein. Dann lief es wieder auf das sonnige Platzchen vor der Hutte und setzte sich auf den Boden und guckte in das kurze Gras hinein, zu entdecken, wie viele kleine Blumenkelche sich offnen wollten oder schon offen waren. Da hupften und krochen und tanzten auch so viele lustige Mucken und Kaferchen in der Sonne herum und freuten sich, und das Heidi freute sich mit ihnen und sog den Fruhlingsduft, der aus dem frisch erschlossenen Boden emporstieg, in langen Zugen ein und meinte, so schon sei es noch nie auf der Alp gewesen. Den tausend kleinen Tierlein muste es so wohl sein wie ihm, denn es war gerade, als summten und sangen sie in heller Freude alle durcheinander:
“Auf der Alp! Auf der Alp! Auf der Alp!”
Vom Schopf hinter der Hutte hervor ertonte es hie und da wie ein eifriges Klopfen und Sagen, und das Heidi lauschte auch einmal dorthin, denn das waren die alten, heimatlichen Tone, die es so gut kannte, die von Anfang an zum Leben auf der Alp gehort hatten. Jetzt muste es aufspringen und auch einmal dorthin rennen, denn es muste doch wissen, was beim Grosvater vorging. Vor der Schopftur stand schon fix und fertig ein schoner neuer Stuhl, und am zweiten arbeitete der Grosvater mit geschickter Hand.
“Oh, ich weis schon, was das gibt", rief das Heidi in Freuden aus. “Das ist notig, wenn sie von Frankfurt kommen. Der ist fur die Grosmama und der, den du jetzt machst, fur die Klara, und dann... dann mus noch einer sein", fuhr das Heidi zogernd fort, “oder glaubst du nicht, Grosvater, das Fraulein Rottenmeier auch mitkommt?”
“Das kann ich nun nicht sagen", meinte der Grosvater, “aber es ist sicherer, einen Stuhl bereit zu haben, das wir sie zum Sitzen einladen konnen, wenn sie kommt.”
Das Heidi schaute nachdenklich auf die holzernen Stuhlchen ohne Lehne hin und machte still seine Betrachtungen daruber, wie Fraulein Rottenmeier und ein solches Stuhlchen zusammenpassen wurden. Nach einer Weile sagte es, bedenklich den Kopf schuttelnd:
“Grosvater, ich glaube nicht, das sie darauf sitzt.”
“Dann laden wir sie auf das Kanapee mit dem schonen grunen Rasenuberzug ein", entgegnete ruhig der Grosvater.
Als das Heidi noch nachsann, wo das schone Kanapee mit dem grunen Rasenuberzug sei, erscholl plotzlich von oben her ein Pfeifen und Rufen und Rutenschwingen durch die Luft, das das Heidi sofort wuste, woran es war. Es schos hinaus und war augenblicklich von den herabspringenden Geisen umringt. Denen muste es wohl sein, wie es dem Heidi war, wieder auf der Alp zu sein, denn sie machten so hohe Sprunge und meckerten so lebenslustig wie noch nie, und das Heidi wurde dahin und dorthin gedrangt, denn jede wollte ihm zunachst kommen und ihre Freude bei ihm auslassen. Aber der Peter sties sie alle weg, eine rechts und die andere links, denn er hatte dem Heidi eine Botschaft zu uberbringen. Als er zu ihm vorgedrungen war, hielt er ihm einen Brief entgegen.
“Da!” sagte er, die weitere Erklarung der Sache dem Heidi selbst uberlassend. Es war sehr erstaunt.
“Hast du denn auf der Weide einen Brief fur mich bekommen?” fragte es voller Verwunderung.
“Nein", war die Antwort.
“Ja, wo hast du ihn denn genommen, Peter?”
“Aus dem Brotsack.”
Das war richtig. Gestern abend hatte der Postbeamte im Dorfli ihm den Brief an das Heidi mitgegeben. Den hatte der Peter in den leeren Sack gelegt. Am Morgen hatte er seinen Kase und sein Stuck Brot darauf gepackt und war ausgezogen. Den Ohi und das Heidi hatte er wohl gesehen, als er ihre Geisen abholte, aber erst als er um Mittag mit Brot und Kase zu Ende war und noch die Krumen herausholen wollte, war der Brief wieder in seine Hand gekommen.
Das Heidi las aufmerksam seine Adresse ab, dann sprang es zum Grosvater in den Schopf zuruck und streckte ihm in hoher Freude den Brief entgegen: “Von Frankfurt! Von der Klara! Willst du ihn gleich horen, Grosvater?”
Das wollte dieser schon gern, und auch der Peter, der dem Heidi gefolgt war, schickte sich zum Zuhoren an. Er stemmte sich mit dem Rucken gegen den Turpfosten an, um einen festen Halt zu haben, denn so war es leichter, dem Heidi nachzukommen, wie es nun seinen Brief herunterlas:
Liebes Heidi!
Wir haben schon alles verpackt, und in zwei oder drei Tagen wollen wir abreisen, sobald Papa auch abreist, aber nicht mit uns, er mus zuerst noch nach Paris reisen. Alle Tage kommt der Herr Doktor und ruft schon unter der Tur: “Fort! Fort! Auf die Alp!” Er kann es gar nicht erwarten, das wir gehen. Du solltest nur wissen, wie gern er selbst auf der Alp war! Den ganzen Winter ist er fast jeden Tag zu uns gekommen; dann sagte er immer, er komme zu mir, er musse mir wieder erzahlen! Dann setzte er sich zu mir hin und erzahlte von allen Tagen, die er mit Dir und dem Grosvater auf der Alp zugebracht hat, und von den Bergen und den Blumen und von der Stille so hoch oben uber allen Dorfern und Strasen und von der frischen, herrlichen Luft; und er sagte oft: “Dort oben mussen alle Menschen wieder gesund werden.” Er ist auch selbst wieder so anders geworden, als er eine Zeitlang war, ganz jung und frohlich sieht er wieder aus. Oh, wie freu ich mich, das alles zu sehen und bei Dir auf der Alp zu sein und auch den Peter und die Geisen kennenzulernen! Erst mus ich in Ragaz etwa sechs Wochen lang eine Kur machen, das hat der Herr Doktor befohlen, und dann sollen wir im Dorfli wohnen nachher, und ich soll dann an schonen Tagen auf die Alp hinaufgefahren werden in meinem Stuhl und den Tag uber bei Dir bleiben. Die Grosmama kommt mit und bleibt bei mir; sie freut sich auch, zu Dir hinaufzukommen. Aber denk, Fraulein Rottenmeier will nicht mit. Fast jeden Tag sagt die Grosmama einmal: “Wie ist's mit der Schweizerreise, werte Rottenmeier? Genieren Sie sich nicht, wenn Sie Lust haben mitzukommen.” Aber sie dankt immer furchtbar hoflich und sagt, sie wolle nicht unbescheiden sein. Aber ich weis schon, woran sie denkt: Der Sebastian hat eine so erschreckliche Beschreibung von der Alp gemacht, als er von Deinem Begleit nach Hause kam, wie furchtbare Felsen dort herunterstarren und man uberall in Klufte und Abgrunde niedersturzen konne und das es so steil hinaufgehe, das man auf jedem Tritt befurchten musse, wieder rucklings herunterzukommen, und das wohl Ziegen, aber keine Menschen ohne Lebensgefahr da hinaufklettern konnen. Sie hat sehr geschaudert vor dieser Beschreibung, und seither schwarmt sie nicht mehr fur Schweizerreisen wie fruher. Der Schrecken ist auch in die Tinette gefahren, sie will auch nicht mit. So kommen wir allein, Grosmama und ich; nur Sebastian mus uns bis nach Ragaz begleiten, dann kann er wieder heimkehren.
Ich kann es fast nicht erwarten, bis ich zu Dir kommen kann.
Lebe wohl, liebes Heidi, die Grosmama last Dich tausendmal grusen.
Deine treue Freundin Klara.
Als der Peter diese Worte vernommen hatte, sprang er von dem Turpfosten weg und hieb mit seiner Rute nach rechts und links so rucksichtslos und wutend drein, das die Geisen alle im hochsten Schrecken die Flucht ergriffen und den Berg hinunterrannten in so maslosen Sprungen, wie sie noch selten gemacht hatten. Hinter ihnen her sturmte der Peter und hieb mit seiner Rute in die Luft hinein, als habe er an einem unsichtbaren Feinde einen unerhorten Grimm auszulassen. Dieser Feind war die Aussicht auf die Ankunft der Gaste aus Frankfurt, welche den Peter so sehr erbittert hatte.
Das Heidi war so voller Gluck und Freude, das es durchaus am andern Tage der Grosmutter einen Besuch machen und ihr alles erzahlen muste, wer nun von Frankfurt kommen und besonders auch, wer nicht kommen werde. Das muste fur die Grosmutter ja von der grosten Wichtigkeit sein, denn sie kannte die Personen alle so genau und lebte mit dem Heidi alles, was zu seinem Leben gehorte, immerfort mit der tiefsten Teilnahme durch. Es zog auch beizeiten aus am folgenden Nachmittag, denn jetzt konnte es seine Besuche schon wieder allein unternehmen: Die Sonne schien ja wieder hell und blieb lange am Himmel stehen, und uber den trockenen Boden hin war es ein herrliches Bergabrennen, wahrend der lustige Maiwind hinterhersauste und das Heidi noch ein wenig schneller hinunterjagte. Die Grosmutter lag nicht mehr zu Bett. Sie sas wieder in ihrer Ecke und spann. Es lag aber ein Ausdruck auf ihrem Gesicht, als habe sie es mit schweren Gedanken zu tun. Das war so seit gestern abend, und die ganze Nacht durch hatten diese Gedanken sie verfolgt und nicht schlafen lassen. Der Peter war in seinem grosen Grimm heimgekommen, und sie hatte aus seinen abgebrochenen Ausrufungen entnehmen konnen, das eine Schar von Leuten aus Frankfurt nach der Almhutte hinaufkommen werde. Was dann weiter geschehen sollte, wuste er nicht, aber die Grosmutter muste weiterdenken, und das waren gerade die Gedanken, die sie angstigten und ihr den Schlaf genommen hatten.
Jetzt sprang das Heidi herein und gerade auf die Grosmutter zu, setzte sich auf sein Schemelchen, das immer dastand, und erzahlte ihr mit einem solchen Eifer alles, was es wuste, das es selbst noch immer mehr davon erfullt wurde. Aber auf einmal horte es mitten in seinem Satze auf und fragte besorgt:
“Was hast du, Grosmutter, freut dich alles gar kein bischen?”
“Doch, doch, Heidi, es freut mich schon fur dich, weil du eine so grose Freude daran haben kannst", antwortete sie und suchte ein wenig frohlich auszusehen.
“Aber Grosmutter, ich kann ganz gut sehen, das es dir angst ist. Meinst du etwa, Fraulein Rottenmeier komme doch noch mit?” fragte das Heidi, selber etwas angstlich.
“Nein, nein! Es ist nichts, es ist nichts!” beruhigte die Grosmutter. “Gib mir ein wenig deine Hand, Heidi, das ich recht spuren kann, das du noch da bist. Es wird ja doch zu deinem Besten sein, wenn ich es auch fast nicht uberleben kann.”
“Ich will nichts von dem Besten, wenn du es fast nicht uberleben kannst, Grosmutter", sagte das Heidi so bestimmt, das dieser mit einemmal eine neue Befurchtung aufstieg. Sie muste ja annehmen, das die Leute aus Frankfurt kamen, das Heidi wiederzuholen, denn da es nun wieder gesund war, konnte es ja nicht anders sein, als das sie es wiederhaben wollten. Das war die grose Angst der Grosmutter. Aber sie fuhlte jetzt, das sie es vor dem Heidi nicht merken lassen sollte. Es war ja so mitleidig mit ihr, und da konnte es sich vielleicht widersetzen und nicht gehen wollen, und das durfte nicht sein. Sie suchte nach einer Hilfe, aber nicht lange, denn sie kannte nur eine.
“Ich weis etwas, Heidi", sagte sie nun, “das macht mir wohl und bringt mir die guten Gedanken wieder. Lies mir das Lied, wo es gleich im Anfang heist: >Gott will's machen. Das Heidi wuste jetzt so gut Bescheid in dem alten Liederbuch, das es auf der Stelle fand, was die Grosmutter begehrte, und es las mit hellem Ton:
“Gott will's machen,
Das die Sachen
Gehen, wie es heilsam ist.
Las die Wellen
Immer schwellen,
Denk, wie du so sicher bist!”
“Ja, ja, das ist's grad, was ich horen muste", sagte die Grosmutter erleichtert, und der Ausdruck der Bekummernis verschwand aus ihrem Gesichte. Das Heidi schaute sie nachdenklich an, dann sagte es:
“Gelt, Grosmutter, >heilsam< heist, wenn alles heilt, das es einem wieder ganz wohl wird?”
“Ja, ja, so wird's sein", nickte bejahend die Grosmutter, “und weil der liebe Gott es so machen will, so kann man ja sicher sein, wie's auch kommt. Lies es noch einmal, Heidi, das wir's so recht behalten konnen und nicht wieder vergessen.”
Das Heidi las seinen Vers gleich noch einmal und dann noch ein paarmal, denn die Sicherheit gefiel ihm auch so gut.
Als so der Abend herangekommen war und das Heidi wieder den Berg hinaufwanderte, da kam uber ihm ein Sternlein nach dem andern heraus und funkelte und leuchtete zu ihm herunter, und es war gerade, als wollte jedes wieder neu ihm eine grose Freude ins Herz hineinstrahlen, und alle Augenblicke muste das Heidi wieder stille stehen und hinaufschauen, und wie sie alle ringsum am Himmel in immer hellerer Freude herunterblickten, da muste es ganz laut hinaufrufen: “Ja, ich weis schon, weil der liebe Gott alles so gut weis, wie es heilsam ist, kann man eine solche Freude haben und ganz sicher sein!” Und die Sternlein alle schimmerten und glanzten und winkten dem Heidi zu mit ihren Augen fort und fort, bis es oben bei der Hutte angekommen war, wo der Grosvater stand und auch zu den Sternen hinaufschaute, denn so schon hatten sie lange nicht mehr heruntergestrahlt.
Nicht nur die Nachte, auch die Tage dieses Maimonats waren so hell und klar wie seit vielen Jahren nicht mehr, und ofters schaute der Grosvater am Morgen mit Erstaunen zu, wie die Sonne mit derselben Pracht am wolkenlosen Himmel wieder aufstieg, wie sie niedergegangen war, und er muste wiederholt sagen: “Das ist ein apartes Sonnenjahr; das gibt besondere Kraft in die Krauter. Pas auf, Anfuhrer, das deine Springer nicht zu ubermutig werden vom guten Futter!”
Dann schwang der Peter ganz kuhn seine Rute in der Luft, und auf seinem Gesicht stand deutlich die Antwort geschrieben: “Mit denen will ich's schon aufnehmen.”
So verflos der grunende Mai, und es kam der Juni mit seiner noch warmeren Sonne und den langen, langen lichten Tagen, die alle Blumlein auf der ganzen Alp herauslockten, das sie glanzten und gluhten ringsum und die ganze Luft weit umher mit ihrem susen Duft erfullten. Schon ging auch dieser Monat seinem Ende entgegen, als das Heidi eines Morgens aus der Hutte herausgesprungen kam, wo es seine Morgengeschafte schon vollendet hatte. Es wollte schnell einmal unter die Tannen hinaus und dann ein wenig weiter hinauf, um zu sehen, ob der ganze grose Busch von dem Tausendguldenkraut offenstehe, denn die Blumchen waren so entzuckend schon in der durchscheinenden Sonne. Aber als das Heidi um die Hutte herumrennen wollte, schrie es auf einmal aus allen Kraften so gewaltig auf, das der Ohi aus dem Schopf heraustrat, denn das war etwas Ungewohnliches.
“Grosvater! Grosvater!” rief das Kind wie auser sich. “Komm hierher! Komm hierher! Sieh! Sieh!”
Der Grosvater erschien auf den Ruf, und sein Blick folgte dem ausgestreckten Arm des aufgeregten Kindes.
Die Alm herauf schlangelte sich ein seltsamer Zug, wie noch nie einer hier gesehen worden war. Zuerst kamen zwei Manner mit einem offenen Tragsessel, darauf sas ein junges Madchen, in viele Tucher eingehullt. Dann kam ein Pferd, darauf sas eine stattliche Dame, die sehr lebhaft nach allen Seiten blickte und sich eifrig mit dem jungen Fuhrer unterhielt, der ihr zur Seite ging. Dann kam ein leerer Rollstuhl, von einem andern jungen Burschen gestosen, denn die Kranke, die hineingehorte, wurde den steilen Berg hinan auf dem Tragsessel sicherer transportiert. Zuletzt kam ein Trager, der hatte auf sein Reff so viele Decken, Tucher und Pelze ubereinandergehauft, das sie oben noch hoch uber seinen Kopf hinausragten.
“Sie sind's! Sie sind's!” schrie das Heidi und hupfte hoch auf vor Freude. Sie waren es wirklich. Nun kamen sie naher und naher, und nun waren sie da. Die Trager setzten ihren Sessel auf die Erde, das Heidi sprang herzu, und die beiden Kinder begrusten sich mit ungeheurer Freude. Jetzt war auch die Grosmama oben und stieg von ihrem Pferde herunter. Das Heidi rannte zu ihr hin und wurde mit groser Zartlichkeit begrust. Dann wandte sich die Grosmama zum Almohi um, der sich genaht hatte, um sie zu bewillkommnen. Da war gar keine Steifheit in der Begrusung, denn sie kannte ihn und er sie so gut, als hatten sie schon lange Zeit miteinander verkehrt.
Gleich nach den ersten Worten der Begrusung sagte auch die Grosmama mit groser Lebhaftigkeit: “Mein lieber Ohi, was haben Sie fur einen Herrensitz! Wer hatte das gedacht! Mancher Konig konnte Sie darum beneiden! Wie sieht auch mein Heidi aus! Wie ein Monatsroschen!” fuhr sie fort, indem sie das Kind an sich zog und ihm die frischen Backen streichelte. “Was ist das fur eine Herrlichkeit um und um! Was sagst du, Klarchen, mein Kind, was sagst du!”
Klara schaute in volligem Entzucken um sich. So etwas hatte sie ja in ihrem ganzen Leben nicht gekannt, nicht geahnt.
“Oh, wie schon ist's da! Oh, wie schon ist's da!” rief sie einmal ums andere aus. “So hab ich mir's nicht gedacht. O Grosmama, hier mocht ich bleiben!”
Der Ohi hatte derweilen den Rollstuhl herbeigeruckt und einige der Tucher vom Reff heruntergenommen und hineingebettet. Jetzt trat er an den Tragsessel heran.
“Wenn wir das Tochterchen nun in den gewohnten Stuhl setzten, so ware es besser daran, der Reisesessel ist ein wenig hart", sagte er, wartete aber nicht darauf, ob da jemand Hand anlegen werde, sondern hob sofort die kranke Klara mit seinen starken Armen sachte aus dem Strohsessel und setzte sie mit der grosten Sorgfalt auf den weichen Sitz hin. Dann legte er die Tucher uber die Knie zurecht und bettete ihr die Fuse so bequem auf die Polster, als hatte der Ohi sein Leben lang nichts getan, als Menschen mit kranken Gliedern gepflegt. Die Grosmama hatte im hochsten Erstaunen zugeschaut.
“Mein lieber Ohi", brach sie jetzt aus, “wenn ich wuste, wo Sie die Krankenpflege erlernt haben, noch heute schickte ich alle Warterinnen, die ich kenne, dahin, das sie dasselbe tun. Wie ist denn so etwas moglich?”
Der Ohi lachelte ein wenig. “Es kommt mehr vom Probieren als vom Studieren", entgegnete er, aber auf seinem Gesichte lag trotz des Lachelns ein Zug der Traurigkeit. Vor seinen Augen war aus langst vergangener Zeit das leidende Antlitz eines Mannes aufgestiegen, der so in einen Stuhl gebettet dasas und so verstummelt war, das er kaum ein Glied mehr gebrauchen konnte. Das war sein Hauptmann, den er in Sizilien nach dem heisen Gefechte so an der Erde gefunden und weggetragen hatte und der ihn nachher als einzigen Pfleger um sich litt und nicht mehr von sich gelassen hatte, bis seine schweren Leiden zu Ende waren. Der Ohi sah seinen Kranken wieder vor sich; es war ihm nicht anders, als ob es jetzt seine Sache sei, die kranke Klara zu pflegen und ihr alle die erleichternden Dienstleistungen zu erweisen, die er so wohl kannte.
Der Himmel lag dunkelblau und wolkenlos uber der Hutte und uber den Tannen und weit uber die hohen Felsen weg, die grau schimmernd hineinragten. Klara konnte sich gar nicht genug umschauen, sie war ganz voller Entzucken uber alles, was sie sah.
“O Heidi, wenn ich nur mit dir herumgehen konnte, hier rund um die Hutte und unter die Tannen!” rief sie sehnsuchtig aus. “Wenn ich doch alles mit dir ansehen konnte, was ich schon so lange kenne und doch noch nie gesehen habe!”
Jetzt machte das Heidi eine grose Anstrengung, und richtig, es gelang, der Stuhl rollte ganz schon uber den trockenen Grasboden hin bis unter die Tannen. Hier wurde haltgemacht. So etwas hatte ja Klara wieder in ihrem Leben nie gesehen, wie die hohen, alten Tannen waren, deren lange, breite Aste bis auf den Boden herabwuchsen und da immer groser und dicker wurden. Auch die Grosmama, die den Kindern gefolgt war, stand in hoher Bewunderung da. Sie wuste nicht, was das schonste an den uralten Baumen war, ob die vollen, rauschenden Wipfel hoch oben im Blau oder die geraden, festen Saulenstamme, die mit ihren gewaltigen Asten von so vielen, vielen Jahren erzahlten, die sie schon da oben gestanden und auf das Tal niedergeschaut hatten, wo die Menschen kamen und gingen und immer wieder alles anders wurde, und sie waren immer dieselben geblieben.
Unterdessen hatte das Heidi den Rollstuhl vor den Geisenstall hingeschoben und hatte da die kleine Tur weit aufgerissen, damit Klara auch alles recht sehen konne. Da war nun freilich fur diesmal nicht sehr viel zu sehen, da die Bewohner nicht daheim waren. Ganz bedauerlich rief Klara zuruck:
“O Grosmama, wenn ich doch nur Schwanli und Barli noch erwarten konnte und alle die anderen Geisen und den Peter! Die kann ich ja alle gar nicht sehen, wenn wir dann immer so fruh fort mussen, wie du gesagt hast; das ist so schade!”
“Liebes Kind, jetzt erfreuen wir uns an all dem Schonen, das da ist, und denken nicht daran, was noch fehlen konnte", berichtigte die Grosmama, dem Stuhle folgend, der nun wieder weitergeschoben wurde.
“Oh, die Blumen!” schrie Klara wieder auf. “Ganze Busche so feine, rote Blumchen und alle die nickenden Blauglockchen! Oh, wenn ich doch heraus konnte und sie holen!”
Das Heidi rannte augenblicklich hin und brachte einen grosen Straus zuruck.
“Aber das ist noch gar nichts, Klara", sagte es, die Blumen auf ihren Schos legend. “Wenn du einmal mit uns auf die Weide hinaufkommst, dann wirst du erst etwas sehen! Auf einem Platz zusammen so viele, viele Busche von dem roten Tausendguldenkraut und noch viel, viel mehr blaue Glockenblumchen als hier und so viele tausend von den hellen, gelben Weideroschen, das es ist wie lauter Gold, das am Boden glanzt. Und dann sind erst noch die mit den grosen Blattern, der Grosvater sagt, sie heisen Sonnenaugen, und dann sind noch die braunen, weist du, mit den runden Kopfchen, die riechen so gut, und da ist es so schon! Wenn man da sitzt, dann kann man gar nicht mehr aufstehen, so schon ist es!”
Heidis Augen funkelten vor Verlangen wiederzusehen, was es beschrieb, und Klara war wie angezundet davon, und aus ihren sanften blauen Augen leuchtete ein volliger Widerschein von Heidis feurigem Verlangen auf.
“O Grosmama, kann ich wohl dahin kommen? Glaubst du, ich kann so hoch hinauf?” fragte sie sehnsuchtig. “Oh, wenn ich nur gehen konnte, Heidi, und so mit dir auf der Alp herumsteigen, uberallhin!”
“Ich will dich schon stosen", beruhigte sie das Heidi und nahm nun zum Zeichen, wie leicht das gehe, einen solchen Anlauf um die Ecke herum, das der Stuhl fast den Berg hinuntergeflogen ware. Da stand aber der Grosvater in der Nahe und hielt ihn eben noch rechtzeitig auf in seinem Lauf.
Wahrend der Besuch unter den Tannen stattgefunden hatte, war der Grosvater nicht musig gewesen. Bei der Bank vor der Hutte stand jetzt der Tisch und die notigen Stuhle, und alles lag schon bereit, damit hier das schone Mittagsmahl eingenommen werden konnte, das noch in der Hutte drinnen im Kessel dampfte und an der grosen Gabel uber den Gluten schmorte. Es wahrte aber gar nicht lange, so hatte der Grosvater alles auf den Tisch gesetzt, und frohlich sas nun die ganze Gesellschaft beim Mahle.
Die Grosmama war in hellem Entzucken uber diesen Speisesaal, von dem aus man weit, weit hinab ins Tal und uber alle Berge weg in den blauen Himmel hinein schauen konnte. Ein milder Wind fachelte den Tischgenossen liebliche Kuhlung zu und sauselte druben in den Tannen so anmutig, als ware er eine eigens zum Feste bestellte Tafelmusik.
“So etwas ist mir noch nicht vorgekommen. Es ist eine wahre Herrlichkeit!” rief die Grosmama wieder und wieder aus. “Aber was seh ich", setzte sie jetzt in hochster Bewunderung hinzu, “ich glaube gar, du bist an einem zweiten Stuck Kasebraten angekommen, Klarchen?”
Wirklich lag das zweite golden glanzende Stuck auf Klaras Brotschnitte.
“Oh, das schmeckt so gut, Grosmama, besser als die ganze Tafel in Ragaz", versicherte Klara und bis mit grosem Appetit in die gewurzige Speise hinein.
“Nur zu! Nur zu!” sagte der Almohi wohlgefallig. “Das ist unser Bergwind, der hilft nach, wo die Kuche zuruckbleibt.”
So nahm das frohliche Mahl seinen Verlauf. Die Grosmama und der Almohi verstanden sich ausnehmend wohl, und ihr Gesprach war immer lebhafter geworden. Sie stimmten in allerhand Meinungen uber Menschen und Dinge und den Verlauf der Welt so gut uberein, das es war, als hatten die beiden schon jahrelang in einem freundschaftlichen Verkehr gestanden. So ging eine gute Zeit dahin, und auf einmal schaute die Grosmama gegen Abend hin und sagte:
“Wir mussen uns bald rusten, Klarchen, die Sonne ist schon weit vorgeruckt; die Leute mussen bald wiederkommen mit Pferd und Sessel.”
Aber auf das eben noch so frohliche Gesicht der Klara kam ein ganz trauriger Ausdruck, und sie bat eindringlich: “Oh, nur noch eine Stunde, Grosmama, oder zwei! Wir haben ja die Hutte noch gar nicht gesehen und Heidis Bett und die ganze Einrichtung. Oh, wenn der Tag nur noch zehn Stunden hatte!”
“Das ist nun nicht gut moglich", meinte die Grosmama, aber die Hutte wollte sie auch gern noch ansehen. Man brach also gleich vom Tische auf, und der Ohi lenkte den Stuhl mit fester Hand der Ture zu. Aber hier ging es nicht weiter, der Stuhl war viel zu breit, um durch die Offnung eingehen zu konnen. Der Ohi besann sich nicht lange. Er hob Klara heraus und trug sie auf seinem sicheren Arm in die Hutte hinein.
Hier lief die Grosmama hin und her und besah sich genau die ganze Einrichtung und hatte ihren grosen Spas an der ganzen Hauslichkeit, die so hubsch aufgeraumt und wohlgeordnet aussah. “Das ist ja wohl dein Bett dort auf der Hohe, Heidi, nicht wahr?” fragte sie jetzt und stieg gleich unerschrocken das Leiterchen hinauf zum Heuboden. “Oh, wie das hubsch duftet, das mus ein gesundes Schlafgemach sein!” Und die Grosmama ging zu dem Loche hin und guckte durch, und schon stieg auch der Grosvater mit der Klara auf dem Arm nach, und hinterdrein hupfte das Heidi herauf.
Jetzt standen sie alle um Heidis schon aufgerustetes Heubett herum, und ganz nachdenklich schaute die Grosmama darauf hin und zog von Zeit zu Zeit in langen Atemzugen den wurzigen Duft des frischen Heues mit Behagen ein. Klara war von Heidis Schlafstatte vollig hingerissen.
“O Heidi, wie lustig hast du's doch! Vom Bett aus siehst du gerade in den Himmel hinein und hast einen so schonen Geruch um dich und horst die Tannen rauschen drausen. Oh, so lustig und kurzweilig hab ich noch gar kein Schlafzimmer gesehen!”
Der Ohi schaute jetzt zu der Grosmama hinuber.
“Ich hatte so meine Gedanken", sagte er, “wenn die Frau Grosmama mir glauben wollte und ihr die Sache nicht widerstrebte. Ich meine, wenn wir das Tochterchen ein wenig hier oben behielten, so konnte es zu neuen Kraften kommen. Es sind da so allerhand Tucher und Decken mitgekommen, aus denen bereiten wir hier ein ganz apart weiches Bett, und um die Pflege des Tochterchens muste die Frau Grosmama keine Sorge haben, die ubernehme ich.”
Klara und Heidi jauchzten miteinander auf wie zwei freigelassene Vogel, und uber das Gesicht der Grosmama kam ein ganzer Sonnenschein.
“Mein lieber Ohi, Sie sind ein prachtiger Mann!” brach sie aus. “Was meinen Sie, was ich eben jetzt dachte? Ich sagte im stillen: Muste nicht ein Aufenthalt hier oben das Kind ganz besonders starken? Aber die Pflege! Die Sorge! Die Unbequemlichkeit fur den Wirt! Und Sie kommen und sprechen es aus, so als ware da gar nichts dabei. Ich mus Ihnen danken, mein lieber Ohi, ich mus Ihnen von ganzem Herzen danken!” Und die Grosmama schuttelte dem Ohi die Hand ein Mal ums andere und immer wieder, und der Ohi schuttelte auch die ihrige mit einem ganz erfreuten Gesicht.
Sofort ging der Ohi zur Tat uber. Er trug Klara in ihren Sessel vor die Hutte zuruck, vom Heidi gefolgt, das nicht wuste, wie hoch es vor Freude springen wollte. Dann lud er gleich die samtlichen Tucher und Pelzdecken auf seine Arme und sagte wohlgefallig lachelnd: “Es ist gut, das die Frau Grosmama so wie zu einem Winterfeldzug gerustet hatte: Das konnen wir brauchen.”
“Mein lieber Ohi", antwortete die Herzutretende lebhaft, “Vorsicht ist eine schone Tugend und schutzt vor manchem Ungemach. Wenn man auf den Reisen uber Ihre Gebirge ohne Sturm und Wind und Wolkenbruche davonkommt, so kann man nur danken, und das wollen wir tun, und meine Schutzmittelchen sind auch so noch gut zu gebrauchen; darin sind wir einig.”
Wahrend dieses kleinen Gespraches waren die beiden nach dem Heuboden hinaufgestiegen und begannen nun die Tucher uber das Bett hinzubreiten, eins nach dem andern. Da waren ihrer so viele, das das Bett zuletzt aussah wie eine kleine Festung.
“Jetzt soll mir noch ein einziger Heuhalm durchstechen, wenn er kann", sagte die Grosmama, indem sie noch einmal mit der Hand auf allen Seiten eindruckte, aber die weiche Mauer war so undurchdringlich, das wirklich keiner mehr durchstach. Nun stieg sie befriedigt die Leiter hinunter und trat zu den Kindern heraus, die mit strahlenden Angesichtern nahe zusammensasen und ausmachten, was sie nun tun wollten vom Morgen bis zum Abend, solange Klara auf der Alp bleiben durfte. Aber wie lange wurde das sein? Das war nun die grose Frage, welche augenblicklich der Grosmama vorgelegt wurde. Die sagte, das wisse der Grosvater am besten, ihn musten sie fragen, und als dieser eben herzutrat und nun die Frage an ihn gerichtet wurde, meinte er, vier Wochen seien gerade recht, um beurteilen zu konnen, ob die Alpluft ihre Schuldigkeit an dem Tochterchen tue oder nicht. Jetzt jubelten die Kinder erst recht auf, denn die Aussicht auf solches Zusammenbleiben ubertraf alle ihre Erwartungen.
Nun sah man von unten herauf wieder die Sesseltrager und den Pferdefuhrer mit seinem Tier heranrucken. Die ersteren konnten gleich wieder umkehren.
Als die Grosmama sich anschickte, ihr Pferd zu besteigen, rief Klara frohlich aus: “O Grosmama, das ist nun gar kein Abschied, wenn du schon fortreitest, denn nun kommst du von Zeit zu Zeit zu uns zum Besuch auf die Alp, um zu sehen, was wir machen, und das ist dann so lustig, nicht, Heidi?”
Heidi, das heute von einem Vergnugen ins andere fiel, konnte seine zustimmende Antwort nur durch einen hohen Freudensprung ausdrucken.
Nun bestieg die Grosmama das feste Saumtier, und der Ohi ergriff den Zugel und fuhrte das Pferd mit sicherer Hand den steilen Berg hinunter. Wie auch die Grosmama eiferte, er mochte doch nicht so weit mitgehen, es half nichts: Der Ohi erklarte, er werde ihr sein Geleit bis zum Dorfli hinunter geben, da die Alp so steil und der Ritt nicht ohne Gefahr sei.
In dem einsamen Dorfli gedachte die Grosmama, nun sie allein war, nicht zu bleiben. Sie wollte nach Ragaz zuruckkehren und von dort aus dann von Zeit zu Zeit ihre Alpenreise wiederholen.
Noch bevor der Ohi wieder zuruckgekehrt war, kam der Peter mit seinen Geisen dahergerannt. Als diese merkten, wo das Heidi war, sturzten sie alle der Stelle zu. Im Augenblick war die Klara in ihrem Stuhle samt dem Heidi mitten in dem Rudel drinnen, und drangend und stosend guckte immer eine der Geisen uber die andere her, und jede wurde gleich vom Heidi der Klara genannt und vorgestellt.
So kam es, das diese in der kurzesten Zeit die langerwunschte Bekanntschaft mit dem kleinen Schneehoppli, dem lustigen Distelfink, den sauberen Geisen des Grosvaters, mit allen, allen bis hinauf zum grosen Turk gemacht hatte. Der Peter aber stand derweilen abseits und warf seltsam drohende Blicke auf die vergnugte Klara hin.
Als nun die Kinder beide freundlich zu ihm hinuberriefen: “Gute Nacht, Peter!”, gab er durchaus keine Antwort, sondern hieb mit seiner Rute so grimmig in die Luft hinein, als wollte er diese vollig entzweischlagen. Dann lief er davon und sein Gefolge hinter ihm her.
Zu allem Schonen, das Klara heute auf der Alp schon gesehen hatte, kam nun noch der Schlus.
Als sie oben auf dem Heuboden auf dem grosen, weichen Bette lag, zu dem nun auch das Heidi emporkletterte, da schaute sie durch das offene runde Loch gerade mitten in die schimmernden Sterne hinein, und voller Entzucken rief sie aus:
“O Heidi, sieh, es ist gerade, wie wenn wir auf einem hohen Wagen in den Himmel hineinfahren wurden!”
“Ja, und weist du, warum die Sterne so voller Freude sind und uns so mit den Augen winken?” fragte das Heidi.
“Nein, das weis ich nicht; was meinst du denn?” fragte Klara zuruck.
“Weil sie droben im Himmel sehen, wie der liebe Gott alles so gut einrichtet fur die Menschen, das sie gar keine Angst haben mussen und ganz sicher sein konnen, weil alles so kommt, wie es heilsam ist. Das freut sie so; sieh, wie sie winken, das wir auch so frohlich sein sollen! Aber weist du, Klara, wir mussen auch nicht vergessen zu beten, wir mussen recht den lieben Gott bitten, das er auch an uns denke, wenn er alles so schon einrichtet, das wir auch immer so sicher sein konnen und uns vor gar nichts furchten mussen.”
Jetzt richteten sich die Kinder noch einmal auf und sagten jedes sein Nachtgebet. Dann legte sich das Heidi auf seinen runden Arm und schlief augenblicklich ein. Aber Klara blieb noch lange wach, denn etwas so Wunderbares wie diese Schlafstatte im Sternenschein hatte sie noch in ihrem Leben nicht gesehen.
Sie hatte ja uberhaupt kaum je die Sterne gesehen, denn auser dem Hause war sie des Nachts nie gewesen, und drinnen wurden die dichten Vorhange langst niedergelassen, bevor die Sterne kamen. Wenn sie nun jetzt die Augen zumachen wollte, muste sie sie gleich noch einmal aufschlagen, um zu sehen, ob denn die beiden grosen, hellen Sterne immer noch hereinfunkelten und so merkwurdig winkten, wie das Heidi gesagt hatte. Und immer noch war es so, und Klara konnte es nicht genug bekommen, in das Flimmern und Leuchten hineinzuschauen, bis endlich ihre Augen von selbst zufielen und sie nur im Traume noch die zwei grosen, schimmernden Sterne sah.
Eben war die Sonne hinter den Felsen heraufgestiegen und warf nun ihre goldenen Strahlen uber die Hutte und uber das Tal hinab. Der Almohi hatte, wie er jeden Morgen tat, still und andachtig zugeschaut, wie ringsum auf den Hohen und im Tal die leichten Nebel sich lichteten und das Land aus dem Dammerschatten herausschaute und zum neuen Tage erwachte.
Heller und heller wurden oben die lichten Morgenwolken, bis jetzt die Sonne vollig heraustrat und Fels und Wald und Hugel mit goldenem Lichte ubergos.
Jetzt trat der Ohi in seine Hutte zuruck und ging leise die kleine Leiter hinauf. Klara hatte eben die Augen aufgeschlagen und schaute in der hochsten Verwunderung auf die hellen Sonnenstrahlen, die durch das runde Loch hereindrangen und auf ihrem Bette tanzten und blitzten. Sie wuste gar nicht, was sie sah und wo sie war. Doch jetzt erblickte sie das schlafende Heidi an ihrer Seite, und nun ertonte auch die freundliche Stimme des Grosvaters: “Gut geschlafen? Nicht mude?” Klara versicherte, sie sei nicht mude, und, einmal eingeschlafen, sei sie auch die ganze Nacht nicht mehr erwacht. Das gefiel dem Grosvater, und nun fing er gleich an und besorgte die Klara so gut und so verstandnisvoll, als ware es geradezu sein Beruf, kranke Kinder zu besorgen und es ihnen bequem zu machen.
Das Heidi hatte seine Augen jetzt auch aufgemacht und sah auf einmal mit Erstaunen, wie der Grosvater die schon fertig gerustete Klara auf den Arm nahm und forttrug. Da muste es doch dabeisein. Blitzschnell ging seine Ausrustung vor sich. Dann ging's die Leiter hinunter, und nun war auch das Heidi aus der Tur und stand drausen, mit groser Verwunderung betrachtend, was der Grosvater jetzt wieder ausfuhrte. Er hatte am Abend vorher, als die Kinder schon oben auf ihrem Lager angekommen waren, uberlegt, wo der breite Rollstuhl unter Dach gebracht werden konnte. Die Tur der Hutte war ja viel zu schmal, hier konnte er nie eingefahren werden. Da war ihm ein Gedanke gekommen. Er machte hinten am Schopf zwei grose Laden los, so das da eine breite Offnung entstand. Der Stuhl wurde hineingestosen und die hohen Bretter wieder an ihre Stelle gebracht, wenn auch nicht festgemacht. Das Heidi kam eben an, nachdem der Grosvater Klara drinnen in ihren Stuhl gesetzt, dann die Bretter weggenommen hatte und nun mit ihr aus dem Schopf in den Morgensonnenschein herausgefahren kam. Mitten auf dem Platze lies er den Stuhl stehen und ging dem Geisenstall zu. Das Heidi sprang an Klaras Seite.
Der frische Morgenwind wehte um die Gesichter der Kinder, und ein wurziger Tannenduft kam mit jedem neuen Windeswehen heruber und durchstromte die sonnige Morgenluft. Klara zog tiefe Zuge ein und lehnte sich in ihren Stuhl zuruck, in einem Gefuhl des Wohlseins, wie sie es nie empfunden hatte.
Noch nie in ihrem Leben hatte sie ja auch frische Morgenluft drausen in der freien Natur eingeatmet, und nun wehte die reine Alpenluft um sie so kuhl und erfrischend, das jeder Atemzug ein Genus war. Dazu der helle, suse Sonnenschein, der gar nicht heis war hier oben und so lieblich warm auf ihren Handen lag und an dem trockenen Grasboden zu ihren Fusen. Das es so auf der Alp sein konnte, das hatte sich Klara gar nicht vorstellen konnen.
“O Heidi, wenn ich nur immer, immer hier oben bei dir bleiben konnte!” sagte sie jetzt, sich ganz wohlig hin und her wendend in ihrem Stuhl, um so recht von allen Seiten Luft und Sonne einzutrinken.
“Jetzt siehst du, das es so ist, wie ich dir gesagt habe", entgegnete das Heidi erfreut, “das es am schonsten auf der ganzen Welt beim Grosvater auf der Alm ist.” Eben trat dieser aus dem Stalle heraus zu den Kindern heran. Er brachte zwei Schusselchen voll schaumender, schneeweiser Milch und reichte eins der Klara, das andere dem Heidi.
“Das wird dem Tochterchen wohltun", sagte er, Klara zunickend. “Sie ist vom Schwanli, die gibt Kraft. Zum Wohlsein! Nur zu!” Klara hatte noch nie Milch von einer Geis getrunken, sie hatte erst zur Sicherheit ein wenig daran riechen mussen. Als sie nun aber sah, mit welcher Begier das Heidi seine Milch heruntertrank, ohne ein einziges Mal abzusetzen—so erstaunlich gut schmeckte sie ihm—, da setzte Klara auch an und trank und trank, und wahrhaftig, sie war so sus und kraftig, als ware Zucker und Zimmet darin, und Klara trank zu, bis nichts mehr im Schusselchen war.
“Morgen nehmen wir zwei", sagte der Grosvater, der mit Befriedigung zugesehen hatte, wie Klara Heidis Beispiel gefolgt war.
Jetzt erschien der Peter mit seiner Schar, und wahrend das Heidi durch die allseitigen Morgenbegrusungen gleich mitten in die Herde hineingedrangt wurde, nahm der Ohi den Peter ein wenig auf die Seite, damit dieser verstehen konne, was er ihm zu sagen hatte, denn die Geisen meckerten immer, eine starker als die andere, vor lauter Freude und Freundschaftsbezeugungen, sobald sie das Heidi in ihrer Mitte hatten.
“Jetzt hor zu und pas auf", sagte der Ohi. “Von heut an lassest du dem Schwanli seinen Willen. Es hat die Fuhlung, wo die kraftigsten Krautlein sind; also wenn es hinauf will, so gehst du nach, den anderen tut's ja auch gut, und wenn es hoher will, als du sonst mit ihnen gehst, so gehst du wieder und haltst es nicht zuruck, horst du! Wenn du auch ein wenig klettern must, schad't nichts, du gehst, wo es will, denn in dieser Sache ist es vernunftiger als du, und es mus nur noch vom Besten bekommen, das es eine Prachtmilch gibt. Warum guckst du dort hinuber, wie wenn du einen verschlucken wolltest? Es wird dir niemand im Wege sein. So, jetzt vorwarts, und denk daran!”
Der Peter war gewohnt, dem Ohi aufs Wort zu folgen. Er trat gleich seinen Marsch an; man konnte aber sehen, das er noch etwas im Hinterhalt hatte, denn er drehte immer den Kopf um und rollte mit den Augen. Die Geisen folgten und drangten das Heidi noch eine Strecke mit vorwarts. Das war dem Peter eben recht. “Du must mit", rief er jetzt drohend in den Geisenrudel hinein, “du must mit, wenn man dem Schwanli nachmus.”
“Nein, ich kann nicht", rief das Heidi zuruck, “und ich kann jetzt lange, lange nicht mitkommen, solange die Klara bei mir ist. Aber einmal kommen wir dann miteinander hinauf, der Grosvater hat es uns versprochen.”
Unter diesen Worten hatte das Heidi sich aus den Geisen herausgewunden und sprang nun zu Klara zuruck. Jetzt machte der Peter mit beiden Fausten eine so drohende Gebarde gegen den Rollstuhl hinunter, das die Geisen auf die Seite sprangen. Er sprang aber auf der Stelle nach und ohne Aufenthalt eine ganze Strecke weit hinauf, bis er auser Sicht war, denn er dachte, der Ohi konnte ihn etwa gesehen haben, und er wollte lieber nicht wissen, was fur einen Eindruck das Fausten dem Ohi gemacht habe.
Klara und Heidi hatten fur heute so viel im Sinn, das sie gar nicht wusten, wo anfangen. Das Heidi schlug vor, zuerst den Brief an die Grosmama zu schreiben, den hatten sie ja bestimmt versprochen, und so fur jeden Tag einen neuen. Die Grosmama war doch ihrer Sache nicht so ganz sicher, wie es in die Lange da droben der Klara behagen und auch, wie es mit ihrer Gesundheit gehen wurde, und so hatte sie den Kindern das Versprechen abgenommen, ihr jeden Tag einen Brief zu schreiben und alles zu erzahlen, was sie erlebten. So konnte die Grosmama auch sogleich wissen, wenn sie oben notig werden sollte, und bis dahin ruhig unten bleiben.
“Mussen wir in die Hutte hinein zum Schreiben?” fragte Klara, die wohl dafur war, der Grosmama Bericht zu geben; aber da drausen war es ihr so wohl, das sie gar nicht weg mochte.
Aber das Heidi wuste sich einzurichten. Augenblicklich rannte es in die Hutte hinein und kam mit seinen samtlichen Schulsachen und dem niedrigen Dreibeinstuhlchen beladen wieder zuruck. Nun legte es sein Lesebuch und Schreibheft der Klara auf den Schos, das sie darauf schreiben konnte, und es selbst setzte sich an die Bank hin auf sein Stuhlchen, und nun begannen sie beide der Grosmama zu erzahlen. Aber nach jedem Satze, den Klara geschrieben hatte, legte sie ihren Bleistift wieder hin und schaute um sich. Es war gar zu schon. Der Wind war nicht mehr so kuhl; nur lieblich fachelnd wehte er um ihr Gesicht, und druben in den Tannen flusterte er leise. In der klaren Luft tanzten und summten die kleinen, frohlichen Mucken, und weit umher lag eine grose Stille auf dem ganzen sonnigen Gefilde. Gros und still schauten die hohen Felsenberge heruber, und das ganze weite Tal hinab lag alles wie im stillen Frieden. Nur dann und wann schallte das frohe Jauchzen eines Hirtenbuben durch die Luft, und leise gab das Echo die Tone in den Felsen wieder.
Der Morgen war dahin, die Kinder wusten nicht, wie, und schon kam der Grosvater mit der dampfenden Schussel daher, denn er sagte, mit dem Tochterchen bleibe man nun drausen, solang ein Lichtstrahl am Himmel sei. So wurde das Mittagsmahl wie gestern vor der Hutte aufgestellt und mit Vergnugen eingenommen. Dann rollte das Heidi den Stuhl samt der Klara unter die Tannen hinuber, denn die Kinder hatten ausgemacht, den Nachmittag wollten sie dort in dem schonen Schatten sitzen und einander alles erzahlen, was sich zugetragen, seit das Heidi Frankfurt verlassen hatte. Wenn auch da alles im gewohnten Geleise weitergegangen war, so hatte Klara doch allerlei Besonderes zu berichten von den Menschen, die im Hause Sesemann lebten und die dem Heidi ja so gut bekannt waren.
So sasen die Kinder nebeneinander unter den alten Tannen, und je eifriger sie im Erzahlen wurden, desto lauter pfiffen die Vogel oben in den Zweigen, denn das Geplauder da unten freute sie, und sie wollten auch mithalten. So flog die Zeit dahin, und unversehens war es Abend geworden, und schon kam das Geisenheer heruntergesturmt, der Anfuhrer hintendrein mit Stirnrunzeln und grimmiger Miene.
“Gute Nacht, Peter!” rief ihm das Heidi zu, als es sah, das er nicht im Sinne hatte stillzustehen.
“Gute Nacht, Peter!” rief auch Klara freundlich hinuber.
Er gab keinen Grus zuruck und jagte schnaubend die Geisen weiter.
Als Klara jetzt sah, wie der Grosvater das saubere Schwanli zum Melken nach dem Stalle fuhrte, da ergriff sie auf einmal ein solches Verlangen nach der gewurzigen Milch, das sie es fast nicht erwarten konnte, bis der Grosvater damit kommen wurde. Sie muste selbst erstaunen daruber.
“Das ist aber einmal kurios, Heidi", sagte sie. “Solange ich weis, habe ich nur gegessen, weil ich muste, und alles, was ich bekam, schmeckte nach Fischtran, und tausendmal habe ich gedacht: Wenn man nur nie essen muste! Und jetzt kann ich es fast nicht erwarten, bis der Grosvater kommt mit der Milch.”
“Ja, ich weis schon, was das ist", entgegnete das Heidi ganz verstandnisvoll, denn es gedachte der Tage in Frankfurt, da ihm alles im Halse steckenblieb und nicht hinunter wollte. Klara aber begriff die Sache doch nicht. Sie hatte aber, solange sie lebte, noch nie einen Tag lang in der freien Luft gesessen wie heute, und nun gar in dieser hohen, belebenden Bergluft.
Als der Grosvater mit seinen Schusselchen herankam, erfaste Klara schnell dankend das ihrige, und in durstigen Zugen trank sie hintereinander und war diesmal noch vor dem Heidi zu Ende.
“Darf ich noch ein wenig haben?” fragte sie, dem Grosvater das Schusselchen hinhaltend.
Er nickte wohlgefallig, nahm auch Heidis Gefas wieder in Empfang und ging zur Hutte zuruck. Als er wiederkam, brachte er auf jedem Schusselchen einen hohen Deckel mit, der war aber von anderem Stoff, als die Deckel gewohnlich sind.
Der Grosvater hatte am Nachmittag einen Gang nach dem grunen Maiensas hinuber gemacht, zu der Sennhutte, wo die suse, hellgelbe Butter gemacht wird. Von dort hatte er einen schonen runden Ballen mitgebracht. Jetzt hatte er zwei feste Schnitten Brot genommen und die suse Butter schon dick daraufgestrichen. Diese sollten nun die Kinder zu ihrem Nachtessen haben. Gleich bissen auch alle beide so tief in die appetitlichen Schnitten hinein, das der Grosvater stehenblieb und zuschaute, wie das weitergehen wurde, denn das gefiel ihm.
Als Klara nachher auf ihrem Lager wieder nach den schimmernden Sternen schauen wollte, ging es ihr wie dem Heidi an ihrer Seite: Die Augen fielen ihr auf der Stelle zu, und es kam ein so fester, gesunder Schlaf uber sie, wie sie ihn niemals gekannt hatte.
In dieser erfreulichen Weise verging auch der folgende Tag und dann noch einer, und dann folgte eine grose Uberraschung fur die Kinder. Es kamen zwei kraftige Trager den Berg heraufgestiegen; jeder trug auf seinem Reff ein hohes Bett, fertig aufgerustet in der Bettschaft, beide ganz gleich bedeckt mit einer weisen Decke, sauber und nagelneu. Auch hatten die Manner einen Brief von der Grosmama abzugeben. Da stand darin, das diese Betten fur Klara und Heidi seien, das das Heu- und Deckenlager nun aufgehoben werden solle und das von nun an das Heidi immer in einem richtigen Bette schlafen musse, denn im Winter solle das eine der beiden ins Dorfli heruntergeschafft werden, das andere aber oben bleiben, damit Klara es immer vorfinde, wenn sie wiederkomme. Dann lobte die Grosmama die Kinder um ihrer langen Briefe willen und ermunterte sie, taglich so fortzufahren, damit sie immer alles mitleben konne, als ob sie bei ihnen ware.
Der Grosvater war hineingegangen, hatte den Inhalt von Heidis Lager auf den grosen Heuhaufen geworfen und die Decken weggelegt. Nun kam er wieder, um mit Hilfe der Manner die beiden Betten dort hinauf zu transportieren. Dann ruckte er sie hart aneinander, damit von beiden Kopfkissen aus die Aussicht durch das Loch dieselbe bliebe, denn er kannte die Freude der Kinder an dem Morgen-und Abendschein, der da hereinglanzte.
Unterdessen sas die Grosmama unten im Bade Ragaz und war hocherfreut uber die vortrefflichen Nachrichten, die taglich von der Alp zu ihr heruntergelangten.
Das Entzucken uber ihr neues Leben steigerte sich bei Klara noch von Tag zu Tag, und sie wuste nicht genug zu sagen von der Gute und sorglichen Pflege des Grosvaters und wie lustig und kurzweilig das Heidi sei, noch viel mehr als in Frankfurt, und wie sie jeden Morgen beim Erwachen immer zuerst denke: O gottlob; ich bin noch auf der Alp!
Uber diese ausnehmend erfreulichen Berichte war die Grosmama jeden Tag aufs neue froh. Sie fand auch, da alles so stand, so konne sie ihren Besuch auf der Alp gar wohl noch ein wenig verschieben, was ihr nicht unlieb war, denn der Ritt den steilen Berg hinauf und wieder herunter war ihr doch etwas beschwerlich vorgekommen.
Der Grosvater muste eine ganz besondere Teilnahme fur seinen Pflegling gefast haben, denn es verging kein Tag, an welchem er nicht irgend etwas Neues zu seiner Kraftigung ausdachte. Er machte jetzt jeden Nachmittag weitere Gange in die Felsen hinauf, immer hoher, und jedesmal brachte er ein Bundelchen mit zuruck, das duftete schon von weitem durch die Luft wie gewurzige Nelken und Thymian, und kehrten die Geisen am Abend heim, so fingen sie alle zu meckern und zu springen an und wollten alle miteinander in den Stall eindringen, wo das Bundelchen lag, denn sie kannten den Geruch. Aber der Ohi hatte die Tur gut zugemacht, denn er kletterte den seltenen Krauterchen nicht nach, hoch an die Felsen hinauf, damit die Geisenschar ohne Muhe zu einer guten Mahlzeit komme. Die Krautlein waren alle fur das Schwanli bestimmt, damit es immer noch kraftigere Milch hergebe. Man konnte auch gut sehen, wie die auserordentliche Pflege bei ihm anschlug, denn es warf den Kopf immer lebendiger in die Hohe und machte ganz feurige Augen dazu.
So war nun schon die dritte Woche gekommen, seit Klara auf der Alp war. Seit einigen Tagen hatte der Grosvater des Morgens, wenn er sie heruntertrug, um sie in ihren Stuhl zu setzen, jedesmal gesagt: “Will das Tochterchen nicht einmal probieren, ein wenig auf dem Boden zu stehen?” Klara hatte dann wohl versucht, ihm den Gefallen zu tun, aber sie hatte immer gleich gesagt: “Oh, 's tut zu weh!” und hatte sich an ihn festgeklammert; er lies sie aber jeden Tag ein wenig langer probieren.
Ein so schoner Sommer war seit Jahren nicht auf der Alp gewesen. Jeden Tag zog die strahlende Sonne durch den wolkenlosen Himmel hin, und alle kleinen Blumen machten ihre Kelche weit auf und gluhten und dufteten zu ihr empor, und am Abend warf sie ihr Purpur-und Rosenlicht auf die Felsenhorner und das Schneefeld hinuber und tauchte dann in ein golden flammendes Meer hinab. Davon erzahlte das Heidi seiner Freundin Klara immer wieder, denn nur oben auf der Weide konnte man das alles so recht sehen, und von der Stelle oben am Abhange erzahlte es mit besonderem Feuer, wie dort jetzt die grosen Scharen der glitzernden, goldenen Weideroschen stehen und Blauglockchen so viele, das man meine, dort sei das Gras blau geworden, und daneben ganze Busche von den braunen Kolbenblumchen, die so schon riechen, das man nur auf den Boden sitzen musse zu ihnen und gar nicht mehr fort wolle.
Eben jetzt, unter den Tannen sitzend, hatte das Heidi aufs neue von den Blumen dort oben und der Abendsonne und den leuchtenden Felsen erzahlt, und dabei war ein solches Verlangen in ihm aufgestiegen, wieder einmal dorthin zu kommen, das es mit einemmal aufsprang und davonrannte, dem Grosvater zu, der im Schopf auf seinem Schnitzstuhl sas.
“O Grosvater", rief es schon von weitem hinuber, “kommst du morgen mit uns auf die Weide? Oh, jetzt ist es so schon dort oben!”
“Es bleibt dabei", sagte der Grosvater zustimmend, “aber dann mus mir das Tochterchen auch einen Gefallen tun: Es mus mir heut abend das Stehen noch einmal recht probieren.”
Frohlockend kam das Heidi mit seiner Nachricht zu Klara zuruck, und diese versprach gleich, sovielmal versuchen zu wollen, auf ihren Fusen zu stehen, als der Grosvater nur wolle, denn sie freute sich ganz ungeheuer, diese Reise nach der schonen Geisenweide hinauf zu machen. Das Heidi war so voller Jubel, das es gleich dem Peter entgegenrief, sobald es ihn am Abend beim Herunterkommen erblickte:
“Peter! Peter! Morgen kommen wir auch mit und bleiben den ganzen Tag dort oben.”
Als Antwort brummte der Peter wie ein gereizter Bar und schlug mit Wut nach dem unschuldigen Distelfink, der neben ihm trabte. Aber der flinke Distelfink hatte die Bewegung zur rechten Zeit wahrgenommen. Er machte einen hohen Satz uber das Schneehoppli weg, und der Hieb sauste in die Luft hinaus.
Klara und Heidi bestiegen heute voll herrlicher Erwartungen ihre zwei schonen Betten, und so erfullt waren sie von ihren Planen fur morgen, das sie beschlossen, die ganze Nacht wach zu bleiben und immerfort davon zu sprechen, bis sie wieder aufstehen durften. Kaum lagen sie aber auf ihren guten Kissen, so horten die Gesprache plotzlich auf, und Klara sah im Traume ein groses, groses Feld vor sich, das war ganz himmelblau anzusehen, so dicht besat war es von lauter Glockenblumen; und das Heidi horte den Raubvogel oben in den Hohen, wie er herunterschrie: “Kommt! Kommt! Kommt!”
In aller Fruhe trat der Ohi am andern Morgen aus der Hutte und schaute ringsum, wie der Tag sich gestalten wolle. Auf den hohen Bergspitzen lag ein rotlich-goldener Schein; ein frischer Wind fing an, die Aste der Tannen hin und her zu wiegen; die Sonne wollte kommen.
Eine Weile noch stand der Alte und schaute andachtig zu, wie nach den hohen Berggipfeln die grunen Hugel golden zu schimmern begannen und dann aus dem Tale leise die dunkeln Schatten wichen und ein rosiges Licht hineinflos und nun Hohen und Tiefen im Morgengolde erglanzten; die Sonne war gekommen.
Jetzt holte der Ohi den Rollstuhl aus dem Schopf heraus, stellte ihn, zur Reise gerustet, vor die Hutte hin und trat dann hinein, um den Kindern zu sagen, wie schon der Morgen erwacht sei, und sie herauszuholen.
Eben jetzt kam der Peter herangestiegen. Seine Geisen kamen nicht zutraulich wie gewohnt an seiner Seite und nahe vor und hinter ihm den Berg herauf; sie schossen scheu umher, dahin und dorthin, denn der Peter hieb alle Augenblicke ohne jede Veranlassung um sich wie ein Wutender, und wo er traf, tat es nicht wohl. Der Peter war auf dem hochsten Punkt des Zornes und der Erbitterung angelangt. Seit Wochen hatte er nie mehr das Heidi fur sich gehabt, so wie er's gewohnt war. Kam er am Morgen von unten herauf, so wurde schon immer das fremde Kind in seinem Stuhle herausgetragen, und das Heidi gab sich mit ihm ab. Kam er am Abend von oben herunter, so stand noch der Rollstuhl mit seiner Inhaberin unter den Tannen, und das Heidi machte sich mit ihr zu schaffen. Nie war es noch zur Weide hinaufgekommen den ganzen Sommer, und nun heute wollte es kommen, aber mitsamt dem Stuhle und der Fremden darin und wollte die ganze Zeit nur mit dieser sich abgeben. Das sah der Peter voraus, und das hatte seinen inneren Grimm auf den hochsten Punkt gebracht. Jetzt erblickte er den Stuhl, der so stolz da auf seinen Rollen stand, und schaute ihn an wie einen Feind, der ihm alles zuleide getan hatte und heute noch viel mehr tun wollte. Der Peter schaute um sich—alles war still, kein Mensch zu sehen. Wie ein Wilder sturzte er jetzt auf den Stuhl, packte ihn an und sties ihn mit so erbitterter Gewalt dem Bergabhange zu, das der Stuhl formlich davonflog und augenblicklich verschwunden war.
Jetzt sturzte der Peter die Alm hinan, als hatte er selber Flugel bekommen, und er setzte kein einziges Mal ab, bis er oben zu einem grosen Brombeerstrauch gelangte, hinter dem er verschwinden konnte, denn er begehrte nicht, das der Ohi ihn erblickte. Er wollte aber doch gern sehen, was der Stuhl mache, und der Strauch auf dem Bergvorsprunge war gut gelegen. Der Peter konnte halb verborgen die Alm hinabschauen und, kam der Ohi zum Vorschein, hurtig sich ganz verstecken. So tat er, und was erschauten seine Blicke! Weit unten schon sturzte sein Feind dahin, von immer groserer Gewalt getrieben. Jetzt uberschlug er sich, wieder und wieder, dann machte er einen hohen Satz, dann schlug es ihn wieder auf die Erde nieder, und uberschlagend rollte er seinem Verderben entgegen.
Schon flogen da und dort die Stucke von ihm weg, Fuse, Lehnen, Polsterfetzen, alles hoch in die Luft geworfen. Der Peter empfand eine so unbandige Freude an dem Anblick, das er mit beiden Fusen zugleich in die Luft springen muste. Er lachte laut auf, er stampfte vor Wonne, er sprang in Satzen im Kreise herum, er kam wieder an denselben Platz und guckte den Berg hinab. Ein neues Gelachter erscholl, neue Luftsprunge; der Peter war vollig auser sich vor Vergnugen uber diesen Untergang seines Feindes, denn er sah lauter gute Dinge vor sich, die nun kommen wurden. Jetzt muste die Fremde abreisen, denn sie hatte kein Mittel mehr, sich zu bewegen. Das Heidi war wieder allein und kam mit ihm auf die Weide, und am Abend und Morgen war es fur ihn da, wenn er kam, und alles war wieder in der alten Ordnung. Aber der Peter bedachte nicht, wie es geht, wenn man eine bose Tat begangen hat, und was dann nachher kommt.
Jetzt kam das Heidi aus der Hutte gesprungen und rannte dem Schopf zu. Hinter ihm her kam der Grosvater mit Klara auf dem Arm. Die Schopftur stand weit offen, die beiden Bretter daneben waren weggestellt, bis in den hintersten Winkel war es taghell. Das Heidi guckte hin und her, lief um die Ecke, kam wieder zuruck, die ungeheuerste Verwunderung lag auf seinem Gesichte. Nun trat der Grosvater heran.
“Was ist das? Hast du den Stuhl weggerollt, Heidi?” fragte er.
“Ich suche ihn ja allenthalben, Grosvater, und du hast gesagt, er stehe neben der Schopftur", sagte das Kind, immer noch nach allen Seiten mit den Augen herumsuchend.
Der Wind war unterdessen starker geworden; eben klapperte er an der Schopftur herum und warf sie auf einmal krachend gegen die Wand zuruck.
“Grosvater, der Wind hat's gemacht", rief das Heidi, und seine Augen blitzten auf bei der Entdeckung. “Oh, wenn er den Stuhl bis ins Dorfli hinabgejagt hatte, dann bekame man ihn erst viel zu spat wieder, und wir konnten gar nicht gehen.”
“Wenn er dort hinuntergerollt ist, so kommt er gar nicht mehr zuruck, dann ist er in hundert Stucken", sagte der Grosvater, um die Ecke tretend und den Berg hinabschauend. “Aber kurios ist's doch zugegangen", setzte er hinzu, indem er auf das Stuck zurucksah, das der Stuhl erst um die Ecke der Hutte herum zu machen hatte.
“Oh, wie schade, jetzt konnen wir gar nicht gehen und vielleicht gar nie", jammerte Klara. “Nun mus ich gewis heimgehen, wenn ich keinen Stuhl mehr habe. Oh, wie schade! Wie schade!”
Aber das Heidi schaute ganz vertrauensvoll zu seinem Grosvater auf und sagte:
“Gelt, Grosvater, du kannst schon etwas erfinden, das es nicht so geht, wie die Klara meint, und das sie nicht auf einmal heim mus?”
“Jetzt gehen wir fur diesmal auf die Weide, wie wir uns vorgenommen haben; dann wollen wir sehen, was weiter kommt", sagte der Grosvater. Die Kinder jubelten.
Er trat nun wieder in die Hutte zuruck, holte einen guten Teil der Tucher heraus, legte sie auf den sonnigsten Platz an die Hutte hin und setzte Klara darauf. Dann holte er den Kindern ihre Morgenmilch und fuhrte Schwanli und Barli vor den Stall hinaus.
“Warum der nur so lange nicht von da unten heraufkommt", sagte der Ohi vor sich hin, denn Peters Morgenpfiff war ja noch gar nicht ertont.
Jetzt nahm der Grosvater Klara wieder auf den einen Arm, die Tucher auf den andern.
“So, nun vorwarts!” sagte er vorangehend; “die Geisen kommen mit uns.”
Das war dem Heidi eben recht. Einen Arm um Schwanlis und einen um Barlis Hals gelegt, wanderte das Heidi hinter dem Grosvater her, und die Geisen hatten solche Freude, einmal wieder mit dem Heidi auszuziehen, das sie es fast zusammendruckten zwischen sich vor lauter Zartlichkeit.
Oben auf dem Weideplatze angelangt, sahen die Kommenden mit einemmal da und dort an den Abhangen die friedlich grasenden Geisen in Gruppen stehen und mittendrin den Peter, der Lange nach auf dem Boden liegend.
“Ein andermal will ich dir das Vorbeigehen vertreiben, Schlafpelz, was heist das?” rief ihm der Ohi zu.
Der Peter war bei dem Ton der bekannten Stimme aufgeschossen.
“War noch niemand auf", gab er zuruck.
“Hast du etwas von dem Stuhl gesehen?” frug der Ohi wieder.
“Von welchem?” rief der Peter storrisch zuruck.
Der Ohi sagte nichts mehr. Er breitete seine Tucher an den sonnigen Abhang hin, setzte Klara darauf und wollte wissen, ob's ihr so bequem sei.
“So bequem wie im Stuhl", sagte sie dankend, “und am schonsten Platz bin ich da. Da ist's so schon, Heidi, so schon!” rief sie, rings um sich blickend, aus.
Der Grosvater schickte sich zur Ruckkehr an. Er sagte, sie sollten sich's nun wohl sein lassen miteinander, und wenn die Zeit da sei, sollte Heidi das Mittagsmahl herbeiholen, das er, in den Sack verpackt, druben in den Schatten gelegt hatte. Dann sollte der Peter ihnen Milch dazu geben, soviel sie trinken wollten, aber das Heidi sollte gut aufpassen, das er sie vom Schwanli nehme. Gegen Abend wollte der Grosvater wiederkommen; jetzt wollte er vor allem dem Stuhle nachgehen und sehen, was aus ihm geworden sei.
Der Himmel war dunkelblau, und um und um war nicht ein einziges Wolkchen zu sehen. Auf dem grosen Schneefelde druben blitzte es wie von tausend und tausend Gold-und Silbersternen. Die grauen Felsenhorner standen hoch und fest an ihrem Platze, wie vor alter Zeit, und schauten ernsthaft ins Tal hinab. Der grose Vogel wiegte sich oben im Blau, und uber die Hohen strich der Bergwind hin und wehte kuhl rings um die sonnige Alp. Den Kindern war es unbeschreiblich wohl. Von Zeit zu Zeit kam ein Geislein heran und lies sich ein wenig nieder bei ihnen; am haufigsten kam das zartliche Schneehoppli und legte sein Kopfchen an das Heidi heran und ware da wohl gar nicht mehr weggegangen, hatte es nicht ein anderes von der Herde wieder vertrieben. So lernte Klara jetzt eine um die andere von den Geisen so nahe kennen, das sie niemals mehr eine mit der andern verwechselte, denn jede hatte ja auch ein ganz besonderes Gesicht und ihre eigene Art.
Sie wurden jetzt auch so zutraulich zu Klara, das sie ihr ganz nahe kamen und ihre Kopfe an ihren Schultern rieben; das war immer das Zeichen ihrer nahen Bekanntschaft und Zuneigung.
So waren schon einige Stunden vergangen; da kam es dem Heidi in den Sinn, wenn es doch einmal hinubergehen konnte an den Platz, wo die vielen Blumen waren, und sehen, ob sie auch alle offenstehen und so schon seien wie vor dem Jahr. Erst am Abend, wenn der Grosvater wiederkam, konnte man auch mit Klara hinubergehen, und dann machten die Blumen vielleicht schon wieder die Augen zu. Das Verlangen stieg immer hoher im Heidi, es konnte nicht mehr widerstehen.
Ein wenig zaghaft fragte es: “Wirst du nicht bose, Klara, wenn ich geschwind von dir fortlaufe und du allein sein must? Ich mochte so gern sehen, wie die Blumen sind. Aber warte...” Dem Heidi war ein Gedanke gekommen. Es sprang auf die Seite und ris ein paar schone Buschel von den grunen Krautern aus. Dann nahm es das Schneehoppli um den Hals, das ihm gleich zugelaufen war, und fuhrte es der Klara zu.
“So, jetzt must du doch nicht allein sein", sagte das Heidi, indem es auf seinen Platz neben Klara das Schneehoppli ein wenig hindruckte, was das Geislein gleich gut verstand und sich niederlegte. Dann warf Heidi seine Blatter der Klara in den Schos, und diese sagte erfreut, das Heidi solle jetzt nur gehen und die Blumen recht ansehen, sie wolle gern allein mit dem Geislein bleiben; das hatte sie ja noch gar nie erlebt. Das Heidi rannte fort, und Klara fing nun an, Blattchen fur Blattchen dem Schneehoppli hinzuhalten, und dieses wurde so zutraulich, das es sich ganz an seine neue Freundin anschmiegte und die Blattchen ihr langsam aus den Fingern fras. Man konnte auch gut sehen, wie wohl es ihm war, das es da so ruhig und friedlich in gutem Schutze liegen durfte, denn drausen bei der Herde hatte es immer viele Verfolgungen auszustehen von den grosen und starken Geisen. Der Klara kam es so kostlich vor, so ganz allein auf einem Berge zu sitzen, nur mit einem zutraulichen Geislein, das ganz hilfsbedurftig zu ihr aufsah. Ein groser Wunsch stieg auf in ihr, auch einmal ihr eigener Herr zu sein und einem andern helfen zu konnen und nicht nur immer sich von allen anderen helfen lassen zu mussen. Und es kamen der Klara jetzt so viele Gedanken, die sie gar nie gehabt hatte, und eine unbekannte Lust, fortzuleben in dem schonen Sonnenschein und etwas zu tun, mit dem sie jemand erfreuen konnte, wie sie jetzt das Schneehoppli erfreute. Eine ganz neue Freude kam ihr ins Herz, so als ob alles, was sie wuste und kannte, auf einmal viel schoner und anders sein konnte, als sie es bis jetzt gesehen hatte, und es wurde ihr so schon und wohl zumute, das sie das Geislein um den Hals nehmen und ausrufen muste: “O Schneehoppli, wie schon ist es hier oben; wenn ich nur immer da bei euch bleiben konnte!”
Das Heidi war unterdessen an dem Blumenplatze angekommen. Es sties einen Freudenschrei aus. Von leuchtendem Golde bedeckt lag die ganze Halde da. Das waren die schimmernden Zistroschen. Dichte, dunkelblaue Busche von Glockenblumen wiegten sich daruber, und ein so starker gewurziger Duft wogte um die sonnige Halde, als waren die kostlichsten Balsamschalen da oben ausgeschuttet worden. Der ganze Wohlgeruch kam aber von den kleinen braunen Kolbenblumchen her, die ihre runden Kopfchen da und dort bescheiden zwischen den Goldkelchen emporstreckten. Das Heidi stand und schaute und zog den susen Duft in langen Zugen ein. Auf einmal kehrte es um und kam auser Atem vor Erregung zu Klara zuruck.
“Oh, du must gewis kommen", rief es ihr schon von weitem zu. “Sie sind so schon, und alles ist so schon, und am Abend ist es vielleicht nicht mehr so. Ich kann dich vielleicht tragen, meinst du nicht?”
Klara schaute das erregte Heidi mit Verwunderung an; sie schuttelte aber den Kopf.
“Nein, nein, was denkst du, Heidi; du bist ja viel kleiner als ich. Oh, wenn ich nur gehen konnte!”
Jetzt schaute das Heidi suchend um sich, es muste etwas Neues im Sinne haben. Dort oben, wo der Peter vorher auf dem Boden gelegen hatte, sas er jetzt und starrte auf die Kinder herunter. So hatte er schon seit Stunden gesessen und immerzu herabgestarrt, so als konne er nicht fassen, was er vor sich sah. Er hatte den feindlichen Stuhl zerstort, damit alles aufhoren und die Fremde sich gar nicht mehr bewegen konne, und eine kurze Weile nachher erschien sie da oben und sas vor ihm auf dem Boden neben dem Heidi. Das konnte ja nicht sein, und doch war es immer noch so, er konnte hinsehen, wann er wollte.
Jetzt schaute das Heidi zu ihm auf.
“Komm hier herunter, Peter!” rief es sehr bestimmt.
“Komme nicht", rief er zuruck.
“Doch, du must; komm, ich kann es nicht allein machen, du must mir helfen; komm schnell!” drangte das Heidi.
“Komme nicht", ertonte es wieder.
Jetzt sprang das Heidi eine kleine Strecke den Berg hinan, dem Angeredeten entgegen.
Da stand es mit flammenden Augen und rief hinauf:
“Peter, wenn du nicht auf der Stelle kommst, so will ich dir auch etwas machen, das du dann gewis nicht gern hast; das kannst du glauben!”
Diese Worte gaben dem Peter einen Stich, und eine grose Angst packte ihn an. Er hatte etwas Boses getan, das kein Mensch wissen sollte. Bis jetzt hatte es ihn gefreut, aber nun redete das Heidi, wie wenn es alles wuste, und was es wuste, sagte es alles seinem Grosvater, und vor dem furchtete der Peter sich ja wie vor keinem andern. Wenn er nun vernahme, was mit dem Stuhl vorgegangen war! Den Peter wurgte die Angst immer arger. Er stand auf und kam dem wartenden Heidi entgegen.
“Ich komme, aber dann must du das nicht machen", sagte er, so zahm vor Furcht, das das Heidi ganz mitleidig wurde.
“Nein, nein, das tu ich nun schon nicht", versicherte es. “Komm jetzt nur mit mir, es ist nichts zum Furchten, was du tun must.”
Bei Klara angelangt, ordnete nun das Heidi an, auf der einen Seite sollte der Peter, auf der andern wollte es selbst Klara fest unter den Arm fassen und aufheben. Das ging nun ziemlich gut, aber jetzt kam das Schwierigere. Klara konnte ja nicht stehen, wie sollte man sie nun festhalten und vorwarts bringen? Das Heidi war zu klein, um ihr mit seinem Arm eine Stutze zu bieten.
“Du must mich jetzt um den Hals nehmen, ganz fest, so. Und den Peter must du am Arm nehmen und ganz fest darauf drucken, dann konnen wir dich tragen.”
Aber der Peter hatte noch nie jemandem den Arm gegeben. Klara umfaste diesen wohl, der Peter aber hielt ihn ganz steif am Leibe herunter wie einen langen Stecken.
“So macht man es nicht, Peter", sagte das Heidi sehr bestimmt. “Du must mit dem Arm einen Ring machen, und dann mus die Klara mit dem ihrigen durchfahren, und dann mus sie ganz fest aufdrucken, und du must um keinen Preis nachgeben, dann kommen wir schon vorwarts.”
Das wurde nun so ausgefuhrt. Man kam aber nicht gut vorwarts. Klara war nicht so leicht, und das Gespann zu ungleich in der Grose. Auf der einen Seite ging es herab und auf der andern hinauf, das gab eine ziemliche Unsicherheit in den Stutzen.
Klara probierte es abwechselnd ein wenig mit den eigenen Fusen, zog aber einen nach dem andern immer bald wieder zuruck.
“Stampf einmal recht herunter", schlug das Heidi vor, “dann tut es dir gewis nachher weniger weh.”
“Meinst du?” sagte Klara zaghaft.
Sie gehorchte aber und wagte einen festen Schritt auf den Boden und dann mit dem zweiten Fus; sie schrie aber ein wenig auf dabei. Dann hob sie den einen wieder und setzte ihn leiser hin.
“Oh, das hat schon viel weniger weh getan", sagte sie voller Freude.
“Mach's noch einmal", drangte eifrig das Heidi. Klara tat es und dann noch einmal und noch einmal, und auf einmal schrie sie auf:
“Ich kann, Heidi! Oh, ich kann! Sieh! Sieh! Ich kann Schritte machen, einen nach dem andern.”
Jetzt jauchzte das Heidi noch viel mehr auf.
“Oh! Oh! Kannst du gewis selbst Schritte machen? Kannst du jetzt gehen? Kannst du gewis selbst gehen? Oh, wenn nur der Grosvater kame! Jetzt kannst du selbst gehen, Klara, jetzt kannst du gehen!” rief es ein Mal ums andere in jubelnder Freude aus.
Klara hielt sich wohl fest an auf beiden Seiten, aber mit jedem Schritt wurde sie ein wenig sicherer, das konnten alle drei empfinden. Das Heidi kam ganz auser sich vor Freude.
“Oh, nun konnen wir alle Tage miteinander auf die Weide gehen und auf der Alp herum, wo wir wollen", rief es wieder aus, “und du kannst dein Lebtag gehen, wie ich, und must nie mehr im Stuhl gestosen werden und wirst gesund. Oh, das ist die groste Freude, die wir haben konnen!”
Klara stimmte mit dem ganzen Herzen ein. Gewis kannte sie gar kein groseres Gluck auf der Welt, als auch einmal gesund zu sein und herumgehen zu konnen wie die anderen Menschen und nicht mehr elend die ganzen Tage lang in den Krankensessel gebannt zu sein.
Es war nicht weit zu der Blumenhalde hinuber. Dort sah man schon das Glitzern der Goldroschen in der Sonne. Jetzt waren sie bei den Buschen der blauen Glockenblumen angekommen, wo zwischendurch der sonnige Boden so einladend aussah.
“Konnen wir nicht hier niedersetzen?” fragte Klara.
Das war ganz nach Heidis Wunsch, und mitten in die Blumen hinein setzten sich die Kinder, Klara zum erstenmal, auf den trockenen, warmen Alpenboden hin; das gefiel ihr unbeschreiblich wohl. Und nun rings um sie die wiegenden blauen Glockenblumen, die schimmernden Goldroschen, das rote Tausendguldenkraut und um und um der suse Duft der braunen Kolbenblumchen, der wurzigen Prunellen. Alles war so schon! So schon!
Auch das Heidi neben ihr meinte, so schon sei es noch nie gewesen da oben, und es wuste gar nicht, warum es eine solche Freude im Herzen hatte, das es nur immer hatte laut jauchzen mogen. Aber auf einmal kam es ihm dann wieder in den Sinn, das Klara gesund geworden war; das war zu allem Schonen ringsumher noch die allergroste Freude. Klara wurde ganz still vor Wonne und Entzucken uber alles, was sie sah, und uber alle die Aussichten, die ihr aufgegangen waren durch das eben Erlebte. Das grose Gluck hatte fast nicht Platz in ihrem Herzen, und der Sonnenglanz und Blumenduft dazu uberwaltigten sie mit einem Wonnegefuhl, das sie vollig verstummen machte.
Auch der Peter lag still und regungslos mitten in dem Blumenfelde, denn er war fest eingeschlafen.
Leise und lieblich wehte hier der Wind hinter den schutzenden Felsen hervor und sauselte oben in den Buschen. Von Zeit zu Zeit muste das Heidi wieder aufstehen und dahin laufen und dorthin, denn es war immer irgendwo noch schoner, die Blumen noch dichter, der Wohlgeruch noch starker, weil ihn da der Wind hin und her wehte; uberall muste es wieder hinsetzen.
So vergingen die Stunden.
Die Sonne war langst uber den Mittag hinaus, als ein Truppchen der Geisen ganz ernsthaft auf die Blumenhalde zugeschritten kam. Es war nicht ihr Weideplatz, sie wurden nie dahin gefuhrt, denn es gefiel ihnen nicht, in den Blumen zu grasen. Sie sahen aus wie eine Gesandtschaft, der Distelfink voran. Die Geisen waren sichtlich ausgegangen, ihre Gesellschafter zu suchen, die sie so lange im Stich gelassen hatten und uber alle Ordnung hinaus fortgeblieben waren, denn die Geisen kannten ihre Zeit wohl. Als der Distelfink die drei Vermisten in dem Blumenfelde entdeckte, sties er ein uberlautes Meckern aus, und auf der Stelle stimmte der ganze Chor ein, und fortmeckernd kamen sie alle dahergetrabt. Jetzt erwachte der Peter. Er muste sich aber stark die Augen reiben, denn es hatte ihm getraumt, der Rollstuhl stehe wieder schon rot gepolstert und unversehrt vor der Hutte, und noch im Erwachen hatte er die goldenen Nagel um das Polster herum in der Sonne blitzen gesehen, aber jetzt entdeckte er, das es nur die gelben Glitzerblumchen auf dem Boden gewesen waren. Jetzt kam dem Peter die Angst zuruck, die er beim Anblick des unbeschadigten Stuhles ganz verloren hatte. Wenn auch das Heidi versprochen hatte, nichts zu machen, so war doch nun die Furcht im Peter lebendig geworden, die Sache konnte auch sonst noch auskommen. Er lies sich jetzt ganz zahm und willig zum Fuhrer machen und tat alles perfekt so, wie das Heidi es haben wollte.
Als nun wieder alle drei auf dem Weideplatz angekommen waren, holte das Heidi hurtig seinen vollen Speisesack herbei und schickte sich an, sein Versprechen zu losen, denn auf den Inhalt des Sackes hatte seine Drohung sich bezogen. Es hatte wohl bemerkt am Morgen, wieviel gute Sachen der Grosvater da hineinpackte, und mit Freuden hatte es vorausgesehen, das dem Peter davon ein guter Teil zufallen werde. Als er dann aber so storrig war, wollte es ihm zu verstehen geben, das er nichts bekomme, was der Peter aber anders gedeutet hatte. Nun holte das Heidi Stuck fur Stuck aus seinem Sack heraus und machte drei Haufchen davon, die wurden so hoch, das es voller Befriedigung vor sich hinsagte: “Dann bekommt er noch alles, was wir zuviel haben.”
Jetzt trug es jedem sein Haufchen zu, und mit dem seinigen setzte es sich neben Klara hin, und die Kinder liesen sich's wohl schmecken nach der grosen Anstrengung.
Es ging aber, wie das Heidi vorausgesehen hatte: Als sie beide vollig satt waren, blieb noch so viel ubrig, das dem Peter noch einmal ein Haufchen, so gros wie das erste, zugeschoben werden konnte. Er as still und beharrlich alles auf und dann noch die Krumen, aber er vollzog sein Werk nicht mit der gewohnten Befriedigung. Dem Peter lag etwas auf dem Magen, das nagte und wurgte ihn und klemmte ihm jeden Bissen zusammen.
Die Kinder waren so spat zu ihrer Mahlzeit gekommen, das schon gleich nachher der Grosvater zu sehen war, der die Alm hinanstieg, um sie abzuholen. Das Heidi sturzte ihm entgegen; es muste ihm zuerst sagen, was sich ereignet hatte. Es war indes so erregt von seiner begluckenden Nachricht, das es die Worte fast nicht fand, sie dem Grosvater mitzuteilen. Er verstand aber sogleich, was das Kind berichtete, und eine helle Freude kam auf sein Gesicht. Er beschleunigte seinen Schritt, und bei Klara angekommen, sagte er frohlich lachelnd:
“So, haben wir's gewagt? Nun haben wir's auch gewonnen!”
Dann hob er Klara vom Boden auf, umfaste sie mit dem linken Arm und hielt ihr seine Rechte als starke Stutze fur ihre Hand hin, und Klara marschierte, mit der festen Wand im Rucken, noch viel sicherer und unerschrockener dahin, als sie vorher getan hatte.
Das Heidi hupfte und jauchzte nebenher, und der Grosvater sah aus, als sei ihm ein groses Gluck widerfahren. Jetzt nahm er aber Klara mit einemmal auf seinen Arm und sagte: “Wir wollen's nicht ubertreiben, es ist auch Zeit zur Heimkehr", und er machte sich gleich auf den Weg, denn er wuste, das nun der Anstrengungen fur heute genug waren und Klara der Ruhe bedurfte.
Als der Peter spat am Abend mit seinen Geisen nach dem Dorfli herunter kam, stand eine Menge von Leuten an einem Knauel zusammen, und eins sties das andere ein wenig weg, um besser sehen zu konnen, was mittendrin am Boden lag. Das muste der Peter auch sehen; er druckte und drangte rechts und links und bohrte sich hinein.
Da, jetzt sah er's.
Auf dem Grase lag das Mittelstuck vom Rollstuhl, und noch ein Teil des Ruckens hing daran. Das rote Polster und die glanzenden Nagel zeugten noch davon, wie prachtig der Stuhl in seiner Vollkommenheit ausgesehen hatte.
“Ich war dabei, als sie ihn hinauftrugen", sagte der Backer, der neben dem Peter stand; “wenigstens 500 Franken war er wert, das wett ich mit jedem. Es nimmt mich nur wunder, wie es zugegangen ist.”
“Der Wind kann ihn heruntergejagt haben, das hat der Ohi selbst gesagt", bemerkte die Barbel, die nicht genug das schone rote Zeug bewundern konnte.
“Es ist gut, das es kein anderer ist, der's getan hat", sagte der Backer wieder; “dem ging's schon! Wenn es der Herr in Frankfurt vernimmt, wird er schon untersuchen lassen, wie's zugegangen ist. Ich fur mich bin froh, das ich seit zwei Jahren nie mehr auf der Alm war; der Verdacht kann auf jeden fallen, der um die Zeit dort oben gesehen wurde.”
Es wurden noch viele Meinungen ausgesprochen, aber der Peter hatte genug gehort. Er kroch ganz zahm und sachte aus dem Knauel heraus und lief aus allen Kraften den Berg hinauf, so als ware einer hinter ihm drein, der ihn packen wollte. Die Worte des Backers hatten ihm eine furchtbare Angst eingejagt. Er wuste ja jetzt, das jeden Augenblick ein Polizeidiener aus Frankfurt ankommen konnte, der die Sache untersuchen muste, und dann konnte es doch rauskommen, das er es getan hatte, und dann wurden sie ihn packen und nach Frankfurt ins Zuchthaus schleppen. Das sah der Peter vor sich, und seine Haare straubten sich vor Schrecken.
Ganz verstort kam er daheim an. Er gab keine Antwort, auf gar nichts, er wollte seine Kartoffeln nicht essen; eilends kroch er in sein Bett hinein und stohnte.
“Der Peterli hat wieder Sauerampfer gegessen, er hat's im Magen, das er so achzen mus", meinte die Mutter Brigitte.
“Du must ihm ein wenig mehr Brot mitgeben, gib ihm morgen noch ein Stucklein von dem meinen", sagte die Grosmutter mitleidig.
Als die Kinder heute von ihren Betten in den Sternenschein hinausschauten, sagte das Heidi:
“Hast du nicht heut den ganzen Tag denken mussen, wie gut es doch ist, das der liebe Gott nicht nachgibt, wenn wir noch so furchtbar stark beten um etwas, wenn er etwas viel Besseres weis?”
“Warum sagst du das jetzt auf einmal, Heidi?” fragte Klara.
“Weist du, weil ich in Frankfurt so stark gebetet habe, das ich doch auf der Stelle heimgehen konne, und weil ich das immer nicht konnte, habe ich gedacht, der liebe Gott habe nicht zugehort. Aber weist du, wenn ich so bald fortgelaufen ware, so warest du nie gekommen, und du warest nicht gesund geworden auf der Alp.”
Klara war ganz nachdenklich geworden. “Aber, Heidi", fing sie nun wieder an, “dann musten wir ja um gar nichts beten, weil der liebe Gott ja schon immer etwas viel Besseres im Sinn hat, als wir wissen und wir von ihm erbitten wollen.”
“Ja, ja, Klara, meinst du, es gehe dann nur so?” eiferte jetzt das Heidi. “Alle Tage mus man zum lieben Gott beten und um alles, alles, denn er mus doch horen, das wir es nicht vergessen, das wir alles von ihm bekommen. Und wenn wir den lieben Gott vergessen wollen, so vergist er uns auch, das hat die Grosmama gesagt. Aber weist du, wenn wir dann nicht bekommen, was wir gern hatten, dann mussen wir nicht denken, der liebe Gott hat nicht zugehort, und ganz aufhoren zu beten, sondern dann mussen wir so beten: Jetzt weis ich schon, lieber Gott, das du etwas Besseres im Sinn hast, und jetzt will ich nur froh sein, das du es so gut machen willst.”
“Wie ist dir das alles so in den Sinn gekommen, Heidi?” fragte Klara.
“Die Grosmama hat mir's zuerst erklart, und dann ist es auch so gekommen, und dann hab ich's gewust. Aber ich meine auch, Klara", fuhr das Heidi fort, indem es sich aufsetzte, “heute mussen wir gewis dem lieben Gott noch recht danken, das er das grose Gluck geschickt hat, das du jetzt gehen kannst.”
“Ja gewis, Heidi, du hast recht, und ich bin froh, das du mich noch erinnerst; vor lauter Freude hatte ich es fast vergessen.”
Jetzt beteten die Kinder noch und dankten dem lieben Gott jedes in seiner Weise fur das herrliche Gut, das er der so lange krank gewesenen Klara geschenkt hatte.
Am andern Morgen meinte der Grosvater, nun konnte man einmal an die Frau Grosmama schreiben, ob sie nicht jetzt nach der Alp kommen wolle, es ware da etwas Neues zu sehen. Aber die Kinder hatten einen andern Plan gemacht. Sie wollten der Grosmama eine grose Uberraschung bereiten. Erst sollte Klara das Gehen noch besser lernen, so das sie, allein auf das Heidi gestutzt, einen kleinen Gang machen konnte; von allem aber muste die Grosmama keine Ahnung haben. Nun wurde der Grosvater beraten, wie lange das noch wahren konnte, und da er meinte, kaum acht Tage, so wurde im nachsten Briefe die Grosmama dringend eingeladen, um diese Zeit auf die Alp zu kommen; von etwas Neuem wurde ihr aber kein Wort berichtet.
Die Tage, die nun folgten, waren noch von den allerschonsten, welche Klara auf der Alp verlebt hatte. Jeden Morgen erwachte sie mit der lauten Freudenstimme in ihrem Herzen: “Ich bin gesund! Ich bin gesund! Ich mus nicht mehr im Rollstuhl sitzen, ich kann selbst umhergehen wie die anderen Menschen!”
Dann folgte das Umhergehen, und jeden Tag ging es leichter und besser, und immer langere Gange konnten gemacht werden. Die Bewegung brachte dann einen solchen Appetit mit sich, das der Grosvater seine dicken Butterschnitten taglich ein wenig groser machte und mit Wohlgefallen sah, wie sie verschwanden. Er brachte jetzt auch immer einen grosen Topf voll von der schaumenden Milch herbei und fullte Schusselchen um Schusselchen. So kam das Ende der Woche heran und damit der Tag, der die Grosmama bringen sollte!
Die Grosmama hatte einen Tag vor ihrer Ankunft noch einen Brief nach der Alp hinauf geschrieben, damit sie oben bestimmt wusten, das sie komme. Diesen Brief brachte am andern Tage der Peter in der Fruhe mit sich, als er auf die Weide zog. Schon war der Grosvater mit den Kindern aus der Hutte getreten, und auch Schwanli und Barli standen beide drausen und schuttelten lustig ihre Kopfe in der frischen Morgenluft, wahrend die Kinder sie streichelten und ihnen gluckliche Reise wunschten zu ihrer Bergfahrt. Behaglich stand der Ohi dabei und schaute bald auf die frischen Gesichter der Kinder, bald auf seine sauber glanzenden Geisen nieder. Beides muste ihm gefallen, denn er lachelte vergnuglich.
Jetzt kam der Peter heran. Als er die Gruppe gewahr wurde, naherte er sich langsam, streckte den Brief dem Ohi entgegen, und sobald dieser ihn erfast hatte, sprang er scheu zuruck, so als ob ihn etwas erschreckt habe, und dann guckte er schnell hinter sich, gerade als ob von hinten ihn auch noch etwas hatte erschrecken wollen; dann machte er einen Sprung und lief davon, den Berg hinauf.
“Grosvater", sagte das Heidi, das dem Vorgang verwundert zugeschaut hatte, “warum tut der Peter jetzt immer wie der grose Turk, wenn der eine Rute hinter sich merkt; dann scheut er mit dem Kopf und schuttelt ihn nach allen Seiten und macht auf einmal Sprunge in die Luft hinauf.”
“Vielleicht merkt der Peter auch eine Rute hinter sich, die er verdient", antwortete der Grosvater.
Nur die erste Halde hinauf lief der Peter so in einem Zuge davon; sobald man ihn von unten nicht mehr sehen konnte, kam es anders. Da stand er still und drehte scheu den Kopf nach allen Seiten. Plotzlich tat er einen Sprung und schaute hinter sich, so erschreckt, als habe ihn eben einer im Genick gepackt. Hinter jedem Busch hervor, aus jeder Hecke heraus meinte jetzt der Peter den Polizeidiener aus Frankfurt auf sich lossturzen zu sehen. Je langer aber diese gespannte Erwartung dauerte, je schreckhafter wurde es dem Peter zumute, er hatte keinen ruhigen Augenblick mehr.
Nun muste das Heidi seine Hutte aufraumen, denn die Grosmama sollte doch alles in guter Ordnung finden, wenn sie kam. Klara fand dieses geschaftige Treiben Heidis in allen Ecken der Hutte herum immer so kurzweilig, das sie mit Vorliebe dieser Tatigkeit zuschaute.
So vergingen die fruhen Morgenstunden den Kindern unversehens, und schon konnte man der Ankunft der Grosmama entgegensehen.
Jetzt kamen die Kinder bereit und zum Empfange gerustet wieder heraus und setzten sich nebeneinander auf die Bank vor die Hutte, in voller Erwartung auf die kommenden Ereignisse.
Auch der Grosvater trat jetzt wieder zu ihnen. Er hatte einen Gang gemacht und hatte einen grosen Straus dunkelblauer Enzianen mitgebracht, die leuchteten so schon in der hellen Morgensonne, das die Kinder aufjauchzten bei dem Anblick. Der Grosvater trug sie in die Hutte hinein. Von Zeit zu Zeit sprang das Heidi von der Bank, um auszuspahen, ob von dem Zuge der Grosmama noch nichts zu entdecken sei.
Aber jetzt: Da kam es von unten herauf, gerade so, wie das Heidi es erwartet hatte. Voran stieg der Fuhrer, dann kam das weise Ros und die Grosmama darauf, und zuletzt kam der Trager mit dem hohen Reff, denn ohne reichlich Schutzmittel zog die Grosmama nun einmal nicht auf die Alp.
Naher und naher kam der Zug. Jetzt war die Hohe erreicht; die Grosmama erblickte die Kinder von ihrem Pferde herunter.
“Was ist denn das? Was seh ich, Klarchen? Du sitzest nicht in deinem Sessel! Wie ist das moglich?” rief sie erschrocken aus und stieg nun eilig herunter. Bevor sie aber noch bei den Kindern angekommen war, schlug sie die Hande zusammen und rief in der hochsten Aufregung:
“Klarchen, bist du's, oder bist du's nicht? Du hast ja rote Wangen, kugelrunde! Kind! Ich kenne dich nicht mehr!” Jetzt wollte die Grosmama auf Klara lossturzen. Aber unversehens war das Heidi von der Bank geglitten, Klara hatte sich schnell auf seine Schultern gestutzt, und fort wanderten die Kinder, ganz gelassen einen kleinen Spaziergang machend. Die Grosmama war plotzlich stillgestanden, erst vor Schrecken, sie meinte nicht anders, als das Heidi stelle eben etwas Unerhortes an.
Aber was sah sie vor sich!
Aufrecht und sicher ging Klara neben dem Heidi her; jetzt kamen sie wieder zuruck, beide mit strahlenden Gesichtern, beide mit rosenroten Backen.
Jetzt sturzte die Grosmama ihnen entgegen. Lachend und weinend umarmte sie ihr Klarchen, dann das Heidi, dann wieder Klara. Vor Freude fand die Grosmama gar keine Worte.
Auf einmal fiel ihr Blick auf den Ohi, der bei der Bank stand und mit behaglichem Lacheln nach den dreien heruberschaute. Jetzt faste die Grosmama Klaras Arm in den ihrigen und wanderte mit ihr unter immerwahrenden Ausrufungen des Entzuckens, das es ja wirklich so sei, das sie umherwandern konne mit dem Kinde, der Bank zu. Hier lies sie Klara los und ergriff den Alten bei beiden Handen.
“Mein lieber Ohi! Mein lieber Ohi! Was haben wir Ihnen zu danken! Es ist Ihr Werk! Es ist Ihre Sorge und Pflege...”
“Und unseres Herrgotts Sonnenschein und Almluft", fiel der Ohi lachelnd ein.
“Ja, und Schwanlis gute, schone Milch gewis auch", rief nun Klara ihrerseits. “Grosmama, du solltest nur wissen, wie ich die Geisenmilch trinken kann und wie gut sie ist!”
“Ja, das kann ich an deinen Backen sehen, Klarchen", sagte jetzt die Grosmama lachend. “Nein, dich kennt man nicht mehr; rund, breit bist du ja geworden, wie ich nie geahnt, das du je werden konntest, und gros bist du, Klarchen! Nein, ist es denn auch wahr? Ich kann dich ja nicht genug ansehen! Aber nun mus auf der Stelle telegrafiert werden an meinen Sohn in Paris, er mus sogleich kommen. Ich sag ihm nicht, warum, das ist die groste Freude seines Lebens. Mein lieber Ohi, wie machen wir das? Sie haben wohl die Manner schon entlassen?”
“Die sind fort", antwortete er, “aber wenn's der Frau Grosmama pressiert, so last man den Geisenhuter herunterkommen, der hat Zeit.”
Die Grosmama bestand darauf, sofort ihrem Sohne eine Depesche zu schicken, denn dieses Gluck sollte ihm keinen Tag vorenthalten bleiben.
Nun ging der Ohi ein wenig auf die Seite, und hier tat er einen so durchdringenden Pfiff durch seine Finger, das es hoch oben von den Felsen zuruckpfiff, so weit weg hatte er das Echo geweckt. Es wahrte gar nicht lange, so kam der Peter heruntergerannt, er kannte den Pfiff wohl. Der Peter war kreideweis, denn er dachte, der Almohi rufe ihn zum Gericht. Es wurde ihm aber nur ein Papier ubergeben, das die Grosmama unterdessen uberschrieben hatte, und der Ohi erklarte ihm, er habe das Papier sofort ins Dorfli hinunterzutragen und auf dem Postamt abzugeben, die Bezahlung werde der Ohi spater selbst in Ordnung bringen, denn so viele Dinge auf einmal konnte man dem Peter nicht ubertragen.
Dieser ging nun mit seinem Papier in der Hand, fur diesmal wieder erleichtert, davon, denn der Ohi hatte ja nicht zum Gericht gepfiffen, es war kein Polizeidiener angekommen.
Endlich konnte man sich denn fest und ruhig zusammen um den Tisch vor der Hutte herumsetzen, und nun muste der Grosmama erzahlt werden, wie von Anfang an alles sich zugetragen hatte. Wie zuerst der Grosvater jeden Tag ein wenig das Stehen und dann ein Schrittchen mit Klara probiert hatte, wie dann die Reise auf die Weide gekommen war und der Wind den Rollstuhl fortgejagt hatte. Wie Klara vor Begierde nach den Blumen den ersten Gang machen konnte und so eins aus dem andern gekommen war. Aber es wahrte lange, bis diese Erzahlung von den Kindern zu Ende gebracht wurde, denn zwischendurch muste die Grosmama immer wieder in Verwunderung und in Lob und Dank ausbrechen, und immer wieder rief sie aus: “Aber ist es denn auch moglich! Ist es denn auch wirklich kein Traum? Sind wir denn auch alle wach, und sitzen wir hier vor der Almhutte, und das Madchen vor mir mit dem runden, frischen Gesicht ist mein altes, bleiches, kraftloses Klarchen?”
Und Klara und Heidi hatten immer neue Freude, das ihre schon ausgedachte Uberraschung so gut gelungen war bei der Grosmama und immer noch fortwirkte.
Herr Sesemann hatte unterdessen seine Geschafte in Paris beendet, und auch er hatte vor, eine Uberraschung zu bereiten. Ohne ein Wort an seine Mutter zu schreiben, setzte er sich an einem der sonnigen Sommermorgen auf die Eisenbahn und fuhr in einem Zuge bis nach Basel, von wo er in aller Fruhe des folgenden Tages gleich wieder aufbrach, denn es hatte ihn ein groses Verlangen ergriffen, einmal wieder sein Tochterchen zu sehen, von dem er nun den ganzen Sommer durch getrennt gewesen war. Im Bade Ragaz kam er einige Stunden nach der Abfahrt seiner Mutter an.
Die Nachricht, das sie eben heute die Reise nach der Alp unternommen habe, kam ihm gerade recht. Sofort setzte er sich in einen Wagen und fuhr nach Maienfeld hinuber. Als er da horte, das er auch noch bis zum Dorfli hinauffahren konne, tat er dies, denn er dachte, die Fuspartie den Berg hinauf werde ihm immer noch lang genug werden.
Herr Sesemann hatte sich nicht getauscht; die unausgesetzte Steigung die Alp hinan kam ihm sehr lang und beschwerlich vor. Noch immer war keine Hutte in Sicht, und er wuste doch, das auf halbem Wege er auf die Wohnung des Geisenpeter stosen sollte, denn oftmals hatte er die Beschreibung dieses Weges vernommen.
Es waren uberall Spuren von Fusgangern zu sehen, manchmal gingen die schmalen Wege nach allen Richtungen hin. Herr Sesemann wurde unsicher, ob er auch auf dem richtigen Pfade sei oder ob vielleicht die Hutte auf einer andern Seite der Alp liege. Er sah sich um, ob kein menschliches Wesen zu entdecken sei, das er um den Weg befragen konnte. Aber es war still ringsum, weit und breit war nichts zu sehen noch zu horen. Nur der Bergwind sauste dann und wann durch die Luft, und im sonnigen Blau summten die kleinen Mucken, und ein lustiges Vogelein pfiff da und dort auf einem einsamen Larchenbaumchen. Herr Sesemann stand eine Weile still und lies sich die heise Stirne vom Alpenwinde kuhlen.
Jetzt kam jemand von oben heruntergelaufen; es war der Peter mit seiner Depesche in der Hand. Er lief gradaus, steil herunter, nicht auf dem Fuswege, auf dem Herr Sesemann stand. Sobald der Laufer aber nahe genug war, winkte ihm Herr Sesemann, das er heruberkommen sollte. Zogernd und scheu kam der Peter heran, seitwarts, nicht gradaus, und so, als konne er nur mit dem einen Fus richtig vorankommen und musse den andern nachschleppen.
“Na, Junge, frisch heran!” ermunterte Herr Sesemann.
“Jetzt sag mir mal, komme ich auf diesem Wege zu der Hutte hinauf, wo der alte Mann mit dem Kinde Heidi wohnt, bei dem die Leute aus Frankfurt sind?”
Ein dumpfer Ton furchtbarsten Schreckens war die Antwort, und so maslos schos der Peter davon, das er kopfuber und uber die steile Halde hinabsturzte und fortrollte in unwillkurlichen Purzelbaumen, immer weiter und weiter, ganz ahnlich, wie der Rollstuhl getan hatte, nur das glucklicherweise der Peter nicht in Stucke ging, wie es bei dem Sessel der Fall gewesen war.
Nur die Depesche wurde arg zugerichtet und flog in Fetzen davon.
“Merkwurdig schuchterner Bergbewohner", sagte Herr Sesemann vor sich hin, denn er dachte nicht anders, als das die Erscheinung eines Fremden diesen starken Eindruck auf den einfachen Alpensohn hervorgebracht habe.
Nachdem er Peters gewalttatige Talfahrt noch ein wenig betrachtet hatte, setzte Herr Sesemann seinen Weg weiter fort.
Der Peter konnte trotz aller Anstrengung keinen festen Standpunkt gewinnen, er rollte immerzu, und von Zeit zu Zeit uberschlug er sich noch in besonderer Weise.
Aber das war nicht die schrecklichste Seite seines Schicksals in diesem Augenblick, viel erschrecklicher waren die Angst und das Entsetzen, die ihn erfullten, nun er wuste, das der Polizeidiener aus Frankfurt wirklich angekommen war. Denn er konnte nicht daran zweifeln, das der Fremde es sei, der den Frankfurtern beim Almohi nachgefragt hatte. Jetzt, am letzten hohen Abhange oberhalb des Dorfli, warf es den Peter an einen Busch hin, da konnte er sich endlich festklammern. Einen Augenblick blieb er noch liegen, er muste sich erst wieder ein wenig besinnen, was mit ihm sei.
“Gut so, wieder einer!” sagte eine Stimme hart neben dem Peter. “Und wer kriegt morgen den Puff da droben, das er herunterkommt wie ein schlechtvernahter Kartoffelsack?”
Es war der Backer, der so spottete. Da er da droben aus seinem heisen Tagewerk weg sich ein wenig erluften wollte, hatte er ruhig zugesehen, wie eben der Peter, dem Heranrollen des Stuhles nicht unahnlich, von oben heruntergekommen war.
Der Peter schnellte auf seine Fuse. Er hatte einen neuen Schrecken. Jetzt wuste der Backer auch schon, das der Stuhl einen Puff bekommen hatte. Ohne ein einziges Mal zuruckzusehen, lief der Peter wieder den Berg hinauf. Am liebsten ware er jetzt heimgegangen und in sein Bett gekrochen, das ihn keiner mehr finden konnte, denn da fuhlte er sich am sichersten. Aber er hatte ja die Geisen noch oben, und der Ohi hatte ihm noch eingescharft, bald wiederzukommen, damit die Herde nicht zu lange allein sei. Den Ohi aber furchtete er vor allen und hatte einen solchen Respekt vor ihm, das er niemals gewagt hatte, ihm ungehorsam zu sein. Der Peter achzte laut und hinkte weiter, es muste ja sein, er muste wieder hinauf. Aber rennen konnte er jetzt nicht mehr, die Angst und die mannigfaltigen Stose, die er soeben erduldet hatte, konnten nicht ohne Wirkung bleiben. So ging es denn mit Hinken und Stohnen weiter die Alm hinauf.
Herr Sesemann hatte kurz nach der Begegnung mit Peter die erste Hutte erreicht und wuste nun, das er auf dem richtigen Wege war. Er stieg mit erneutem Mute weiter, und endlich, nach langer, muhevoller Wanderung, sah er sein Ziel vor sich. Dort oben stand die Almhutte, und oben daruber wogten die dunkeln Wipfel der alten Tannen.
Herr Sesemann ging mit Freuden an die letzte Steigung, gleich konnte er sein Kind uberraschen. Aber schon war er von der Gesellschaft vor der Hutte entdeckt und erkannt worden, und fur den Vater wurde vorbereitet, was er nicht ahnte.
Als er den letzten Schritt zur Hohe getan hatte, kamen ihm von der Hutte her zwei Gestalten entgegen. Es war ein groses Madchen mit hellblonden Haaren und einem rosigen Gesichtchen, das stutzte sich auf das kleinere Heidi, dem ganze Freudenblitze aus den dunklen Augen funkelten. Herr Sesemann stutzte, er stand still und starrte die Herankommenden an. Auf einmal sturzten ihm die grosen Tranen aus den Augen. Was stiegen auch fur Erinnerungen in seinem Herzen auf! Ganz so hatte Klaras Mutter ausgesehen, das blonde Madchen mit den angehauchten Rosenwangen. Herr Sesemann wuste nicht, war er wachend, oder traumte er.
“Papa, kennst du mich denn gar nicht mehr?” rief ihm jetzt Klara mit freudestrahlendem Gesicht entgegen. “Bin ich denn so verandert?”
Nun sturzte Herr Sesemann auf sein Tochterchen zu und schlos es in seine Arme.
“Ja, du bist verandert! Ist es moglich? Ist es Wirklichkeit?”
Und der ubergluckliche Vater trat wieder einen Schritt zuruck, um noch einmal hinzusehen, ob denn das Bild nicht verschwinde vor seinen Augen.
“Bist du's, Klarchen, bist du's denn wirklich?” muste er ein Mal ums andere ausrufen. Dann schlos er sein Kind wieder in die Arme, und gleich nachher muste er noch einmal sehen, ob es wirklich sein Klarchen sei, das aufrecht vor ihm stand.
Jetzt war auch die Grosmama herbeigekommen, sie konnte nicht so lange warten, bis sie das gluckliche Gesicht ihres Sohnes erblicken sollte.
“Na, mein lieber Sohn, was sagst du jetzt?” rief sie ihm zu. “Die Uberraschung, die du uns machst, ist recht schon; aber diejenige, die man dir bereitet hat, ist noch viel schoner, nicht?” Und die erfreute Mutter begruste nun mit groser Herzlichkeit ihren lieben Sohn. “Aber jetzt, mein Lieber", sagte sie dann, “kommst du mit mir dort hinuber, unsern Ohi zu begrusen, der ist unser allergroster Wohltater.”
“Gewis, und auch unsere Hausgenossin, unser kleines Heidi, mus ich noch begrusen", sagte Herr Sesemann, indem er Heidis Hand schuttelte. “Nun? Immer frisch und gesund auf der Alp? Aber man mus nicht fragen, kein Alpenroschen kann bluhender aussehen. Das ist mir eine Freude, Kind, das ist mir eine grose Freude!”
Auch das Heidi schaute mit leuchtender Freude zu dem freundlichen Herrn Sesemann auf. Wie gut war er immer zu ihm gewesen! Und das er nun hier auf der Alp ein solches Gluck finden sollte, das machte Heidis Herz laut schlagen vor groser Freude.
Jetzt fuhrte die Grosmama ihren Sohn zum Almohi hinuber, und wahrend nun die beiden Manner sich sehr herzlich die Hande schuttelten und Herr Sesemann begann, seinen tiefgefuhlten Dank auszusprechen und sein unermesliches Erstaunen daruber, wie nur dieses Wunder hatte geschehen konnen, da wandte sich die Grosmama und ging ein wenig nach der andern Seite hinuber, dann das hatte sie nun schon durchgesprochen. Sie wollte einmal nach den alten Tannen sehen.
Da harrte ihrer schon wieder etwas Unerwartetes. Mitten unter den Baumen, da, wo die langen Aste noch einen freien Platz gelassen hatten, stand ein groser Busch der wundervollsten, dunkelblauen Enzianen, so frisch und glanzend, als waren sie eben da herausgewachsen. Die Grosmama schlug die Hande zusammen vor Entzucken.
“Wie kostlich! Wie prachtig! Welch ein Anblick!” rief sie ein Mal ums andere aus. “Heidi, mein liebes Kind, komm hierher! Hast du mir das zur Freude bereitet? Es ist vollkommen wundervoll.”
Die Kinder waren schon da.
“Nein, nein, ich gewis nicht", sagte das Heidi, “aber ich weis schon, wer's gemacht hat.”
“So ist's droben auf der Weide, Grosmama, und noch viel schoner", fiel hier Klara ein. “Aber rat einmal, wer dir heut fruh schon die Blumen von der Weide heruntergeholt hat!” Und Klara lachelte so vergnuglich zu ihrer Rede, das der Grosmama einen Augenblick der Gedanke kam, das Kind sei am Ende heute selbst schon dort oben gewesen. Das war doch aber fast nicht moglich.
Jetzt horte man ein leises Gerausch hinter den Tannenbaumen; es kam vom Peter her, der unterdessen hier oben angelangt war. Da er aber gesehen hatte, wer beim Ohi vor der Hutte stand, hatte er einen grosen Bogen gemacht und wollte nun ganz heimlich hinter den Tannen hinaufschleichen. Aber die Grosmama hatte ihn erkannt, und plotzlich stieg ein neuer Gedanke in ihr auf. Sollte der Peter die Blumen heruntergebracht haben und nun aus lauter Scheu und Bescheidenheit so heimlich vorbeischleichen wollen? Nein, das durfte nicht sein, er sollte doch eine kleine Belohnung haben.
“Komm, mein Junge, komm hier heraus, frisch, ohne Scheu!” rief die Grosmama laut und steckte ein wenig den Kopf zwischen die Baume hinein.
Starr vor Schrecken stand der Peter still. Er hatte keine Widerstandskraft mehr nach allem Erlebten. Er fuhlte nur noch das eine: Jetzt ist's aus! Alle Haare standen ihm aufrecht auf dem Kopf, und farblos und entstellt von hochster Angst trat der Peter hinter den Tannen hervor.
“Nur frisch heran, ohne Umwege", ermunterte die Grosmama. “So, nun sag mir mal, Junge, hast du das gemacht?”
Der Peter hob seine Augen nicht auf und sah nicht, wohin der Zeigefinger der Grosmama wies. Er hatte gesehen, das der Ohi an der Ecke der Hutte stand und das dessen graue Augen durchdringend auf ihn gerichtet waren, und neben dem Ohi stand das Schrecklichste, das der Peter kannte, der Polizeidiener aus Frankfurt. An allen Gliedern zitternd und bebend, sties der Peter einen Laut hervor, es war ein “Ja”.
“Nanu", sagte die Grosmama, “was ist denn das Schreckliche dabei?”
“Das er... das er... das er auseinander ist und man ihn nicht mehr ganz machen kann", brachte muhsam der Peter heraus, und nun schlotterten seine Knie so, das er fast nicht mehr stehen konnte. Die Grosmama ging nach der Huttenecke hinuber.
“Mein lieber Ohi, rappelt es denn wirklich ernstlich bei dem armen Buben?” fragte sie teilnehmend.
“Gar nicht, gar nicht", versicherte der Ohi. “Der Bube ist nur der Wind, der den Rollstuhl fortgejagt hat, und nun erwartet er seine wohlverdiente Strafe.”
Das konnte nun die Grosmama gar nicht glauben, denn sie meinte, boshaft sehe der Peter doch ganz und gar nicht aus, und sonst hatte er doch keinen Grund gehabt, den so notwendigen Rollstuhl zu zerstoren.
Aber dem Ohi war das Gestandnis nur die Bestatigung eines Verdachtes gewesen, der gleich nach der Tat in ihm aufgestiegen war. Die grimmigen Blicke, die der Peter von Anfang an der Klara zugeworfen hatte, und andere Merkmale seiner Erbitterung gegen die neuen Erscheinungen auf der Alp waren dem Ohi nicht entgangen. Er hatte einen Gedanken an den andern gehangt, und so hatte er genau den ganzen Gang der Dinge erkannt und teilte ihn jetzt der Grosmama in aller Klarheit mit. Als er zu Ende war, brach die Dame in grose Lebhaftigkeit aus.
“Nein, mein lieber Ohi, nein, nein, den armen Buben wollen wir nicht weiter strafen. Man mus billig sein. Da kommen die fremden Leute aus Frankfurt hereingebrochen und nehmen ihm ganze Wochen lang das Heidi weg, sein einziges Gut und wirklich ein groses Gut, und da sitzt er allein Tag fur Tag und hat das Nachsehen. Nein, nein, da mus man billig sein; der Zorn hat ihn uberwaltigt und hat ihn zu der Rache getrieben, die ein wenig dumm war, aber im Zorn werden wir alle dumm.”
Damit ging die Grosmama zum Peter zuruck, der noch immerfort bebte und schlotterte.
Sie setzte sich auf die Bank unter die Tanne und sagte freundlich: “So, nun komm, mein Junge, da vor mich hin, ich habe dir etwas zu sagen. Hore auf zu zittern und zu beben und hor mir zu, das will ich haben. Du hast den Rollstuhl den Berg hinuntergejagt, damit er zerschmettere. Das war etwas Boses, das hast du recht wohl gewust, und das du eine Strafe verdientest, das wustest du auch, und damit du diese nicht erhaltest, hast du dich recht anstrengen mussen, das keiner es merke, was du getan hattest. Aber siehst du: Wer etwas Boses tut und denkt, es weis keiner, der verrechnet sich immer. Der liebe Gott sieht und hort ja doch alles, und sobald er bemerkt, das ein Mensch seine bose Tat verheimlichen will, so weckt er schnell in dem Menschen das Wachterchen auf, das er schon bei seiner Geburt in ihn hineingesetzt hat und das da drinnen schlafen darf, bis der Mensch ein Unrecht tut. Und das Wachterchen hat einen kleinen Stachel in der Hand, mit dem sticht es nun in einem fort den Menschen, das er gar keinen ruhigen Augenblick mehr hat. Und auch mit seiner Stimme beangstigt es den Gequalten noch, denn es ruft ihm immer qualend zu: >Jetzt kommt alles aus! jetzt holen sie dich zur Strafe!< So mus er immer in Angst und Schrecken leben und hat keine Freude mehr, gar keine. Hast du nicht auch so etwas erfahren, Peter, eben jetzt?”
Der Peter nickte ganz zerknirscht, aber wie ein Kenner, denn gerade so war es ihm ergangen.
“Und noch in einer Weise hast du dich verrechnet", fuhr die Grosmama fort. “Sieh, wie das Bose, das du tatest, zum Besten ausfiel fur die, der du es zufugen wolltest! Weil Klara keinen Sessel mehr hatte, auf dem man sie hinbringen konnte, und doch die schonen Blumen sehen wollte, so strengte sie sich ganz besonders an zu gehen, und so lernte sie's und geht nun immer besser, und bleibt sie hier, so kann sie am Ende jeden Tag hinauf zur Weide gehen, viel ofter, als sie in ihrem Stuhle hinaufgekommen ware. Siehst du wohl, Peter? So kann der liebe Gott, was einer bose machen wollte, nur schnell in seine Hand nehmen und fur den andern, der geschadigt werden sollte, etwas Gutes daraus machen, und der Bosewicht hat das Nachsehen und den Schaden davon. Hast du nun auch alles gut verstanden, Peter, ja? So denk daran, und jedesmal, wenn es dich wieder gelusten sollte, etwas Boses zu tun, denk an das Wachterchen da drinnen mit dem Stachel und der unangenehmen Stimme. Willst du das tun?”
“Ja, so will ich", antwortete der Peter, noch sehr gedruckt, denn noch wuste er ja nicht, wie alles enden wurde, da der Polizeidiener immer noch druben stand neben dem Ohi.
“So, nun ist's gut, die Sache ist abgetan", schlos die Grosmama. “Nun sollst du aber auch noch ein Andenken an die Frankfurter haben, das dich freut. So sag mir nun, mein Junge, hast du auch schon mal was gewunscht, das du haben mochtest? Was war's denn? Was mochtest du am liebsten haben?”
Jetzt hob der Peter seinen Kopf auf und starrte die Grosmama mit ganz kugelrunden, erstaunten Augen an. Noch immer hatte er etwas Schreckliches erwartet, und nun sollte er auf einmal bekommen, was er gern hatte. Dem Peter kam alles durcheinander in seinen Gedanken.
“Ja, ja, es ist mir Ernst", sagte die Grosmama. “Du sollst etwas haben, das dich freut, zur Erinnerung an die Leute von Frankfurt und zum Zeichen, das sie nicht mehr daran denken, das du etwas Unrechtes getan hast. Verstehst du's nun, Junge?”
In dem Peter fing die Einsicht aufzudammern an, das er keine Strafe mehr zu befurchten habe und das die gute Frau, die vor ihm sas, ihn aus der Gewalt des Polizeidieners errettet hatte. Jetzt empfand er eine Erleichterung, als fiele ein Berg von ihm ab, der ihn fast zusammengedruckt hatte. Aber nun hatte er auch begriffen, das es besser geht, wenn man gleich eingestellt, was gefehlt ist, und auf einmal sagte er:
“Und das Papier hab ich auch verloren.”
Die Grosmama muste sich ein wenig besinnen, aber der Zusammenhang kam ihr bald in den Sinn, und sie sagte freundlich: “So, so, es ist recht, das du's sagst! Immer gleich bekennen, was nicht recht ist; dann kommt's wieder in Ordnung. Und jetzt, was hattest du gern?”
Nun konnte der Peter auf der Welt wunschen, was er nur wollte. Es wurde ihm fast schwindelig. Der ganze Jahrmarkt von Maienfeld flimmerte vor seinen Augen mit all den schonen Sachen, die er oft stundenlang angestaunt und fur immer unerreichbar gehalten hatte, denn Peters Besitztum hatte nie einen Funfer uberstiegen, und alle die lockenden Gegenstande kosteten immer das Doppelte. Da waren die schonen roten Pfeifchen, die er so gut fur seine Geisen brauchen konnte. Da waren die lockenden Messer mit runden Heften, Krotenstecher genannt, mit denen man in allen Haselrutenhecken die besten Geschafte machen konnte.
Tiefsinnig stand der Peter da, denn er uberdachte, welches von den zweien das Wunschbarste ware, und er fand den Entscheid nicht. Aber jetzt kam ihm ein lichtvoller Gedanke; so konnte er sich noch bis zum nachsten Jahrmarkt besinnen.
“Einen Zehner", antwortete Peter jetzt entschlossen.
Die Grosmama lachte ein wenig.
“Das ist nicht ubertrieben. So komm her!” Sie zog jetzt ihren Beutel heraus und nahm einen grosen, runden Taler heraus; darauf legte sie noch zwei Zehnerstuckchen.
“So, wir wollen gerade Rechnung machen", fuhr sie fort; “das will ich dir erklaren. Hier hast du nun gerade so viele Zehner, als Wochen im Jahre sind! So kannst du jeden Sonntag einen Zehner hervornehmen und verbrauchen, das ganze Jahr durch.”
“Meiner Lebtag?” fragte der Peter ganz harmlos.
Jetzt muste die Grosmama so ungeheuer lachen, das die Herren druben ihr Gesprach unterbrechen musten, um zu horen, was da vorgehe.
Die Grosmama lachte immer noch.
“Das sollst du haben, Junge, das gibt einen Passus in mein Testament, horst du, mein Sohn? Und nachher geht er in das deinige uber, also: Dem Geisenpeter einen Zehner wochentlich, solange er am Leben ist.”
Herr Sesemann nickte zustimmend und lachte auch heruber.
Der Peter schaute noch einmal auf das Geschenk in seiner Hand, ob es auch wirklich wahr sei. Dann sagte er: “Danke Gott!” Und nun rannte er davon in ganz ungewohnlichen Sprungen, aber diesmal blieb er doch auf den Fusen, denn jetzt trieb ihn nicht der Schrecken davon, sondern eine Freude, wie der Peter noch gar keine gekannt hatte sein Leben lang. Alle Angst und Schrecken waren vergangen, und jede Woche hatte er einen Zehner zu erwarten sein Leben lang.
Als spater die Gesellschaft vor der Almhutte das frohliche Mittagsmahl beendet hatte und nun noch in allerlei Gesprachen zusammensas, da nahm Klara ihren Vater, der ganz strahlte vor Freude und jedesmal, wenn er sie wieder anschaute, noch ein wenig glucklicher aussah, bei der Hand und sagte mit einer Lebhaftigkeit, die man nie an der matten Klara gekannt hatte:
“O Papa, wenn du nur wustest, was der Grosvater alles fur mich getan hat! So viel alle Tage, das man es gar nicht nacherzahlen kann, aber ich vergesse es in meinem ganzen Leben nicht. Und immer denke ich, wenn ich nur dem lieben Grosvater auch etwas tun konnte oder etwas schenken, das ihm so recht Freude machen wurde, auch nur halb soviel, wie er mir Freude gemacht hat.”
“Das ist ja auch mein groster Wunsch, liebes Kind", sagte der Vater. “Ich sinne schon immer daruber nach, wie wir unserem Wohltater unseren Dank auch nur einigermasen dartun konnten.”
Herr Sesemann stand jetzt auf und ging zum Ohi hinuber, der neben der Grosmama sas und sich ausnehmend gut mit ihr unterhalten hatte. Er stand aber jetzt auch auf. Herr Sesemann ergriff seine Hand und sagte in der freundschaftlichsten Weise: “Mein lieber Freund, lassen Sie uns ein Wort zusammen sprechen! Sie werden es verstehen, wenn ich Ihnen sage, das ich seit langen Jahren keine rechte Freude mehr kannte. Was war mir all mein Geld und Gut, wenn ich mein armes Kind anblickte, das ich mit keinem Reichtum gesund und glucklich machen konnte? Nachst unserm Gott im Himmel haben Sie mir das Kind gesund gemacht und mir, wie ihm, damit ein neues Leben geschenkt. Nun sprechen Sie, womit kann ich Ihnen meine Dankbarkeit zeigen? Vergelten kann ich nie, was Sie uns getan haben, aber was ich vermag, das stelle ich zu Ihrer Verfugung. Sprechen Sie, mein Freund, was darf ich tun?”
Der Ohi hatte still zugehort und den glucklichen Vater mit vergnugtem Lacheln angeblickt.
“Herr Sesemann glaubt mir wohl, das ich meinen Teil an der grosen Freude uber die Genesung auf unserer Alm auch habe; meine Muhe ist mir wohl dadurch vergolten", sagte jetzt der Ohi in seiner festen Weise. “Fur die gutigen Anerbietungen danke ich Herrn Sesemann, ich habe nichts notig. Solange ich lebe, habe ich fur das Kind und fur mich genug. Aber einen Wunsch hatte ich; wenn mir der erfullt werden konnte, so hatte ich fur dieses Leben keine Sorge mehr.”
“Sprechen Sie, sprechen Sie, mein lieber Freund!” drangte Herr Sesemann.
“Ich bin alt", fuhr der Ohi fort, “und kann nicht mehr lange hierbleiben. Wenn ich gehe, kann ich dem Kinde nichts hinterlassen, und Verwandte hat es keine mehr; nur eine einzige Person, die wurde noch ihren Vorteil aus ihm ziehen wollen. Wenn mir der Herr Sesemann die Zusicherung geben wollte, das das Heidi nie in seinem Leben hinaus mus, um sein Brot unter den Fremden zu suchen, dann hatte er mir reichlich zuruckgegeben, was ich fur ihn und sein Kind tun konnte.”
“Aber, mein lieber Freund, davon kann ja niemals eine Rede sein", brach Herr Sesemann nun aus. “Das Kind gehort ja zu uns. Fragen Sie meine Mutter, meine Tochter; das Kind Heidi werden Sie ja in ihrem Leben nicht anderen Leuten uberlassen! Aber da, wenn es Ihnen eine Beruhigung ist, mein Freund, hier meine Hand darauf. Ich verspreche Ihnen: Nie in seinem Leben soll dieses Kind hinaus, um unter fremden Menschen sein Brot zu verdienen; dafur will ich sorgen, auch uber meine Lebenszeit hinaus. Nun aber will ich noch etwas sagen. Dieses Kind ist nicht fur ein Leben in der Fremde gemacht, wie auch die Verhaltnisse waren; das haben wir erfahren. Aber es hat sich Freunde gemacht. Einen solchen kenne ich, der ist noch in Frankfurt; da tut er seine letzten Geschafte ab, um dann nachher dahin zu gehen, wo es ihm gefallt, und sich da zur Ruhe zu setzen. Das ist mein Freund, der Doktor, der noch diesen Herbst hier ankommen wird und, Ihren Rat dazu in Anspruch nehmend, sich in dieser Gegend niederlassen will, denn in Ihrer und des Kindes Gesellschaft hat er sich so wohl befunden wie sonst nirgends mehr. So sehen Sie, das Kind Heidi wird fortan zwei Beschutzer in seiner Nahe haben. Mogen ihm beide miteinander noch recht lange erhalten bleiben!”
“Das gebe der liebe Gott!” fiel hier die Grosmama ein, und den Wunsch ihres Sohnes bestatigend, schuttelte sie dem Ohi eine gute Weile mit groser Herzlichkeit die Hand. Dann faste sie auf einmal das Heidi um den Hals, das neben ihr stand, und zog es zu sich heran.
“Und du, mein liebes Heidi, dich mus man doch auch noch fragen. Komm, sag mir mal: Hast du denn nicht auch einen Wunsch, den du gern erfullt hattest?”
“Ja freilich, das hab ich schon", antwortete das Heidi und blickte sehr erfreut zu der Grosmama auf.
“So, das ist recht, so komm heraus damit", ermunterte diese. “Was hattest du denn gern, Kind?”
“Ich hatte gern mein Bett aus Frankfurt mit den drei hohen Kissen und der dicken Decke, dann mus die Grosmutter nicht mehr mit dem Kopf bergab liegen und kann fast nicht atmen, und sie hat warm genug unter der Decke und mus nicht immer mit dem Schal ins Bett gehen, weil sie sonst furchtbar friert.”
Das Heidi hatte alles in einem Atemzuge gesagt vor Eifer, zu seinem gewunschten Ziel zu kommen.
“Ach mein liebes Heidi, was sagst du mir da!” rief die Grosmama erregt aus. “Das ist gut, das du mich erinnerst. In der Freude vergist man leicht, woran man zuallererst hatte denken sollen. Wenn uns der liebe Gott etwas Gutes schickt, musten wir doch gleich an diejenigen denken, die so viel entbehren! Jetzt wird auf der Stelle nach Frankfurt telegrafiert! Noch heute soll die Rottenmeier das Bett zusammenpacken, in zwei Tagen kann es dasein. Will's Gott, soll die Grosmutter gut schlafen darin!”
Das Heidi hupfte frohlockend rings um die Grosmama herum. Aber auf einmal stand es still und sagte eilig: “Nun mus ich gewis geschwind zur Grosmutter hinunter, es wird ihr auch wieder angst, wenn ich so lang nicht mehr komme.”
Denn nun konnte das Heidi es nicht mehr erwarten, der Grosmutter die Freudenbotschaft zu bringen, und es war ihm auch wieder in den Sinn gekommen, wie es der Grosmutter angst gewesen, als es zuletzt bei ihr war.
“Nein, nein, Heidi, was meinst du?” ermahnte der Grosvater. “Wenn man Besuch hat, lauft man nicht mit einemmal auf und davon.”
Aber die Grosmama unterstutzte das Heidi.
“Mein lieber Ohi, das Kind hat so unrecht nicht", sagte sie. “Die arme Grosmutter ist auch seit langem viel zu kurz gekommen um meinetwillen. Nun wollen wir gleich alle miteinander zu ihr gehen, und ich denke, dort warte ich mein Pferd ab, und wir setzen dann unseren Weg weiter fort, und unten im Dorfli wird sogleich das Telegramm nach Frankfurt aufgegeben. Mein Sohn, was meinst du dazu?”
Herr Sesemann hatte bis jetzt noch gar nicht Zeit gehabt, uber seine Reiseplane zu sprechen. Er muste also seine Mutter bitten, nicht sogleich ihr Unternehmen auszufuhren, sondern noch einen Augenblick sitzen zu bleiben, bis er seine Absicht ausgesprochen habe.
Herr Sesemann hatte sich vorgenommen, mit seiner Mutter eine kleine Reise durch die Schweiz zu machen und erst zu sehen, ob sein Klarchen imstande sei, eine kurze Strecke mitzureisen. Nun war es so gekommen, das er die genusreichste Reise in Gesellschaft seiner Tochter vor sich sah, und nun wollte er auch gleich diese schonen Spatsommertage dazu benutzen. Er hatte im Sinne, die Nacht im Dorfli zuzubringen und am folgenden Morgen Klara auf der Alm abzuholen, um mit ihr zur Grosmama nach dem Bade Ragaz hinunter und von da weiterzureisen.
Klara war ein wenig betroffen uber die Anzeige der plotzlichen Abreise von der Alp, aber es war ja so viel Freude daneben, und uberdies war da gar keine Zeit, sich dem Bedauern hinzugeben.
Schon war die Grosmama aufgestanden und hatte Heidis Hand erfast, um den Zug anzufuhren. Jetzt kehrte sie sich plotzlich um.
“Aber was in aller Welt macht man nun mit Klarchen?” rief sie erschrocken aus, denn es war ihr in den Sinn gekommen, das der Gang doch fur sie viel zu weit sein wurde.
Aber schon hatte in gewohnter Weise der Ohi sein Pflegetochterchen auf den Arm genommen und folgte mit festem Schritte der Grosmama nach, die jetzt mit vielem Wohlgefallen zurucknickte. Zuletzt kam Herr Sesemann, und so ging der Zug weiter den Berg hinunter.
Das Heidi muste immerfort aufhupfen vor Freude an der Seite der Grosmama, und diese wollte nun alles wissen von der Grosmutter, wie sie lebe und wie alles bei ihr zugehe, besonders im Winter bei der grosen Kalte da droben.
Das Heidi berichtete uber alles ganz genau, denn es wuste schon, wie da alles zuging und wie dann die Grosmutter zusammengeduckt in ihrem Winkelchen sas und zitterte vor Kalte. Es wuste auch gut, was sie dann zu essen hatte, und auch, was sie nicht hatte.
Bis zur Hutte hinunter horte die Grosmama mit der lebhaftesten Teilnahme Heidis Berichten zu.
Die Brigitte war eben daran, Peters zweites Hemd an die Sonne zu hangen, damit, wenn das eine wieder genug getragen war, das andere angezogen werden konnte. Sie erblickte die Gesellschaft und sturzte in die Stube hinein.
“Jetzt grad geht alles fort, Mutter", berichtete sie. “Es ist ein ganzer Zug; der Ohi begleitet sie, er tragt das Kranke.”
“Ach, mus es denn wirklich sein?” seufzte die Grosmutter. “So nehmen sie das Heidi mit, das hast du gesehen? Ach, wenn es mir nur auch noch die Hand geben durfte! Wenn ich es nur auch noch einmal horte!”
Jetzt wurde sturmisch die Tur aufgemacht, und das Heidi war in wenigen Sprungen in der Ecke bei der Grosmutter und umklammerte sie.
“Grosmutter! Grosmutter! Mein Bett kommt aus Frankfurt und alle drei Kissen und auch die dicke Decke; in zwei Tagen ist es da, das hat die Grosmama gesagt.”
Das Heidi hatte gar nicht schnell genug seinen Bericht herausbringen konnen, denn es konnte die ungeheure Freude der Grosmutter fast nicht abwarten. Sie lachelte, aber ein wenig traurig sagte sie:
“Ach, was mus das fur eine gute Frau sein! Ich sollte mich nur freuen, das sie dich mitnimmt, Heidi, aber ich kann es nicht lang uberleben.”
“Was? Was? Wer sagt denn der guten alten Grosmutter so etwas?” fragte hier eine freundliche Stimme, und die Hand der Alten wurde dabei erfast und herzlich gedruckt, denn die Grosmama war hinzugetreten und hatte alles gehort. “Nein, nein, davon ist keine Rede! Das Heidi bleibt bei der Grosmutter und macht ihre Freude aus. Wir wollen das Kind auch wiedersehen, aber wir kommen zu ihm. Jedes Jahr werden wir nach der Alm hinaufkommen, denn wir haben Ursache, an dieser Stelle dem lieben Gott alljahrlich unseren besonderen Dank zu sagen, wo er ein solches Wunder an unserem Kinde getan hat.”
Jetzt kam der echte Freudenschein auf das Gesicht der Grosmutter, und mit wortlosem Dank druckte sie fort und fort die Hand der guten Frau Sesemann, wahrend ihr vor lauter Freude ein paar grose Tranen die alten Wangen herabglitten. Das Heidi hatte den Freudenschein auf dem Gesichte der Grosmutter gleich gesehen und war jetzt ganz begluckt.
“Gelt, Grosmutter", sagte es, sich an sie schmiegend, “jetzt ist es so gekommen, wie ich dir zuletzt gelesen habe? Gelt, das Bett aus Frankfurt ist gewis heilsam?”
“Ach ja, Heidi, und noch so vieles, so viel Gutes, das der liebe Gott an mir tut!” sagte die Grosmutter mit tiefer Ruhrung. “Wie ist es nur moglich, das es so gute Menschen gibt, die sich um eine arme Alte bekummern und so viel an ihr tun! Es ist nichts, das einem den Glauben so starken kann an einen guten Vater im Himmel, der auch sein Geringstes nicht vergessen will, wie so etwas zu erfahren, das es solche Menschen gibt voll Gute und Barmherzigkeit fur ein armes, unnutzes Weiblein, wie ich eins bin.”
“Meine gute Grosmutter", fiel hier Frau Sesemann ein, “vor unserem Herrn im Himmel sind wir alle gleich armselig, und alle haben wir es gleich notig, das er uns nicht vergesse. Und nun nehmen wir Abschied, aber auf Wiedersehen, denn sobald wir nachstes Jahr wieder nach der Alm kommen, suchen wir auch die Grosmutter wieder auf; die wird nie mehr vergessen!” Damit erfaste Frau Sesemann noch einmal die Hand der Alten und schuttelte sie.
Aber sie kam nicht so schnell fort, wie sie meinte, denn die Grosmutter konnte nicht aufhoren zu danken, und alles Gute, das der liebe Gott in seiner Hand habe, wunschte sie auf ihre Wohltaterin und deren ganzes Haus herab.
Jetzt zog Herr Sesemann mit seiner Mutter talabwarts, wahrend der Ohi Klara noch einmal mit nach Hause trug und das Heidi, ohne aufzusetzen, hochauf hupfte neben ihnen her, denn es war so froh uber die Aussicht der Grosmutter, das es mit jedem Schritt einen Sprung machen muste.
Am Morgen darauf aber gab es heise Tranen bei der scheidenden Klara, nun sie fort muste von der schonen Alm, wo es ihr so wohl gewesen war wie noch nie in ihrem Leben. Aber das Heidi trostete sie und sagte:
“Es ist im Augenblick wieder Sommer, und dann kommst du wieder, und dann ist's noch viel schoner. Dann kannst du von Anfang an gehen, und wir konnen alle Tage mit den Geisen auf die Weide gehen und zu den Blumen hinauf, und alles Lustige geht von vorn an.”
Herr Sesemann war nach Abrede gekommen, sein Tochterchen abzuholen. Er stand jetzt druben beim Grosvater, die Manner hatten noch allerlei zu besprechen. Klara wischte nun ihre Tranen weg, Heidis Worte hatten sie ein wenig getrostet.
“Ich lasse auch den Peter noch grusen", sagte sie wieder, “und alle Geisen, besonders das Schwanli. Oh, wenn ich nur dem Schwanli ein Geschenk machen konnte; es hat so viel dazu geholfen, das ich gesund geworden bin.”
“Das kannst du schon ganz gut", versicherte das Heidi. “Schick ihm nur ein wenig Salz, du weist schon, wie gern es am Abend das Salz aus des Grosvaters Hand schleckt.”
Der Rat gefiel Klara wohl.
“Oh, dann will ich ihm gewis hundert Pfund Salz aus Frankfurt schicken", rief sie erfreut aus, “es mus auch ein Andenken an mich haben.”
Jetzt winkte Herr Sesemann den Kindern, denn er wollte abreisen. Diesmal war das weise Pferd der Grosmama fur Klara gekommen, und jetzt konnte sie herunterreiten, sie brauchte keinen Tragsessel mehr.
Das Heidi stellte sich auf den ausersten Rand des Abhanges hinaus und winkte mit seiner Hand der Klara zu, bis das letzte Restchen von Ros und Reiterin geschwunden war.
Das Bett ist angekommen, und die Grosmutter schlaft jetzt so gut jede Nacht, das sie gewis dadurch zu ganz neuen Kraften kommt. Den harten Winter auf der Alp hat die gute Grosmama auch nicht vergessen. Sie hat einen grosen Warenballen nach der Geisenpeter-Hutte gesandt. Darin war so viel warmes Zeug verpackt, das die Grosmutter sich um und um damit einhullen kann und gewis nie mehr zitternd vor Kalte in ihrer Ecke sitzen mus.
Im Dorfli ist ein groser Bau im Gange. Der Herr Doktor ist angekommen und hat vorderhand sein altes Quartier bezogen. Auf den Rat seines Freundes hin hat der Herr Doktor das alte Gebaude angekauft, das der Ohi im Winter mit dem Heidi bewohnt hatte und das ja schon einmal ein groser Herrensitz gewesen war, was man immer noch an der hohen Stube mit dem schonen Ofen und dem kunstreichen Getafel sehen konnte. Diesen Teil des Hauses last der Herr Doktor als seine eigene Wohnung aufbauen. Die andere Seite wird als Winterquartier fur den Ohi und das Heidi hergestellt, denn der Herr Doktor kennt den Alten als einen unabhangigen Mann, der seine eigene Behausung haben mus. Zuhinterst wird ein festgemauerter, warmer Geisenstall eingerichtet, da werden Schwanli und Barli in sehr behaglicher Weise ihre Wintertage zubringen.
Der Herr Doktor und der Almohi werden taglich bessere Freunde, und wenn sie zusammen auf dem Gemauer herumsteigen, um den Fortgang des Baues zu besichtigen, kommen ihre Gedanken meistens auf das Heidi, denn beiden ist die Hauptfreude an dem Hause, das sie mit ihrem frohlichen Kinde hier einziehen werden.
“Mein lieber Freund", sagte kurzlich der Herr Doktor, mit dem Ohi oben auf der Mauer stehend, “Sie mussen die Sache ansehen wie ich. Ich teile alle Freude an dem Kinde mit Ihnen, als ware ich der nachste nach Ihnen, zu dem das Kind gehort; ich will aber auch alle Verpflichtungen teilen und nach bester Einsicht fur das Kind sorgen. So habe ich auch meine Rechte an unserem Heidi und kann hoffen, das es mich in meinen alten Tagen pflegt und um mich bleibt, was mein groster Wunsch ist. Das Heidi soll in alle Kindesrechte bei mir eintreten; so konnen wir es ohne Sorge zurucklassen, wenn wir einmal von ihm gehen mussen, Sie und ich.”
Der Ohi druckte dem Herrn Doktor lange die Hand. Er sagte kein Wort, aber sein guter Freund konnte in den Augen des Alten die Ruhrung und hohe Freude lesen, die seine Worte erweckt hatten.
Derweilen sasen das Heidi und der Peter bei der Grosmutter, und das erstere hatte so viel zu tun mit Erzahlen und der letztere mit Zuhoren, das sie alle beide kaum zu Atem kommen konnten und vor Eifer immer naher auf die gluckliche Grosmutter eindrangen.
Wieviel war ihr auch zu berichten von alle dem, das den ganzen Sommer durch sich ereignet hatte, denn man war ja so wenig zusammengekommen wahrend dieser Zeit.
Und von den dreien sah immer eins glucklicher aus als das andere uber das neue Zusammensein und uber alle die wunderbaren Ereignisse. Jetzt aber war das Gesicht der Mutter Brigitte noch fast am glucklichsten anzusehen, da mit Heidis Hilfe nun zum erstenmal klar und verstandlich die Geschichte des unaufhorlichen Zehners herauskam. Zuletzt aber sagte die Grosmutter:
“Heidi, lies mir ein Lob-und Danklied! Es ist mir, als konne ich nur noch loben und preisen und unserem Gott im Himmel Dank sagen fur alles, was er an uns getan hat.”